„Es geht darum, die Grenzen wirtschaft­lichen Wachstums zu respektieren.“

Grundsätze des Kommunismus – Ein Nachwort von Iring Fetscher, Philipp Reclam Jun., 1999

Nachwort

Selten hat ein welthistorisches Dokument zugleich so geringe unmittelbare Wirkung und so großen postumen Erfolg gezeitigt wie das Kommunistische Manifest. Geschrieben am Vorabend der »bürgerlichen Revolution in Deutschland« unter anderem in der Erwartung, diese werde als ein permanenter Prozeß zur proletarisch-sozialistischen Revolution hinüberführen, kam es zu spät, um auf die Ereignisse einwirken zu können, und ging zugleich über den Horizont des politischen Bewußtseins der meisten Zeitgenossen hinaus. Man braucht nur einmal andere, gleichzeitige Dokumente der bürgerlichen Revolution oder des »utopischen Sozialismus« in Frankreich und Deutschland mit der Schrift von Karl Marx zu vergleichen, um den Abstand zu spüren, der das Manifest von ihnen trennt. Wo andere moralische Appelle und (meist bescheidene) politische Forderungen formulieren, faßt Marx in kühnen, einprägsamen Sätzen das Ergebnis der modernen Geschichte zusammen und markiert den Weg in eine mögliche Zukunft, die ihm fast als Gewißheit erscheint.

Der literarische Rang eines sprachlichen Kunstwerks kann rückblickend am Grad seiner »Veraltetheit«, seiner zeitbedingten Besonderheit abgelesen werden. Das Manifest ist auch stilistisch seiner Zeit voraus. Sein Pathos ist zugleich nüchtern, seine Monumentalität präzise, sein Schwung wirkt nicht aufgesetzt und künstlich, sondern entspricht der Sache, die es vorträgt. Es ist das welthistorische Schicksal, das zugleich mit dem Willen, Schicksal als Fatum zu überwinden und die Menschheit in den Sattel zu setzen, aus diesem Dokument spricht. Und dieser Wille, diese Intention, kann nicht so leicht veralten, auch wenn manche Prognosen und die aktuellen taktischen Ratschläge, die im Manifest gegeben werden, in der seit dem Erscheinen vergangenen Zeit notwendig obsolet werden mußten.

Friedrich Engels hatte noch kurz zuvor in Katechismusform die »Grundsätze des Kommunismus« zusammengefaßt und war damit im Rahmen einer Tradition geblieben, die sich in Frankreich herausgebildet hatte. Es galt auf die einfachen Fragen des Proletariats ebenso einfache und präzise Antworten zu geben. Wie die Fragen 9, 22, 23 zeigen, hatte Engels seinerseits eine fremde Vorlage umgearbeitet. Als Marx mit diesem Katechismus und älteren Vorarbeiten in Händen über eine geeignete Gestalt des Manifests zu reflektieren begann, erkannte er bald, daß für ihn nur die Form eines gerafften historischen Berichts in Frage kommen konnte. Marx begriff seine theoretische Aufgabe als die eines »Geburtshelfers der Revolution«. Durch Einsicht in den Zusammenhang der Geschichte sollte diese selbst in ihrem Gang beschleunigt werden. Das Kind, mit dem die kapitalistische Gesellschaft schwanger ging, galt es möglichst schmerzlos und rasch zur Welt zu bringen. Das zur Welt drängende Kind war die kommunistische Gesellschaft, der Kommunismus (die kommunistische Bewegung) gleichsam der Vater und die kapitalistische Gesellschaft die Mutter, die unter den Wehen der herannahenden Revolution litt. Das Bild ist freilich mit einem Körnchen Salzes zu nehmen, aber es gibt doch etwas von der siegesgewissen Zuversicht wieder, die Marx 1847/48 beflügelte und die er — nach der Niederlage der französischen Proletarier im Juni 1848 — nicht so bald wieder erlangen sollte.

Im einleitenden Abschnitt wird die Bewegung vorgestellt, der das Manifest dienen möchte: der Kommunismus. Von Rußland bis Frankreich von den konservativen Mächten als »Gespenst« gesichtet und selbst bereits eine Macht, gelte es, diesem Kommunismus endlich das Selbstbewußtsein seiner Ziele und Aufgaben und der Welt Kunde von dessen Plänen zu geben, um auf diese Weise das Ammenmärchen vom Gespenst des Kommunismus zu widerlegen.

Entsprechend dieser Zielsetzung finden wir bei Marx unter anderem Argumente zur Verteidigung des Kommunismus gegen zeitgenössische Verleumdungen. Gegen den Vorwurf, die Kommunisten wollten das Eigentum beseitigen, lautet die Rechtfertigung: in Wahrheit hat der Kapitalismus schon für neun Zehntel der Bevölkerung das Eigentum beseitigt, der Kommunismus aber wird das Eigentum an den Produktionsmitteln der Gesamtheit zurückgeben. Gegen den Vorwurf, die Kommunisten wollten die Familie auflösen, lautet die Rechtfertigung: in Wahrheit hat der Kapitalismus die Familie bereits aufgelöst. Für die Bourgeoisie besteht sie nur zusammen mit der Prostitution, und für die Proletarier wird sie durch materielle Not unmöglich gemacht. Gegen den Vorwurf, die Kommunisten wollten das Vaterland beseitigen, lautet die Rechtfertigung: der kapitalistische Weltmarkt hat längst die nationalen Schranken der Produktion und des Konsums aufgehoben, und die Interessen der Proletarier aller Länder sind bereits heute die gleichen. Es gilt also nur zu vollenden und bewußt zu wollen, was die industrielle Revolution, die der Kapitalismus ausgelöst hat, einleitete: Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, vollendet und zugleich überwunden durch deren wahre Vergesellschaftung, Ersatz der zur Lüge gewordenen bürgerlichen Familie durch eine andere Institution (obgleich hier Marx nicht sehr präzise ist, während Engels vor allem die Erleichterung der Ehescheidung und die Trennung der menschlichen Liebesbeziehungen von ökonomischen Rücksichten als Errungenschaft der Zukunft feierte), Überwindung der nationalen Borniertheit durch eine Weltgemeinschaft assoziierter Produzenten, die, statt von blinden naturähnlichen Wirtschaftsgesetzen beherrscht zu werden, gemeinsam die Natur menschlichen Zielen dienstbar machen. So werden die gängigen Vorwürfe gegen den Kommunismus nicht einfach zurückgewiesen, sondern jeweils ins Positive gewandt und als Heuchelei im Munde derer entlarvt, die so vielen schon (freilich ohne es bewußt gewollt zu haben) Eigentum, Familie und Vaterland genommen haben.

Aber das Kommunistische Manifest ist keine Apologie des Kommunismus, sondern ein Appell zu seiner Verwirklichung, der an ein faszinierend vereinfachtes Bild der bisherigen Geschichte anknüpft.

Wer immer heute das Manifest mit frischen Augen liest, wird zunächst davon überrascht sein, wie positiv Karl Marx die Bourgeoisie und den Industriekapitalismus bewertet. Da ist kaum noch ein Rest von romantischer Sehnsucht nach rückwärts zu finden, da werden keine Tränen über die Zerstörung »heiliger«, »persönlicher« Verhältnisse vergossen. Mit einer Mischung von Bewunderung und Schauer wird das Fazit einer Epoche gezogen: die Bourgeoisie hat die Klassengegensätze vereinfacht und ist dabei, die Gesellschaft in Kapitalbesitzer und eine große Masse besitzloser Lohnarbeiter zu polarisieren. Die Bourgeoisie hat die direkten, scheinbar von Ökonomie freien Herrschaftsverhältnisse der Feudalzeit in rein wirtschaftliche Abhängigkeiten verwandelt. Sie hat den »gehobenen Berufen« ihre höhere Weihe und (angemaßte) Würde genommen und aus Priestern, Ärzten und Juristen bezahlte Diener der ökonomisch herrschenden Klasse gemacht. Das »nackte Selbstinteresse« und die »kalte Barzahlung« sind an die Stelle gemüthafter Bindung der Untertanen an ihre angestammte Obrigkeit getreten. Der Industriekapitalismus hat die Menschen gezwungen, »ihre Verhältnisse mit nüchternen Augen anzusehen«. All das — so unmenschlich es auf der einen Seite erscheinen mag — ist doch ein großer Fortschritt gegenüber den komplizierten feudalen Abhängigkeitsverhältnissen mit ihren mannigfaltigen Privilegien und ideologischen Verbrämungen, hinter denen sich das ökonomische Interesse für die Beteiligten selbst so gut wie vollständig verbarg. Die Vereinfachung des Klassenantagonismus, die Verschärfung des rein ökonomischen Zwangs, der Fortfall aller humanen Rücksichten, das alles scheint Marx von Nutzen, weil es die Lohnarbeiter dazu zwingt, »ihre Verhältnisse mit nüchternen Augen anzusehen«. Die Wirklichkeit des Frühkapitalismus erschien ihm als eine Welt ohne Heuchelei oder doch mit weniger heuchlerischen Fassaden als die der Feudalgesellschaft. Erst als das Mißverhältnis zwischen den Interessen der Besitzenden und dem Interesse der besitzlosen Mehrheit zu kraß wurde, begannen bürgerliche Ideologen auf verschleiernde Beschönigungen zu sinnen. Der Abstand, der die »Vulgärökonomen« der Jahrhundertmitte von den Klassikern (Smith, Ricardo, Petty usw.) trennt, drückt nach Marx diesen Verfall des Mutes zur Wahrheit aus.

Schwerer noch als dieses — oft übersehene — Erkenntnis erleichternde Verdienst der ökonomischen Revolution wiegt aber das ungeheuer rasche Wachstum der Produktivkräfte,das unter der Führung der industriellen Bourgeoisie erzielt wurde. Im Verlauf von hundert Jahren hat die Bourgeoisie mehr und kolossalere Produktivkräfte geschaffen als alle vorausgehenden Generationen zusammen. Ja mehr noch, die Struktur dieses Wirtschaftssystems ist so geartet, daß es sich nur unter der Bedingung ständiger Expansion überhaupt am Leben erhalten kann. Die industriellen Kapitalisten sind daher gezwungen, bei Strafe des Untergangs ständig die Produktionsbedingungen weiter zu revolutionieren. In diesem Prozeß müssen notwendig die kleinen und mittleren Unternehmer auf der Strecke bleiben und immer größere und mächtigere (internationale) Unternehmungen entstehen.

Soweit das faszinierend eindrucksvolle Bild, das Marx von Vergangenheit, Gegenwart und unmittelbarer Zukunft des Industriekapitalismus entwirft. Es fehlt jedoch noch ein entscheidender weiterer Aspekt: die Erzeugung, ständige Vergrößerung und unaufhaltsame (relative und absolute) Verelendung des Industrieproletariats. Mit der Akkumulation und Konzentration des Kapitals, mit der Verwandlung aller Produktivkräfte in »nur gesellschaftlich benützbare Produktivkräfte« verliert der kleine, selbständige Produzent immer mehr an Boden und wird ins Proletariat hinab-geschleudert. Der Zwang, die eigene Arbeitskraft als einzig verfügbare Ware auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen, führt zu scharfem Konkurrenzkampf unter den Arbeitern selbst und macht ihre Position im Verhältnis zu den weniger zahlreichen, von Haus aus bereits besser organisierten Unternehmern schwach. Aber mit der Einführung der großen Industrie, durch die massenhaft Arbeiter an einen Ort zusammenströmen, und mit der Erfindung moderner Kommunikationsmittel sind Chancen eines Zusammenschlusses entstanden, der die Verwandlung des Industrieproletariats in eine selbstbewußte, handlungsfähige Klasse erleichtern wird. Mit der Verwandlung der zunächst nur »an sich« oder »für den soziologischen Betrachter« eine Klasse bildenden Industriearbeiter in eine selbstbewußte, politische Gemeinschaft wäre bereits der entscheidende Schritt zur Revolution getan. Niemand könnte der geschlossenen Macht dieser Phalanx widerstehen. Friedrich Engels wie Karl Marx waren überzeugt, daß diese proletarische Revolution nur »in den entwickelten Staaten auf ein Mal« zum Sieg gelangen könne. Nur eine Weltrevolution, die Stiftung einer weltweiten Assoziation der Produzenten könnte den Weltmarkt und seine Gesetze aufheben und — wie Marx später sagen wird — den Menschen die Möglichkeit eröffnen, »ihren Stoffwechsel mit der Natur auf die rationellste und menschlichste Weise zu regeln«.

Von dieser künftigen proletarisch-sozialistischen Revolution erwartete sich Marx eine wirkliche Emanzipation der Menschheit. Im Gegensatz zu allen früheren Revolutionen würde sie nichtdie Herrschaft einer Minderheit durch die einer neuen, vielleicht dynamischeren und moderneren Minderheit ersetzen, sondern jeder Minderheitsherrschaft, ja überhaupt »jeder Herrschaft von Menschen über Menschen« wie jeder »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« ein Ende bereiten. Erst dann würde an die »Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen eine Assoziation treten, in der die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«.

Die Weltgeschichte hat einen anderen Verlauf genommen, als Marx und Engels es erwarteten, aber das Kommunistische Manifest hat damit noch nicht seine Faszination verloren. Die siegreiche Oktoberrevolution des Jahres 1917 konnte nicht die Hoffnungen einlösen, die manche Marxisten auf sie setzten. Sie führte nach dem vergeblichen Versuch des Kriegs-Kommunismus zum Aufbau einer Volkswirtschaft mit starken staatskapitalistischen und schwachen genossenschaftlichen Sektoren, über die sich ein autoritärer, bürokratischer Staats- und Parteiapparat erhob.

Der Weltmarkt blieb nicht nur in seiner kapitalistischen Gestalt bestehen, sondern überwand schließlich auch die geschlossenen »sozialistischen Gesellschaften« und zwang sie, sich dem Marktgeschehen im Inneren wie nach außen zu öffnen. Der Zusammenbruch des sowjetischen Staatssozialismus und der Zerfall der Sowjetunion hatte chaotische Verhältnisse zur Folge: Die jahrzehntelang unterdrückten ethnischen und religiösen Minderheiten begannen sich gegen die Dominanz der Großrussen zu wehren. Die Ukraine, die baltischen Staaten, mittelasiatische und Kaukasus-Völker erkämpften eigene souveräne Gemeinwesen, in denen oft russische Minderheiten neue Probleme aufwerfen. An die Stelle des doktrinären (und häufig heuchlerischen) Internationalismus der Sowjetführung traten konfligierende Nationalismen; an die Stelle des angeblich »wissenschaftlichen Atheismus« die Erneuerung traditioneller Religionen und die Bildung sektiererischer Glaubensgemeinschaften. Das Fehlen einer bürgerlichen Rechtskultur und einer besitzenden bourgeoisen Schicht ließ einen mafiahaften, gewissenlosen Kapitalismus entstehen, der den verarmten Massen wie eine nachträgliche Bestätigung ihrer ideologischen Vorurteile erscheint. Die Zukunft dieser Länder ist ungewiß und kann aus den Marxschen Prophezeiungen nur wenig Hoffnung schöpfen.

Ganz anders hat die kommunistische Führung Chinas sich den Verhältnissen angepaßt. Sie versuchte — bislang mit einigem Erfolg — die Öffnung der Märkte und die Zulassung der privatkapitalistischen Bestätigung Einheimischer und Fremder mit der Beibehaltung eines bürokratischen politischen Rahmens zu kombinieren. Freiheitsbestrebungen, die in Teilen der zunehmend aufgeklärteren und politisch wacheren Bevölkerung entstehen, werden vorerst noch mehr oder minder gewaltsam unterdrückt. Immerhin öffnet sich der Buchmarkt für Publikationen, die früher den chinesischen Lesern vorenthalten wurden.

In den kapitalistischen Staaten setzt sich zugleich die von Marx beschriebene Entwicklung mit neuer Geschwindigkeit fort: Firmenzusammenschlüsse über Länder und Kontinente hinweg führen zu immer größeren Unternehmungen und zu erbitterten interkontinentalen Konkurrenzkämpfen. Zwar ist keine einheitliche Welt im Entstehen, aber doch eine auf nur mehr drei riesige Wirtschaftseinheiten hintendierende Struktur: die USA und die von ihr dominierte Freihandelszone (NAFTA) mit Südamerika und den pazifischen Staaten als Ergänzung; Japan mit potentieller Ausweitung des von ihm beherrschten Wirtschaftsraumes auf dem asiatischen Kontinent; und die Europäische Union — mit potentieller Erweiterung nach Osteuropa und Afrika. Zwischen diesen drei sich herausbildenden globalen Wirtschaftsräumen besteht ein ökonomischer Wettkampf und der Versuch, die jeweils anderen zu durchdringen. Die von Marx beschriebene massenhafte Verelendung des Proletariats und dessen Konzentration in industriellen Großbetrieben ist durch die staatliche Sozialpolitik aller demokratischen Regierungen und seit einiger Zeit auch durch die Veränderung der Zusammensetzung der lohn- und gehaltsabhängigen Bevölkerung überwunden worden. In den am weitesten entwickelten Industriegesellschaften bilden die Industriearbeiter innerhalb der Arbeitnehmer nur noch eine Minderheit. In den USA sind bereits 70% im »tertiären Sektor« mit Dienstleistungen beschäftigt. Die Computerisierung ermöglicht die Verlagerung von mehr und mehr Arbeitsplätzen an dezentrale Standorte — zum Teil sogar in die Wohnung. Die Einkommensverhältnisse und die Stabilität der Arbeitsplätze innerhalb der Erwerbsarbeit leistenden Bevölkerung differenzieren sich immer mehr, so daß der Prozeß der Homogenisierung, von dem sich Marx die Herausbildung eines »revolutionären Bewußtseins und des politischen Zusammenschlusses der Arbeiterklasse« erhoffte, immer mehr aufgehoben wird. Einer Schicht gut bezahlter Arbeitnehmer mit sicheren Arbeitsplätzen, hoher Qualifikation und entsprechendem Bildungsanspruch stehen schlecht ausgebildete Beschäftigte in oft wechselnden, geringer bezahlten »jobs« gegenüber. Der rasche technische Wandel, der zu immer höherer Arbeitsproduktivität der industriellen Fertigung führt, setzt immer wieder Massen von Arbeitern frei, deren rasche Vermittlung in Dienstleistungstätigkeiten in Europa am sozialpolitischen System der Besitzstandswahrung scheitert, während sie in den USA mit der zwangsweisen Hinnahme von Einkommensminderung — angesichts geringer Sozialhilfen — verbunden ist. Es gibt Armut, sogar massenhafte, aber keine mehrheitsfähige und keine revolutionäre Armut. Die kapitalistischen Gesellschaften befinden sich in einem komplizierten, aber nicht zu radikalen politischen Umbrüchen führenden Übergang, der den osteuropäischen und anderen Ländern ebenfalls — in einigen Jahrzehnten — bevorstehen wird.

Ein anderes Problem, das im Kommunistischen Manifest noch nicht erwähnt wird, aber von Marx wie Engels sehr wohl schon erkannt war, wird künftig weltweit eine wachsende Rolle spielen: Es geht darum, die Grenzen wirtschaftlichen Wachstums auf Grund der Notwendigkeit zur Erhaltung der Ökosphäre zu respektieren und die wirtschaftliche Entwicklung auf einen Kurs der »Nachhaltigkeit« umzulenken. Nachhaltige Entwicklung (»sustainable development«) ist eine Entwicklung von Produktion und Konsum, die mit der begrenzten Schadstoffbelastbarkeit von Wasser, Luft und Erde sowie mit den Grenzen der Ressourcen der Erde vereinbar ist. Sowohl was den Ressourcenverbrauch als auch was den Schadstoffausstoß angeht, lebt die Menschheit vor allem in den entwickelten Industriestaaten zur Zeit weit über ihre Verhältnisse, der Zusammenbruch des schon erheblich beschädigten Ökosystems scheint auf Dauer unvermeidlich. Die Gefahr dieser Entwicklung haben Marx und Engels vorausgesehen, allerdings — zu Unrecht — angenommen, daß eine »sozialistische Planwirtschaft« dieses Problem lösen werde. Bekanntlich hat sowohl die Industrie der Sowjetunion als auch die Chinas zum Teil weit schlimmere Umweltkatastrophen zur Folge gehabt als die der westlichen Industrieländer.

Im Kapitalverweist Marx vor allem auf die verheerenden Auswirkungen industrieller Landwirtschaft, die zwar »für eine gegebene Zeitfrist« die Fruchtbarkeit des Bodens steigert, aber »zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit« ist. William Kapp hat — wie lange vor ihm Marx — am Beispiel der US-amerikanischen extensiven Landwirtschaft deren ökologisch schädliche Folgen nachdrücklich beschrieben. [1] Am pathetischsten hat Friedrich Engels in seinem Buch Die Dialektik der Naturauf die Fragwürdigkeiten des neuzeitlichen »Ausbeutungsverhältnisses« gegenüber der Natur aufmerksam gemacht: »Schmeicheln wir uns [...] nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar dieFolgen, auf die wir gerechnet haben, aber in zweiter und dritter hat er ganz andre unvorgesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.« »Gegenüber der Natur wie der Gesellschaft kommt bei der heutigen Produktionsweise vorwiegend nur der Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, daß die entfernten Nachwirkungen der hierauf gerichteten Handlungen ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind.« [2]

Auch wenn Marx und Engels diese naturzerstörenden Auswirkungen der Produktion in erster Linie dem kapitalistischen Wirtschaftssystem ankreideten, war ihnen klar, daß schon in der Antike — z. B. durch die Abholzung der Wälder Griechenlands für den Schiffsbau — ökologische Katastrophen vorkamen. Erst von der kommunistischen Zukunftsgesellschaft erwarteten sie eine weitblickende Steuerung von Produktion und Konsum im Interesse der Bewahrung der unentbehrlichen Naturgrundlagen menschlicher Existenz. Im 3. Band des Kapitalsdeutet Marx an, wie sich in dieser künftigen Gesellschaft die Menschen zur Natur verhalten würden: »Vom Standpunkt einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft,eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«[3]Eine aufgeklärte, ideale Zukunftsmenschheit würde ihre Produktion wie ihr Konsumverhalten so einzurichten haben, daß die »Naturgrundlage« humaner Existenz auch künftigen Generationen erhalten bleibt — ja sogar ihr verbessert hinterlassen wird. Zu dieser Einsicht steht freilich der von Marx an vielen Stellen seiner Schriften und erst recht von den meisten Marxisten vertretene Fortschrittsglaube in krassem Widerspruch. Ein Widerspruch, der erst behoben werden kann, wenn die Grenzen des Wachstums akzeptiert und die Möglichkeit einer Verbesserung der Lebensqualität jenseits der begrenzten Wachstumsmöglichkeiten deutlich gemacht wird. Vor dieser Aufgabe stehen wir noch heute.[4]

Frankfurt am Main, Sommer1999
Iring Fetscher


Fußnoten

[1] William Kapp, The Social Costs of Private Enterprise,Cambridge (Mass.) 1950; Volkswirtschaftliche Kosten der Privatwirtschaft,Tübingen 1958.

[2] Friedrich Engels, Dialektik der Natur;Marx/Engels, Werke,Bd. 20, S. 453;
Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), Erste Abteilung, Bd. 26, S. 550

[3] Karl Marx, Das Kapital,Bd. 3; Marx/Engels, Werke,Bd. 25, S. 784

[4] Vgl. zum Problem der industriellen Entwicklung und der Ökologie auch Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Ist der Fortschritt noch zu retten?Berlin '1991.

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