„Die ‚Kritik der politischen Ökonomie‘ wurde mehr und mehr zu einer Orthodoxie, unter deren Hülle die Linke einen marxistischen Diskurs pflegen, die Rechte aber gleichzeitig ihre reformistische und vielfach auch sozialimperialistische Politik betreiben konnte. Der Erste Weltkrieg hat diese Hülle zerrissen“ (S. 8). Mit dieser klaren Abgrenzung der Lager weist Ingo Schmidt, der Herausgeber des gerade bei VSA erschienen Sammelbands mit dem etwas sperrigen Titel „Das Kapital @ 150 – Russische Revolution @ 100 – ‚Das Kapital‘ und die Revolution gegen ‚Das Kapital‘“, in seinem Vorwort klar und deutlich zu, welche Arten von Strömungen die Burgfriedenspolitik mit ihrem Kriegssozialismus hervorgebracht hat, wodurch auch die Kapital-Rezeption beeinflusst wurde.
„Dieser Band will einen Beitrag dazu liefern, […] frühere ‚Kapital‘-Interpretationen [zu] historisieren, […] von den Zeiten der Zweiten Internationale bis zu den verschiedenen neuen ‚Kapital‘-Lektüren, die im Zuge des Aufschwungs linker Bewegungen in den 1960er Jahren entstanden sind“ (S. 12). Und eben diesem Ziel widmet sich der Herausgeber auch in seinem eigenen Aufsatz „‚Das Kapital‘ im historischen Kontext lesen – ‚Kapital‘-Rezeption und sozialistische Strategie seit 1867“ (S. 17-58). Ferner liefern zehn weitere Einzelbeiträge einen multilateralen Zugang zu dieser Adaptions-Thematik, beispielsweise zu klassischen KPD-Perspektiven, aber auch zur internationalen Wahrnehmung, so unter anderem durch Lenin, der das Kapital offenbar nicht so gründlich gelesen habe, wie zum Beispiel Rosa Luxemburg (S. 12f.).
Auf Erstgenannten bezieht sich Lutz Brangsch in seinem ersten von zwei Beiträgen. Er konstatiert, dass Lenins Interpretationen des Kapital von derjenigen der Zweiten Internationale gelegentlich abweichen. Die geistesgeschichtliche Komponente im Werk des promovierten Philosophen habe sich Lenin nicht erschlossen. In „Kapitalismus im Zeitalter der Hoffnungen und Katastrophen – Lenin“ (S. 79-101) bezeichnet der Autor Lenins Kapital-Rezeption als einen „unvollendeten Suchprozess“ (S. 96), den er vornehmlich dann beendete, wenn der Informationsgehalt für ihn zufriedenstellend ausgeschlachtet wurde.
So kritisiert Brangsch, dass „die bei Lenin angelegte Reduktion auf das ‚Skelett‘, auf das ‚Wesen‘ der kapitalistischen Gesellschaften […] das Tor zur Unterschätzung der unterschiedlichen Kampfbedingungen der ArbeiterInnenbewegung“ (S. 99) geöffnet hätte, wodurch beispielsweise für Stalin die Argumentationsgrundlage für dessen angewandten Terror geschaffen worden sei. Besonders der konstruierte Antagonismus zwischen Bauern/Bäuerinnen und ArbeiterInnen habe die Kapitalismuskritik in eine völlig falsche Richtung gelenkt.
Dieser Missstand wäre besonders der stets kritischen Rosa Luxemburg aufgefallen, hätte sie etwas länger gelebt. Auch ihrer Perspektive wird in dem Band ein Beitrag gewidmet, konkret von Frigga Haug in „Rosa Luxemburgs Marxismus“ (S. 102-128). Allgemein bekannt ist Luxemburgs Epochenwerk „Die Akkumulation des Kapitals“, auf Grundlage derer sie beispielsweise in der Berliner Parteischule den Nachwuchs unterrichtete. Luxemburg hinterfrage den historischen Wertekanon, den Marx‘ Werk nur teilweise zu vermitteln versuchte, und stellt dem einen notwendigen Anwendungsbezug gegenüber, damit die Kritik am Kapitalismus, ebenso wie die Selbstkritik, immer neu an praxisnahen Theorien angeknüpft werden könne. Nur so ließe sich auch eine Brücke zur Gegenwart schlagen, in der der so oft totgesagte Kapitalismus immer noch, nur eben völlig ausufernd, um sich greift.
„Es muss darum gehen, im Bestehenden Politik zu machen“ (S. 118), kritisiert Haug an Luxemburg
Dabei kritisiert Frigga Haug, dass Luxemburgs Politik-Begriff sich an den Realitäten des Parlamentarismus und der staatstragenden Demokratie abarbeite. „Es muss darum gehen, im Bestehenden Politik zu machen“ (S. 118), kritisiert Haug an Luxemburg, „die Dialektik von Luxemburgs Denken erweist sich in der Bündelung verschiedener Elemente, die zusammengenommen eine Aussage über historische Prozesse erlauben, über die Entwicklung von Kapitalismus und Revolution nicht nach Plan, nicht nach zuvor entworfenen Strategien, nicht nach Gesetzten, sondern im Stolpergang von Zufälligkeiten“ (S. 120). Einmal mehr verhinderte ihr früher, unnatürlicher Tod eine denkbare Revision dieser zugeschriebenen Sichtweise als Folge real gemachter Erfahrungen.
Die Symbiose der Adaption des Kapitals bei Lenin und Luxemburg wird in Lutz Brangschs zweitem Beitrag untersucht: „Marx, Luxemburg, Lenin und die Reproduktion – ‚Kapital‘-Rezeption an den Schnittstellen von Wissenschaft und Politik“ (S. 129-152). Hier werden konkret die Grenzen der Wechselwirkung zwischen politischer Praxis und wissenschaftlicher Theorie aufgezeigt. Und die recht einseitige Kritik Lenins an Luxemburgs Auffassung nach deren Tod bildete Grundlagen für Handlungsweisen der Komintern und der KPdSU in ihrer Gesamtheit, die eine Suche nach Antworten, stete Kritik und vor allem auch Selbstkritik im System nicht mehr zuließen, bis hin zur geschaffenen Kritikunfähigkeit der Komintern.
Doch auch die Sichtweise der prärevolutionären Orthodoxie wird ausreichend beleuchtet. So widmet sich Reinhart Kößler mit „Karl Kautsky zwischen Marx-Orthodoxie und Oktoberrevolution“ (S. 59-78) dem Zeitabschnitt, bevor Marx‘ Kapital als historischer Text in der Mehrheit der Sozialdemokratie an Bedeutung verlor und damit schwerwiegende Entscheidungen innerhalb der kaiserreichszeitlichen SPD zementiert wurden; Kapitalismuskritik hieße nämlich immer auch Kriegskritik, doch 1914 waren Marx‘ Lehren schon weitgehend unbekannt gewesen im rechten Flügel.
Erst die Oktoberrevolution schuf eine weitere Verschiebung dieser Wahrnehmung und verschlimmbesserte dadurch den Status quo: „Insofern kann auch hier ideengeschichtlich die bolschewistische Wendung als abstrakte Negation des kautskyanischen Gradualismus verstanden werden.“ Gemeint ist damit, dass Kautsky die Oktoberrevolution in ihrer Schnelligkeit und Diktion von oben herab kritisierte, da sie sich langsam und von selbst hätte entwickeln müssen. Dieser Umstand führte jedoch nicht zum Zwiespalt, sondern machte im weiteren historischen Verlauf aus den Bolschewiki – „mehr als beiden Seiten lieb sein mochte“ – Kautskys gelehrige SchülerInnen (S. 76).
In seinem zweiten Aufsatz „Marxismus und ‚Dritte Welt‘ – Marxismus in der ‚Dritten Welt‘“ (S. 177-198) verschärft Reinhart Kößler noch einmal die Sichtweise auf die Wahrnehmung des Kapital, konkret in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt“, für die die Politik der Komintern, wenn dort beispielsweise nach der Auflösung nationaler Grenzen verlangt wurde, im Kontext der kolonialen Frage zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden sei. Marx՚ Theorie hingegen bot den Menschen in direkter Not hingegen eher eine längerfristige Perspektive, erlangte deshalb anfänglich eine zweitrangige Bedeutung.
Kößler rekonstruiert in seinem Aufsatz die Lebenswirklichkeiten in den Ländern der gewählten Region und verdeutlicht seine Erkenntnis durch ein Beispiel für koloniale Marx-Adaption, namentlich durch Amilcar Cabral im Falle von Guinea-Bissau. „Bei der Propagierung des Marxismus [in Afrika], häufig im Gewand des Marxismus-Leninismus, spielten dabei theoretische Positionen oder auch konkrete Lehrsätze nicht immer die entscheidende Rolle“ (S. 194).
Der sogenannte Staatsmonopolistische Kapitalismus ist heute weitgehend vergessen
Dass eine scheinbar untrennbare Verbindung zwischen Politik und Ökonomie im Zeitalter des Lobbyismus als gegeben akzeptiert wird, ist nicht überraschend; auch kein historisches Novum. Doch der sogenannte Staatsmonopolistische Kapitalismus (SMK) sei heute weitgehend vergessen, konstatiert Jörg Goldberg in seinem Aufsatz „Formwandel der kapitalistischen Produktionsweise und die Theorie des Staatsmonopolistischen Kapitalismus“ (S. 153-176). Grundlegend sei, gerade in Abgrenzung zur oben genannten Kolonialpolitik, die westlich orientierte Perspektive Marx՚in seinen eigenen Theorien.
Doch nach dem Untergang der Sowjetunion etablierte sich auch im vormals kommunistischen Osten Europas ein vergleichbarer SMK, der gegenwärtig auch auf die Länder im Süden übergreife. Deshalb fasst der Autor gerade im Hinblick auf die Kapital-Rezeption zusammen: „Die marxsche Analyse [darf] nicht als abgeschlossenes Gebäude behandelt werden, [da] das ‚Kapital‘ stets im Lichte der aktuellen Prozesse zu lesen ist“ (S. 173).
Der Gegenwartsbezug wird auch von Alexander Buzgalin und Andrej Kolganov hergestellt, die in ihrem Aufsatz „‚Das Kapital‘ und das moderne System der kapitalistischen Produktionsverhältnisse: vom Abstrakten zum Konkreten“ (S. 199-227, übersetzt von Lutz Brangsch) die Sphäre des 20. Jahrhunderts verlassen, wenngleich sie von der Theorie eines ebenda entstandenen „Spätkapitalismus“ ausgehen, auf dessen Auswirkungen die Notwendigkeit zur Adaption fuße. Dabei stellt sich der Beitrag der Aufgabe, „das Spektrum der Probleme zu umreißen und zu betonen, dass die moderne klassische politische Ökonomie aufgefordert ist, eine systematische Wiederspiegelung der Veränderungen im Inhalt der Kategorien des ‚Kapital‘ zu geben“ (S. 224).
Die letzten drei Aufsätze handeln vom Klassenkampf und der Rezeptionsgeschichte der Marx’schen Akkumulationstheorie. Thomas Goes geht es primär um die Erkenntnis, dass die Klasse der Arbeitenden nicht stets den gleichen Formen von Unterdrückung ausgesetzt war. Er zeichnet eine Spirale von sich zuspitzenden Ereignissen, beginnend mit der Unterdrückung der ArbeiterInnen, dem Widerstand der Ausgebeuteten, neuen Formen der Unterdrückung und daraus entstehenden neuen Formen des Widerstands.
Marx sei als geistig Arbeitender nicht mit den Produktionsverhältnissen vertraut gewesen
Christian Frings untersucht in seinem Beitrag die provokative Frage nach der Expertise von Nicht-ArbeiterInnen im akademisierten Klassenkampf. Schon Marx sei als geistig Arbeitender nicht mit den Produktionsverhältnissen vertraut gewesen, dasselbe gelte in der Adaptionsgeschichte beispielsweise für die italienischen Operaisten, die „Das Kapital“ lediglich als Handlungsempfehlung für den aktiven Klassenkampf verstanden, sich selbst jedoch in modischem Intellektualismus verloren hätten.
Michael Brie eröffnet schließlich im letzten Beitrag des Sammelbandes eine höchst interessante Perspektive, die sich disziplinübergreifend auch auf andere Epochenanalysen übertragen ließe. So seien die ArbeiterInnen nicht ausschließlich Opfer des Kapitals. „Luxemburgs Entdeckung, dass Kapitalverwertung nie in Reinform, nicht für sich existieren kann, dass sie angewiesen ist auf eine Pluralität gesellschaftlicher Reproduktionsweisen, in diese eingebettet ist und sie zugleich dominiert, ist zentral für das Verständnis der heutigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften“ (S. 312).
Abgesehen von einem wünschenswerten Personen- und Ortsregister ist das Buch eine wahre Bereicherung für die Kapital-, aber gerade auch für die Revolutionsforschung.