„Das ‚Kapital‘ gehört keiner einzelnen Wissenschaft allein an.“
Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Karl Korsch, Gustav Kiepenheuer Verlag, 1932
Geleitwort zur neuen Ausgabe
Wie Platos Buch vom Staat, Macchiavells Buch vom Fürsten, Rousseaus Gesellschaftsvertrag, so verdankt auch das Marxsche Buch vom Kapital seine große und dauernde Wirkungskraft dem Umstand, daß es an einem geschichtlichen Wendepunkt das in die alte Weltgestalt einbrechende neue Prinzip in seiner vollen Weite und Tiefe begriffen und ausgesprochen hat. All die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Fragen, um die sich die Marxsche Analyse des „Kapital“ theoretisch dreht, sind heute weltbewegende praktische Fragen, um die in allen Erdteilen der reale Kampf der großen gesellschaftlichen Mächte, der Staaten und Klassen, geführt wird. Dadurch, daß er diese Fragen so frühzeitig als die für die damals bevorstehende Weltwende entscheidenden Fragen begriffen hat, hat sich Karl Marx vor der Nachwelt als der große vorausschauende Geist seiner Zeit bewiesen.
Er hätte diese Fragen aber auch als größter Geist nicht theoretisch ergreifen und seinem Werke einverleiben können, wenn sie nicht zugleich auf irgendeine Weise auch schon in der damaligen Wirklichkeit als reale Fragen gestellt gewesen wären. Es war das eigentümliche Schicksal dieses deutschen Achtundvierzigers, daß er, von den absoluten und den republikanischen Regierungen Europas aus seinem praktischen Wirkungskreis herausgeschleudert, durch diese rechtzeitige Entfernung aus den engen und rückständigen deutschen Verhältnissen erst recht in seinen eigentlichen geschichtlichen Aktionsraum hineingeschleudert wurde. Gerade infolge dieser mehrfachen gewaltsamen Verrückung seines Arbeitsfeldes vor und nach der gescheiterten deutschen Revolution von 1848 konnte der damals eben 3ojährige Denker und Forscher Marx, der sich durch die theoretische Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie bereits zu einem umfassenden und tiefen Weltwissen in deutsch philosophischer Form durchgearbeitet hatte, nunmehr in seinen beiden aufeinanderfolgenden Emigrationsperioden, zuerst in Frankreich und Belgien, danach in England, auch noch in die unmittelbarste theoretische und praktische Beziehung zu den beiden zukunftskräftigsten neuen Gestaltungen der damaligen Welt treten. Das war einerseits der über die Errungenschaften der großen jakobinisch bürgerlichen Revolution hinaus zu neuen proletarischen Zielen vordrängende französische Sozialismus und Kommunismus, andrerseits die aus der industriellen Revolution der Jahre 1770-1830 in England hervorgegangene entwickelte Gestalt der modernen kapitalistischen Produktion und der ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse.
Französische politische Geschichte, englische Wirtschaftsentwicklung, moderne Arbeiterbewegung - dieses dreifache „Jenseits“ der damaligen deutschen Wirklichkeit hat Marx in jahrzehntelanger Forscher- und Denkerarbeit seinen. Werken und besonders seinem Hauptwerk „Das Kapital“ auf das gründlichste einverleibt und diesem Werke damit jene eigentümliche Lebenskraft verliehen, mit der es noch heute, 65 Jahre nach seinem Erscheinen und fast 5o Jahre nach dem Tode seines Verfassers, im höchsten Grade „zeitgemäß“ geblieben ist und in vieler Hinsicht seine Zeit erst recht zu erfüllen anfängt.
„Der letzte Endzweck dieses Werks“ besteht nach der eigenen Angabe des Verfassers darin, „das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen.“ Schon hierin liegt eingeschlossen, daß „Das Kapital“ sich nicht darauf beschränkt, einen Beitrag zur ökonomischen Schulwissenschaft im herkömmlichen Sinne zu liefern. Gewiß füllt das Marxsche Kapital unter anderm auch in der Entwicklung der ökonomischen Theorie eine wichtige Stelle aus; seine Spuren finden sich in der gesamten ökonomischen Fachliteratur bis zum heutigen Tage. Aber das Kapital ist, wie schon sein Untertitel besagt, zugleich eine „Kritik der politischen Ökonomie“, und das bedeutet durchaus nicht bloß eine kritische Stellungnahme zu den besonderen, von den einzelnen ökonomischen Forschern jeweils vertretenen Lehrmeinungen. Es bedeutet vielmehr im Marxschen Sinne auch eine Kritik der politischen Ökonomie selbst, die ja nach der geschichtlich materialistischen Anschauung von Marx nicht nur ein theoretisches System von entweder wahren oder falschen Sätzen darstellt, sondern selbst ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit verkörpert, genauer gesagt, ein Stück jener „modern bürgerlichen Produktionsweise“ und darauf beruhenden Gesellschaftsformation, deren Entstehung, Entwicklung und Untergang, zugleich Übergang in eine neue höhere Produktionsweise und Gesellschaftsformation, den eigentlichen Gegenstand der Marxschen Forschung und Kritik im „Kapital“ bildet. Die „Kritik der politischen Ökonomie“ im Kapital erscheint insofern, wenn wir von der heute üblichen Einteilung der Wissenschaften ausgehen, nicht eigentlich als eine ökonomische, sondern vielmehr als eine geschichtliche und soziologische Theorie.
Aber auch mit dieser neuen Bestimmung, und mit einer Reihe ähnlicher, die wir noch hinzufügen könnten, sind die Forschungsweise und der Gegenstand des Marxschen „Kapital“ noch nicht in ihrem ganzen Umfang und in ihrer Tiefe erfaßt. Das „Kapital“ gehört keiner einzelnen Wissenschaft allein an, obwohl es umgekehrt erst recht nichts mit einer philosophischen Allerweltswissenschaft zu tun hat, sondern einen ganz bestimmten eigenartigen Gegenstand unter einem ganz bestimmten eigenartigen Gesichtspunkt behandelt. Man kann das Werk von Marx in dieser Hinsicht am besten mit dem berühmten Werke Darwins über den „Ursprung der Arten“ vergleichen. Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur entdeckt hat, so hat Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte aufgedeckt, und zwar in zweifacher Weise: Einerseits als allgemeines geschichtliches Entwicklungsgesetz in der Form des sogenannten „historischen Materialismus“. Andrerseits als besonderes Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft. Daß dieser Vergleich keineswegs bloß auf ein äußerliches Zusammentreffen zweier geschichtlicher Daten gegründet ist (der „Ursprung der Arten“ und der erste Teil des Marxschen Kapitalwerks: „Zur Kritik der politischen Ökonomie“, erschienen beide im Jahre 1859), sondern einen tieferen Zusammenhang ausdrückt, ist von Friedrich Engels in seiner Rede am Grabe des toten Freundes ausgesprochen, und auch von Marx selbst nahegelegt. Er spricht in einer der schönen und tiefen, scheinbar weit vom Thema abführenden Anmerkungen, mit denen er sein Werk fast überreich ausgestattet hat, davon, daß Darwin zuerst das Interesse auf die „Geschichte der natürlichen Technologie“ gelenkt habe, das heißt auf die „Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere.“ Und er stellt die Frage: „Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, daß wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?“
In diesen Sätzen ist in der Tat das Verhältnis zwischen Darwin und Marx in vollendeter Weise ausgedrückt, sowohl in der Hervorhebung des beiden Gemeinsamen, als auch in der Hervorhebung des eigentümlichen Unterschieds, wonach die Untersuchung Darwins einen im engeren Sinne naturwissenschaftlichen Entwicklungsprozeß, die Marxens einen geschichtlich gesellschaftlich praktischen, von den Menschen nicht nur erlebten, sondern auch gemachten Entwicklungsprozeß behandelt. Nur daß aus diesem Unterschied von Marx nicht, wie von manchen modernen Halbtheologen und Dunkelmännern der sogenannten „geisteswissenschaftlichen“ Forschung, der Schluß gezogen wird, daß bei der Erforschung und Darstellung dieses gesellschaftlichen Lebensprozesses der Menschen ein minder hoher Grad von begrifflicher Strenge und empirischer Treue ausreichend und ein größeres Maß von Subjektivität angemessen wäre, als in den eigentlichen Naturwissenschaften. Marx geht vielmehr von der entgegengesetzten Auffassung aus und stellt sich ausdrücklich die Aufgabe, in seinem Werke die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen „naturgeschichtlichen Prozeß“ darzustellen.
Ob und wieweit dieser große Wurf dem materialistischen Geschichts- und Gesellschaftsforscher Marx im „Kapital“ grundsätzlich gelungen ist, darüber wird erst dann zu entscheiden sein, wenn einmal jener von Marx vor 65 Jahren ins Auge gefaßte Zeitpunkt gekommen sein wird, wo für und wider die Marxsche Theorie nicht mehr „die Vorurteile der sogenannten öffentlichen Meinung“ allein gehört werden, sondern auch das Urteil einer wirklich „wissenschaftlichen Kritik“, womit es bei der gegenwärtigen Lage der Dinge noch gute Wege hat.
Dagegen wäre es eine falsche Zurückhaltung, bei der Herausgabe des Marxschen Kapitals nicht zugleich darauf hinzuweisen, in welchem eigentümlichen Verhältnis der ausgeführt vorliegende Teil dieses Werkes zu den nicht ausgeführten Teilen seines Entwurfes steht.
Ein Torso von gigantischen Ausmaßen - das ist die Form, in der uns das ökonomische Werk von Marx heute vorliegt und auch in Zukunft, trotz der noch zu erwartenden Veröffentlichung mancher bisher ungedruckter Manuskripte, in der Hauptsache unverändert vorliegen wird. Auch wenn wir von den noch viel weiter gesteckten Umrissen der früheren Marxschen Entwürfe absehen, in denen die Kritik der politischen Ökonomie von der Kritik der Philosophie, der Rechtsverhältnisse und Staatsformen, aller ideologischen Formen überhaupt, noch nicht losgelöst und als selbständige, zuerst zu bewältigende Forschungsaufgabe noch nicht aufgestellt ist, klafft ein gewaltiger Abstand zwischen dem von Marx geplanten und dem später vollendeten Werk. Zweimal hat sich Karl Marx in der Zeit nach seiner endgültigen Übersiedlung nach London 185o, wo ihn „das ungeheure Material für Geschichte der politischen Ökonomie, das im Britischen Museum aufgehäuft ist, der günstige Standpunkt, den London für die Beobachtung der bürgerlichen Gesellschaft gewährt, endlich das neue Entwicklungsstadium, worin letztere mit der Entdeckung des kalifornischen und australischen Goldes einzutreten schien“, noch einmal dazu bestimmt hatten, seine politisch ökonomischen Studien „ganz von vorn wieder anzufangen“, über den Gesamtplan des nunmehr ins Auge gefaßten politisch ökonomischen Werkes geäußert. Das erstemal in dem 1857 niedergeschriebenen, aber hernach wieder „unterdrückten“ und erst 1903 von Kautsky in der „Neuen Zeit“ veröffentlichten Manuskript zu einer „allgemeinen Einleitung“, das zweitemal in dem wirklich erschienenen „Vorwort“ zur „Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859. Das erstemal heißt es:
„Die Einteilung ist offenbar so zu machen, daß zuerst die allgemeinen abstrakten Bestimmungen zu entwickeln sind, die daher mehr oder minder allen Gesellschaftsformen zukommen ... Zweitens die Kategorien, die die innere Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen und worauf die fundamentalen Klassen beruhen. Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum. Ihre Beziehung zueinander. Stadt und Land. Die drei großen gesellschaftlichen Klassen. Austausch zwischen denselben. Zirkulation. Kreditwesen (privates). Drittens kommt die Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staates. In Beziehung zu sich selbst betrachtet. Die „unproduktiven“ Klassen. Steuern. Staatsschuld. Der öffentliche Kredit. Die Bevölkerung. Die Kolonien. Auswanderung. Viertens Internationales Verhältnis der Produktion. Internationale Teilung der Arbeit. Internationaler Austausch. Aus- und Einfuhr. Wechselkurs. Fünftens Der Weltmarkt und die Krisen.“
Zwei Jahre später, als Marx „die zwei ersten Kapitel der ersten Abteilung des ersten Buches, das vom Kapital handelt“, als ein selbständiges „Heft“ (von etwa 200 Druckseiten!) unter dem Titel „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ veröffentlichte, begann er das Vorwort dieser Schrift mit dem Satze:
„Ich betrachte das System der bürgerlichen Ökonomie in dieser Reihenfolge: Kapital, Grundeigentum, Lohnarbeit; Staat, auswärtiger Handel, Weltmarkt. Unter den drei ersten Rubriken untersuche ich die ökonomischen Lebensbedingungen der drei großen Klassen, worin die moderne bürgerliche Gesellschaft zerfällt; der Zusammenhang der drei andren Rubriken springt in die Augen.“
Von diesen umfassenden Plänen ist in dem später teils von Marx selbst, teils von andern vollendeten Kapitalwerk nur ein Bruchteil der ersten Hälfte zur Ausführung gelangt. Marx schreibt noch Ende 1862, als er sich schon dazu entschlossen hat, die „Fortsetzung“ des im Jahre 1859 veröffentlichten ersten Heftes „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ nunmehr selbständig unter dem Titel „Das Kapital“ erscheinen zu lassen, in einem Brief an Kugelmann, daß diese neue Veröffentlichung (worunter nicht etwa der heutige erste Band des Kapitals, sondern auch alle andern Teile des Gesamtwerks zu verstehen sind!) „in der Tat nur umfaßt, was das dritte Kapitel der ersten Abteilung bilden sollte, nämlich das Kapital im allgemeinen.“ Er hat aber um dieselbe Zeit aus einer Reihe von äußeren und inneren Gründen den bis dahin mit geringen Veränderungen festgehaltenen Plan des Gesamtwerks erheblich eingeschränkt und sich für die Darstellung des Gesamtstoffs in drei bzw. vier Büchern entschieden, von denen das erste den Produktionsprozeß des Kapitals, das zweite den Zirkulationsprozeß, das dritte die Gestaltungen des Gesamtprozesses und das abschließende vierte die Geschichte der Theorie behandeln sollte.
Von diesen vier Büchern des Kapital ist nur noch eines von Marx selbst vollendet worden. Es erschien als Band 1 des Kapital in erster Auflage 1867, in zweiter Auflage 1872. Das zweite und dritte Buch wurden nach Marxens Tode von seinem Freunde und Mitarbeiter Friedrich Engels auf Grund vorhandener Manuskripte fertiggestellt und als Band Il und III des Kapitals 1885 und 1894 herausgegeben. Dazu kommen noch die 1905-1910 von Kautsky, ebenfalls auf Grund Marxscher Manuskripte, herausgegebenen drei Bände „Theorien über den Mehrwert“, die zusammen als ein gewisser Ersatz für das vierte Buch des „Kapital“ betrachtet werden können. Streng genommen handelt es sich dabei allerdings nicht mehr um eine Fortsetzung des Kapital, sondern nur noch um den teilweisen Abdruck eines älteren, von Marx bereits August 1861 bis Juni 1863 niedergeschriebenen Manuskripts, welches niemals dazu bestimmt war, einen Teil des „Kapital“ darzustellen, sondern lediglich die Fortsetzung des 1859 erschienenen ersten Heftes „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ bildet. Schon Engels hatte den Plan gehabt, den kritischen Teil dieses Manuskripts, nach Beseitigung der zahlreichen von ihm bereits für die Ausarbeitung von Buch Il und III verbrauchten Stellen, als Buch IV des „Kapital“ zu veröffentlichen. Dagegen hat Marx selbst bei der Herausgabe des ersten Bandes des „Kapital“ nicht einmal den bereits erschienenen Teil des Manuskripts „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ unverändert übernommen, sondern ihn in den ersten drei Kapiteln des neuen Werkes noch einmal von Grund aus umgearbeitet. Eine der wichtigsten Aufgaben künftiger Marx-Herausgeber wird darin bestehen, durch eine ungekürzte Ausgabe des Gesamtmanuskripts „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ auch diese erste und einzige von Marx selbst zu Ende durchgeführte Gesamtdarstellung seines Gedankengebäudes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Trotz des gewaltigen Abstandes zwischen dem geplanten und dem wirklich vollendeten Werk stellt aber das Marx-sche „Kapital“, und sogar auch der erste Band des Kapital für sich allein, nach Form und Inhalt ein vollkommen abgerundetes Ganzes dar. Man darf sich die Sache nicht so vorstellen, als ob Karl Marx, der bei der Niederschrift des ersten Buches im Geiste auch schon die folgenden Bücher des Gesamtwerkes vollendet vor sich sah, nun wirklich in dieses erste seiner vier Bücher nur einen abgemessenen vierten Teil seiner Gedanken hinein getan hätte. Gegen diese Vorstellung spricht schon die von Rosa Luxemburg vor 3o Jahren in einer ausgezeichneten Studie zum Kapital hervorgehobene Tatsache, daß doch auch schon vor dem, im Jahre 1894 endlich erschienenen, dritten Bande des Kapital jahrzehntelang in Deutschland, wie in allen Ländern, „die Marxsche Lehre als Ganzes auf Grund des einen ersten Bandes popularisiert und aufgenommen“ und „nirgends eine theoretische Lücke verspürt wurde“. Es hat auch wenig Sinn, diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Inhalt und Wirkung des Kapital dadurch lösen zu wollen, daß man meint, in diesem ersten Bande würde bereits die Beziehung zwischen den beiden großen Klassen der modernen bürgerlichen Gesellschaft, der Gesamtkapitalistenklasse und der Gesamtarbeiterklasse, sowie die auf die Vergesellschaftung der Produktionsmittel hinzielende Gesamtentwicklungstendenz der gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsweise erschöpfend geklärt, während die in den folgenden Bänden behandelten Fragen der Kapitalzirkulation und der Verteilung des Gesamtmehrwerts auf die selbständigen kapitalistischen Einkommensformen Profit, Zins, Handelsgewinn, Grundrente usw. für die Arbeiterklasse theoretisch und praktisch minder wichtig wären. Abgesehen davon, daß es nach der Theorie des Marxschen Kapital nicht zwei, sondern drei grundlegende Klassen in der bürgerlichen Gesellschaft gibt (Kapitalisten, Lohnarbeiter, Grundeigentümer), wäre es eine unbeschreibliche Verflachung der Marxschen Theorie, wenn man ihr unterschieben wollte, daß sie das ökonomische Bewegungs- und Entwicklungsgesetz der modernen Gesellschaft aus dem Bereich der Produktion und den diesem Bereich unmittelbar entspringenden Widersprüchen und Kämpfen allein, unter Absehung von den Vorgängen des Zirkulationsprozesses und den durch die Zusammenfassung beider im Gesamtprozeß noch hinzutretenden Gestaltungen, ableiten wollte.
Die wirkliche Lösung des hier vorliegenden Problems besteht darin, daß Marx im ersten Buch des Kapital seine Untersuchung nur formell auf den Produktionsprozeß des Kapitals eingeschränkt, tatsächlich aber in diesem Teil zugleich das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise und der daraus hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaft mit all ihren ökonomischen und sogar noch darüber hinaus mit all ihren juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Erscheinungsformen als eine Totalität begriffen und dar- gestellt hat. Es ist dies eine notwendige Folge der von Marx aus der Hegelschen Philosophie, trotz aller materialistischen „Umstülpung“ ihres idealphilosophischen Inhalts, formell ziemlich unverändert übernommenen dialektischen Darstellungsweise, die, in dieser Hinsicht ähnlich der modernen axiomatischen Methode der mathematischen Naturwissenschaften, den bei der Forschung im Detail angeeigneten Stoff nachträglich in einem scheinbar logisch konstruktiven Verfahren aus gewissen einfachen Grundbegriffen deduktiv ableitet. Über die Vorzüge oder Nachteile dieser dialektischen Darstellungsweise in der politischen Ökonomie ist hier nicht zu urteilen. Genug, daß Marx sie im „Kapital“ in vollendeter Weise angewendet hat und daß hiermit allein schon die Notwendigkeit für ihn gegeben war, bei der Untersuchung des Produktionsprozesses des Kapitals zugleich das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise und der darauf gegründeten bürgerlichen Gesellschaft zur Darstellung zu bringen. Auf dieser besonderen, dialektischen Darstellungsweise des Kapital beruhen auch gewisse noch zu erörternde Schwierigkeiten, die gerade aus der eigentümlichen „Einfachheit“ der in den Anfangskapiteln des Werkes auftretenden begrifflichen Entwicklungen für den in dieser Hinsicht ungeübten Leser entspringen.
Neben diesem ersten und hauptsächlichen gibt es auch noch einen zweiten Grund für die auffallende Tatsache, daß trotz der von Marx ausdrücklich ausgesprochenen und immer wieder eingeschärften formellen Beschränkung der Untersuchung des ersten Bandes auf den „Produktionsprozeß des Kapitals“ doch gerade dieser erste, und einzige von Marx selbst redigierte, Teil des Kapital in weit höherem Grade als das durch die weiteren Bände ergänzte Gesamtwerk auf jeden Leser den Eindruck der Ganzheit macht und „nirgends eine Lücke verspüren läßt“. Dieser zweite Grund besteht in der schlechthin künstlerischen Form, die der im einzelnen oft spröden und scheinbar unnötig gezwungenen Schreibweise von Marx im ganzen eignet. Wie für einige der historischen Schriften von Marx, vor allem die Schrift über den „18. Brumaire des Louis Bonaparte“, so gilt besonders auch für den ersten Band des Kapital das Urteil, mit dem einmal Marx in einem privaten Briefe an Friedrich Engels das gutgemeinte Schelten des Freundes über die immer wieder hinausgezögerte Fertigstellung des angeblich längst abgeschlossenen Werkes zu beschwichtigen versucht hat: „Welche Mängel sie immer haben mögen, das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen. Mit der Jakob Grimmschen Methode ist dies unmöglich und geht überhaupt besser für Schriften, die kein dialektisch Gegliedertes sind.“ (Marx Brief an Engels, 31. Juli 1865.)
II
So, wie es nun als „artistisches Ganzes“, als wissenschaftliches Kunstwerk vor uns liegt, übt das „Kapital“ auf jeden unvoreingenommenen Leser einen starken und bestrickenden Reiz aus, der auch dem Ungeschulten über die meisten der angeblichen und wirklichen Schwierigkeiten der Lektüre hinweghelfen wird. Mit diesen Schwierigkeiten hat es eine eigentümliche Bewandtnis. Man kann mit einer gewissen, gleich näher zu erklärenden Einschränkung kühnlich die Behauptung aussprechen, daß für solche Leser, wie sie Marx ausdrücklich vorausgesetzt hat („Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen“), das „Kapital“ eigentlich weniger Schwierigkeiten enthält, als irgendeines der mehr oder weniger viel gelesenen andern Hauptwerke der ökonomischen Fachliteratur. Sogar in der Terminologie wird, zumal in dieser Ausgabe, wo von der großen Anzahl der im Marxschen Text vorkommenden fremdsprachlichen Ausdrücke nur noch ein kleiner Teil unverdeutscht geblieben ist und auch diese größtenteils in dem hinzugefügten Fremdwörterverzeichnis erklärt sind, der zum Selbstdenken überhaupt befähigte Leser kaum auf ernsthafte Schwierigkeiten stoßen. Einige Kapitel, wie die von Marx in dem Brief an Kugelmann vom II. Juli 1868 für dessen Frau als „zunächst lesbar“ empfohlenen Kapitel 8, 11-13, 24, über den „Arbeitstag“, „Kooperation, Teilung der Arbeit und Maschinerie“, „Ursprüngliche Akkumulation“, die zusammen schon mehr als zwei Fünftel des gesamten Werkes ausmachen, sind in der Tat so überwiegend beschreibend und erzählend - und in welchen Farben beschreibend, mit welcher fortreißenden Kraft erzählt! -, daß sie von jedem ohne Mühe verstanden werden können. Aber auch unter den nicht mehr überwiegend beschreibenden und erzählenden Kapiteln gibt es noch einige, die fast ebenso einfach zu lesen sind wie jene andern, und zugleich den Vorzug haben, daß sie uns schon mitten in die Theorie des Kapitals hineinführen. Wir würden daher dem ungeübten Leser nach unserer eigenen Beurteilung der Dinge statt jenes Rezepts, welches Marx - hierin dem Vorurteil seiner Zeit einen leichten Tribut entrichtend - in dem erwähnten Brief sozusagen „für Damen“ gegeben hat, lieber einen anderen Weg empfehlen, auf dem er sicher sein kann, das volle Verständnis der Theorie des Kapital ganz ebensogut, wenn nicht sogar besser, als beim Beginn mit den schwierigeren ersten Kapiteln, zu erlangen. Er beginne also mit einem gründlichen Studium des 5. Kapitels: „Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß“ [Unterabschnitt i a), in dieser Ausgabe S. 179 Mitte]. Er wird auch hier zunächst einige Schwierigkeiten zu überwinden haben, aber diese liegen alle in der Sache und nicht, wie manches in den vorhergehenden Kapiteln, zugleich an gewissen, eigentlich unnötigen Künstlichkeiten der Darstellungsform. Was hier gesagt ist, bezieht sich direkt und gradezu auf handgreifliche Wirklichkeiten, zunächst auf die handgreifliche Wirklichkeit des menschlichen Arbeitsprozesses. Hart und klar tritt von allem Anfang an die für das richtige Verständnis des Kapital grundlegende Tatsache hervor, daß dieser wirkliche Arbeitsprozeß unter den Bedingungen der gegenwärtig herrschenden kapitalistischen Produktionsweise nicht nur eine Erzeugung von Gebrauchswerten für menschliche Bedürfnisse darstellt, sondern zugleich eine Erzeugung von verkäuflichen Waren, Verkaufswerten, Tauschwerten oder kurz gesagt „Werten“. Nachdem der Leser hier, in der wirklichen Produktion, den zwieschlächtigen, zwiespältigen Charakter kennengelernt hat, der dieser kapitalistischen Produktionsweise anhaftet, und ebenso der Arbeit selbst, sofern sie von Lohnarbeitern für die Besitzer der Produktionsmittel, von Proletariern für Kapitalisten geleistet wird, wird er später viel besser imstande sein, den Sinn und die Tragweite jener schwierigeren Untersuchungen der drei ersten Kapitel über den zwieschlächtigen Charakter der Ware als Trägerin des Gebrauchswerts und Tauschwerts, über den zwieschlächtigen Charakter der warenproduzierenden Arbeit und über den Gegensatz von Ware und Geld zu begreifen.
Aber so weit sind wir noch gar nicht. Jene ersten Kapitel, den eigentlichen Stein des Anstoßes und Ärgernisses für mehrere Generationen von Marxlesern, können wir vorläufig noch ganz beiseite lassen, obwohl ein beträchtlicher Teil davon für uns jetzt bereits vollkommen zugänglich wäre. Das gilt besonders für die „Analyse der Wertsubstanz und der Wertgröße“ in den beiden ersten Unterabschnitten des ersten Kapitels, von denen Marx im Vorwort sagt, daß er sie gegenüber der Darstellung in der Schrift „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ nunmehr „möglichst popularisiert“ habe. Dagegen gilt es keinesfalls für den dann folgenden dritten Unterabschnitt, über die „Wertform“, den Marx selbst in den 13 Jahren 1859-72 nicht weniger als viermal in verschiedenen Formen dargestellt hat, und bei dem es sich „in der Tat um Spitzfindigkeiten handelt“. Es gilt aus anderen, noch zu, erörternden Gründen auch nicht für den 4. Unterabschnitt über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“. Das kurze 2. Kapitel ist wieder leicht, das 3. dagegen für den Anfänger äußerst schwer verständlich. Am besten tut also der von uns vorausgesetzte, noch völlig ungeschulte Leser, wenn er sich auf dieser Stufe auf die ersten Kapitel überhaupt noch nicht näher einläßt, sondern von dem genauer studierten 5. Kapitel nach einer vorerst nur ganz flüchtigen Durchsicht des 6. und 7. Kapitels alsbald übergeht zu jenem 8. Kapitel über den Arbeitstag, von dessen besonders leichter Lesbarkeit wir schon weiter oben gesprochen haben. Hier fügen wir nur hinzu, daß dieses 8. Kapitel auch seinem Inhalt nach einen der wichtigsten Teile, in mancher Hinsicht den Höhepunkt des ganzen Marxschen Kapitalwerks darstellt. Das 9. Kapitel mit seinen kunstvoll abstrakten und nur dialektisch gesprochen „einfachen“ Ausführungen ist nunmehr unter allen Umständen ganz zu übergehen. Aus dem Io. Kapitel entnehmen wir vorläufig nur so viel, daß wir den von Marx auf den ersten Seiten dieses Kapitels mit der größten Klarheit auseinandergesetzten Unterschied zwischen dem „absoluten“ und dem „relativen“ Mehrwert begreifen lernen; das ist der Unterschied zwischen der Vermehrung der für den Profit geleisteten Mehrarbeit durch die absolute Verlängerung des Arbeitstages (Kapitel 8), und der Vermehrung der Mehrarbeit durch die relative Verkürzung des für die Erhaltung des Arbeiters selbst notwendigen Teils der Arbeitszeit infolge allgemeiner Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit. Dann folgen wiederum die von Marx als besonders leicht empfohlenen Kapitel 11-13, mit Bezug auf die hier nur noch nachzutragen ist, daß sie zwar tatsächlich alle drei, aber doch nur in sehr ungleichem Maße, als „leichte Lektüre“ zu bezeichnen sind. Am einfachsten ist das 120 Seiten lange I3. Kapitel über „Maschinerie und große Industrie“, das zugleich nach Form und Inhalt einen neuen Höhepunkt des Werkes darstellt. Das II. und 12. Kapitel bieten demgegenüber schon etwas größere Schwierigkeiten begrifflicher Natur, und namentlich das 12. Kapitel über die „Manufaktur“ enthält neben einigen sehr leicht lesbaren Abschnitten auch einige zunächst schwerer eingehende Unterscheidungen; es empfiehlt sich daher, vom ersten Unterabschnitt dieses Kapitels, der den „doppelten Ursprung der Manufaktur“ erörtert, unter Überspringung der beiden folgenden gleich zum vierten und fünften Unterabschnitt überzugehen, die die „Teilung der Arbeit innerhalb der Manufaktur und innerhalb der Gesellschaft“ und den „kapitalistischen Charakter der Manufaktur“ behandeln.
Mit dem Bisherigen hat der Leser eine große Hauptsache vorläufig bewältigt. Er hat den eigentlichen Arbeitsund Produktionsprozeß, und damit den wirklichen Kern des Kapitals, kennengelernt. In zweiter Linie gilt es nun, diesen Arbeits- und Produktionsprozeß in seine Umwelt und in den zeitlichen Zusammenhang hineinzustellen. Dazu lese man zunächst den dritten Unterabschnitt des 4. Kapitels: „Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft“, danach den VI. Abschnitt über den „Arbeitslohn“, unter vorläufiger Weglassung des auch für den Fachmann ziemlich schwierigen 20. Kapitels über die „Nationale Verschiedenheit der Arbeitslöhne“, das heißt also zunächst nur die drei Kapitel 17-19 über Arbeitslohn, Zeitlohn, Stücklohn.
Als nächstes folgt nun zweckmäßig der ganze VII. Abschnitt, der den einzelnen Produktionsprozeß hineinstellt in den ununterbrochenen Fluß der Reproduktion und Akkumulation, d.h. in die - bis zu einer gewissen Grenze - fortwährende Selbsterhaltung und Weiterentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und der aus ihr hervorgehenden bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Auch in diesen Abschnitt fällt wieder eins jener von Marx für Frau Kugelmann empfohlenen, besonders leichten Kapitel. Es ist das wegen seines atemberaubenden Tempos und hinreißenden Schwunges mit Recht berühmte 24. Kapitel über „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“. In der Tat bildet dieses leicht lesbare 24. Kapitel samt anhängendem 25. Kapitel über die Theorie und Praxis des „Modernen Kolonialsystems“ in sachlicher Hinsicht den dritten Höhepunkt des Marxschen Werkes. Wir empfehlen trotzdem unseren Lesern, sich dieses von Marx als krönender Abschluß gedachte Kapitel auch wirklich bis zum Schluß aufzuheben, sofern man überhaupt das ganze Werk mit all seinen leichten und schweren Teilen zu bewältigen gedenkt. Für dieses Vorgehen sprechen mehrere Gründe. Zunächst einmal gehören auch schon die vorhergehenden Kapitel 21-23 dieses Abschnitts größtenteils zu den weniger schwierigen Teilen des Buches. Ferner aber kann der Anfänger durch die Vorwegnahme jenes 24. Kapitels über die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ unter Umständen auch in die Irre geführt werden. Er kann sich dazu verleiten lassen, mit Franz Oppenheimer und vielen anderen diese Marxsche Theorie der ursprünglichen Akkumulation, die einen unentbehrlichen Bestandteil, aber doch nur einen und nicht einmal den zentralen Teil der Marxschen Theorie des Kapitals darstellt, für die ganze Theorie des Kapitals, oder doch für deren entscheidende Grundlage zu versehen. Der Leser tut also besser, die vier Kapitel des VI. Abschnitts über den Akkumulationsprozeß in der Reihenfolge zu lesen, in der sie im „Kapital“ stehen, um dann, nach dem ersten vorläufigen Durchbruch durch das ganze Werk, nunmehr mit dem genaueren Studium seiner einzelnen Teile zu beginnen.
III
Für eine tiefere Erfassung der Theorie des „Kapital“ sind vor allem zwei Punkte aufzuklären. Den einen davon haben wir eben bereits berührt, als wir die falschen Vorstellungen erwähnten, die vielfach - sowohl innerhalb des marxistischen Lagers als auch bei den Gegnern - über die Bedeutung des Ursprünglichen Akkumulations-Kapitels im Rahmen der Gesamttheorie des „Kapital“ verbreitet sind. Allgemeiner gesprochen, handelt es sich hier nicht nur um dieses eine Kapitel, sondern im Zusammenhang damit noch um eine ganze Anzahl anderer Abschnitte an verschiedenen Stellen des Kapitalwerkes, die nur nicht zu besonderen Kapiteln ausgewachsen sind. Dazu gehören unter andern der bereits früher erwähnte vierte Unterabschnitt des ersten Kapitels über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“, der dritte Unterabschnitt des 7. Kapitels über „Seniors letzte Stunde“, der sechste Unterabschnitt des 13. Kapitels über die „Kompensationstheorie bezüglich der durch Maschinerie verdrängten Arbeiter“ und die beiden -mit dem Ursprünglichen Akkumulationskapitel am engsten zusammenhängenden - Unterabschnitte des 22. Kapitels über die „irrige Auffassung der Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter seitens der politischen Ökonomie“ und über den „sogenannten Arbeitsfonds“. Alle diese - und noch eine sehr große Anzahl ähnlicher Ausführungen, die in allen Teilen des Kapitals auftreten - haben das Gemeinsame, daß sie in einem engeren Sinn des Worts eine „Kritik“ der politischen Ökonomie darstellen, als dies das ganze Werk gemäß seinem Untertitel auch sonst schon tut. Man erkennt dies schon äußerlich an dem direkten Hinweis auf die „irrige Auffassung“ einzelner Ökonomen (Senior) oder der politischen Ökonomie insgesamt, und an der Bezeichnung der hier untersuchten Gebilde als „Geheimnis“ als etwas „Sogenanntes“, wohinter in Wahrheit etwas ganz Anderes verborgen ist, und ähnlichen Wendungen mehr.
Näher zugesehen, zerfallen diese im engeren Sinne des Worts „kritischen“ Auseinandersetzungen des „Kapital“ wiederum in zwei verschiedenartige Bestandteile von sehr verschiedener Bedeutung. Bei dem einen handelt es sich um eine gewöhnliche „Kritik“ im schulmäßigen Sinne. Das ist überall da der Fall, wo Marx sich und seinen Lesern das Vergnügen bereitet, die scheinwissenschaftlichen theoretischen Seitensprünge eines der späteren, nachklassischen Periode der bürgerlichen Ökonomie angehörigen Gelehrten von seinem überlegenen wissenschaftlichen Standpunkt recht nach Herzenslust zu zerzausen. Hierher gehört z. B. die glänzende Abfertigung der „Theorie“ des bekannten Oxforder Professors Nassau W. Senior über die Bedeutung der „letzten“ Arbeitsstunde im 7. Kapitel (diese Ausgabe S. 222-27) und der von demselben „ernsthaften Gelehrten“ bei einer andern Gelegenheit „entdeckten“, in der bürgerlichen Ökonomie bis zum heutigen Tage fortlebenden „Theorie“ von der sogenannten „Abstinenz“ des Kapitals (diese Ausgabe S.549-511). Diese Teile der ökonomischen Kritik von Marx gehören zu den amüsantesten Abschnitten des Kapital, und verbergen überdies unter ihrer kritisch satirischen Hülle fast immer noch einen beträchtlichen sachlichen Bestand von bedeutungsvollen, hier dem Leser gleichsam „spielend“ beigebrachten Einsichten. Sie gehören trotzdem streng genommen nicht zum Kerngehalt des Kapital, sondern würden ihre Stelle ebensogut in dem von Marx geplanten „vierten Buch“ über die „Geschichte der Theorie“ gefunden haben, von dem er selbst einmal (am 31. Juli 1865) an Engels schreibt, daß es im Gegensatz zu den theoretischen Teilen (den ersten drei Büchern) mehr einen „historisch literarischen“ Charakter haben sollte, und für ihn selbst „relativ der leichteste Teil“ sein würde, da „alle Fragen in den drei ersten Büchern gelöst sind, dies letzte also mehr Repetition in historischer Form ist“.
Einen ganz andren Charakter trägt der zweite der beiden Bestandteile, die wir an den im engeren Sinn „kritischen“ Ausführungen des Kapitals unterschieden haben. Dazu gehören zahlreiche, dem Umfang nach weniger stark hervortretende, aber inhaltlich äußerst wichtige Stellen, wie z. B. die Darstellung des nach den ökonomischen Gesetzen des Warenaustauschs unentscheidbaren Streits über die Schranken des Arbeitstages (in dieser Ausgabe S.228-31), vor allem aber der abschließende Unterabschnitt des I. Kapitels über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ und das abschließende Kapitel des ganzen Werks über „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ und das in ihr verborgene „Geheimnis“. Die Marxsche „Kritik der politischen Ökonomie“, die als ökonomische Theorie mit der begrifflichen Klärung der wirklichen ökonomischen Bewegungs- und Entwicklungsgesetze der modernen bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft einsetzt, und mit strengster wissenschaftlicher Folgerichtigkeit alle über diesen Gegenstand von den großen ökonomischen Theoretikern in der klassischen, d. h. revolutionären Periode der bürgerlichen Entwicklung aufgestellten Sätze bis in ihre letzten theoretischen Konsequenzen verfolgt, sprengt an diesen Stellen am Ende auch noch den Rahmen der ökonomischen Theorie selbst. Wenn über die Entstehung des Kapitals aus dem Mehrwert oder der „unbezahlten Arbeit“ zunächst in den Abschnitten über den Produktionsprozeß, dann in dem Abschnitt über die Reproduktion und Akkumulation alles gesagt ist, was darüber vom ökonomischen Standpunkt gesagt werden kann, so bleibt hierbei schließlich doch immer noch ein ungelöster, letzten Endes „außerökonomischer“ Rest zu klären übrig in Gestalt der Frage: Woher kam, vor aller kapitalistischen Produktion, das erste Kapital und das erste kapitalistische Verhältnis zwischen den ausbeutenden Kapitalisten und den ausgebeuteten Lohnarbeitern? Bis zu dieser Frage hat Marx seine Untersuchung schon wiederholt in der eigentlich ökonomisch theoretischen Darstellung fortgetrieben (vgl. in dieser Ausgabe S. 524, 536, 575), um dann die Untersuchung vorläufig abzubrechen. Auf sie kommt er nun im Schlußkapitel zurück. Seine Kritik zerstört zuerst grausam gründlich die Antwort, die auf diese „letzte Frage“ der bürgerlichen Ökonomie nicht nur von den einfachen interessierten Verteidigern der kapitalistischen Klasseninteressen (den von Marx sogenannten „Vulgärökonomen“), sondern auch von solchen „klassischen Ökonomen“ wie Adam Smith gegeben wird. Er zeigt, daß diese Antwort keinen „ökonomischen“, sondern nur noch einen angeblich geschichtlichen, in Wahrheit einfach legendären Charakter hat. Er geht schließlich seinerseits mit der gleichen grausam gründlichen Sachlichkeit dazu über, die nunmehr „ökonomisch“ ungelöst und völlig offen gebliebene Frage ebenfalls nicht mehr ökonomisch, sondern geschichtlich aufzuklären und sie schließlich überhaupt nicht mehr theoretisch, sondern in Form einer aus der vergangenen und gegenwärtigen Geschichte abgeleiteten, in die Zukunft weisenden Entwicklungstendenz vielmehr praktisch zu lösen. Erst aus dieser Klarlegung der wirklichen Fragestellung des „Ursprünglichen Akkumulations“-Kapitels erklärt sich das wirkliche Verhältnis dieses Schlußkapitels zu den vorhergehenden Teilen des Marxschen Werks und ebenso auch wieder innerhalb dieses Kapitels die Stellung des letzten, siebenten Unterabschnittes, welcher die geschichtliche Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Kapitalsakkumulation mit der „geschichtlichen Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ abschließt. Daraus ergeben sich zugleich die zwingenden methodischen Gründe, aus denen die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ tatsächlich nicht an den Anfang oder in die Mitte, sondern an das Ende des Marxschen Kapitalwerkes gehört. Aus diesen Gründen hat Marx sie dorthin gestellt, und sollte auch der Leser des Marxschen Kapital sie sich bis zum Ende aufheben.
IV
Der andere hier noch aufzuklärende Punkt betrifft den Zusammenhang nicht der einzelnen Abschnitte und Kapitel, sondern der eigentlichen gedanklichen und begrifflichen Entwicklung selbst. Es handelt sich hier zugleich um die einzigen, wirklich größeren Schwierigkeiten, die gewisse, von uns bis jetzt noch nicht näher erörterte Teile des Marxschen Werkes für den ungeschulten und ebenso auch noch für den zwar fachwissenschaftlich, aber nicht zugleich philosophisch geschulten Leser tatsächlich darbieten, und die wohl auch die Hauptschuld tragen an der oft gehörten Klage über die „Schwerverständlichkeit des Kapital“. Die gemeinten Stellen sind vor allem der bereits oben kurz erwähnte dritte Unterabschnitt des ersten Kapitels über die „Wertform“ und einige, damit eng zusammengehörige Teile des 3. Kapitels über das „Geld“, weiterhin, aber in erheblich geringerem Grade, dann auch noch einige andere Stücke, darunter die ebenfalls bereits genannten Kapitel 7, 9 und io in ihrem eigentümlichen Verhältnis zu den oberflächlich gesellen als ihre einfache Wiederholung erscheinenden Kapiteln 14-16 über den „absoluten und relativen Mehrwert“. Die gemeinten Schwierigkeiten hängen samt und sonders zusammen mit der sogenannten „dialektischen Methode“.
Die über die Bedeutung dieser Methode für den Aufbau und die Darstellung des Kapital von Marx selbst im Geleitwort Zur zweiten Auflage (diese Ausgabe S. 42 ff.) gegebenen Erklärungen sind bisweilen, in guter oder böser Absicht, dahin mißverstanden worden, als handle es sich nur darum, daß Marx bei der Ausarbeitung seines Werkes, und besonders im Kapitel über die Werttheorie, mit der eigentümlichen Ausdrucksweise der Hegelschen Dialektik „hie und da kokettiert“ hätte. Sieht man genauer zu, so erkennt man, daß schon die eigenen Erklärungen, die Marx an jener Stelle abgibt, erheblich weitergehen und auf ein volles Bekenntnis zwar nicht zur Hegelisch mystifizierten Schale, wohl aber zu dem rationellen Kern der dialektischen Methode hinauslaufen. So streng empirisch der wissenschaftliche Forscher Marx die volle konkrete Wirklichkeit der ökonomisch gesellschaftlichen und geschichtlichen Sachverhalte aufgenommen hat, so schemenhaft abstrakt und unwirklich erscheinen dem noch nicht durch die strenge Schule der Wissenschaft gegangenen Leser auf den ersten Blick jene äußerst einfachen Begriffe: Ware, Wert, Wertform, in denen die volle konkrete Wirklichkeit des gesamten Seins und Werdens, Entstehung, Entwicklung und Untergang der ganzen gegenwärtigen Produktionsweise und Gesellschaftsordnung als vorläufig unentwickelter Keim von allem Anfang an enthalten sein soll und - nach dem zunächst geheimgehaltenen Wissen des „Demiurgen“ dieses ganzen geistigen Nachschöpfungsaktes der Wirklichkeit -auch tatsächlich, nur für gewöhnliche Augen schwer oder gar nicht erkennbar, bereits enthalten ist.
So steht es vor allem mit dem Begriff des „Werts“. Marx hat diesen Begriff und Ausdruck bekanntlich nicht erfunden, sondern in der klassischen bürgerlichen Ökonomie, besonders bei Smith und Ricardo, fertig vorgefunden. Er hat ihn kritisiert und ihn in ungleich realistischerer Weise als die Klassiker auf die tatsächlich gegebene und sich entwickelnde Wirklichkeit angewendet. Ganz anders als noch bei Ricardo, ist gerade bei Marx die reale, geschichtlich gesellschaftliche Wirklichkeit derjenigen Verhältnisse, die er mit diesem Begriffe ausdrückt, eine unzweifelhafte handgreifliche Tatsache. „Der Unglückliche sieht nicht“, schreibt Marx in einem Briefe von 1868 über einen Kritiker seines Wertbegriffs, „daß, wenn in meinem Buch gar kein Kapitel über den ‚Wert‘ stände, die Analyse der realen Verhältnisse, die ich gebe, den Beweis und den Nachweis des wirklichen Wertverhältnisses enthalten würde. Das Geschwätz über die Notwendigkeit, den Wertbegriff zu beweisen, beruht nur auf vollständigster Unwissenheit, sowohl über die Sache, um die es sich handelt, als die Methode der Wissenschaft. Daß jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen, für ein Jahr, sondern für einige Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind. Ebenso weiß es, daß die den verschiedenen Bedürfnissen entsprechenden Massen von Produkten verschiedene und quantitativ bestimmte Massen der gesellschaftlichen Gesamtarbeit erheischen. Daß diese Notwendigkeit der Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit in bestimmten Proportionen durchaus nicht durch die bestimmte Form der gesellschaftlichen Produktion aufgehoben, sondern nur ihre Erscheinungsweise ändern kann, ist selbstverständlich. Naturgesetze können überhaupt nicht aufgehoben werden. Was sich in historisch verschiednen Zuständen ändern kann, ist nur die Form, worin jene Gesetze sich durchsetzen. Und die Form, worin sich diese proportionelle Verteilung der Arbeit durchsetzt, in einem Gesellschaftszustand, worin der Zusammenhang der gesellschaftlichen Arbeit sich als Privataustausch der individuellen Arbeitsprodukte geltend macht, ist eben der Tauschwert dieser Produkte“.
Nun vergleiche man aber damit die ersten Seiten des Kapital, wie sie sich dem, der von all diesen realistischen „Hintergründen“ des Verfassers noch nichts weiß, zunächst darbieten: Hier werden zwar zunächst einige Begriffe wirklich aus der „Erscheinung“, das heißt aus den Erfahrungstatsachen der kapitalistischen Produktionsweise, aufgenommen, darunter das im Austausch verschiedener Arten von „Gebrauchswerten“ gegeneinander erscheinende quantitative Verhältnis oder der „Tauschwert“. Dieses noch mit einer empirischen Spur behaftete, zufällige Austauschverhältnis der Gebrauchswerte wird aber dann alsbald ausgewechselt gegen ein neues, durch die Abstraktion von den Gebrauchswerten der Waren gewonnenes Etwas, das in diesem „Austauschverhältnis“ der Waren oder ihrem Tauschwert nur erscheint. Erst dieser durch Absehen von der Erscheinung gewonnene „immanente“ oder innere „Wert“ bildet dann den begrifflichen Ausgangspunkt für alle folgenden Ableitungen des Kapital. „Der Fortgang der Untersuchung“, erklärt Marx ausdrücklich, „wird uns zurückführen zum Tauschwert als der notwendigen Ausdrucksweise oder Erscheinungsform des Werts, welcher jedoch zunächst unabhängig von dieser Form zu betrachten ist“ (diese Ausgabe S. 52). Auch nachdem dies geschehen ist, sind wir beileibe noch nicht zu irgend etwas wie einer empirisch unmittelbar gegebenen Erscheinung zurückgelangt, sondern bewegen uns durch eine von Marx mit vollendeter Meisterschaft, als ein unübertroffenes Virtuosenkunststück einer dialektischen Begriffsentwicklung trotz Hegel, durchgeführte Entwicklung der Wertform hindurch bis zur Geldform, um dann erst im vierten, von allen Lichtern funkelnden, aber für den einfachen Leser auch entsprechend schwierigen Unterabschnitt über den Fetischcharakter der Ware das entschleierte Geheimnis zu erfahren, daß eben der „Wert“ nicht gleich dem Warenkörper und den Körpern der Warenbesitzer etwas physisch Wirkliches, auch nicht wie der Gebrauchswert eine einfache Beziehung zwischen einem vorhandenen oder produzierten Gegenstand und einem menschlichen Bedürfnis ausdrückt, sondern vielmehr sich enträtselt als ein „unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis zwischen Personen“, das einer bestimmten geschichtlichen Produktionsweise und Gesellschaftsformation angehört, aber allen früheren geschichtlichen Epochen, Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen in dieser „dinglich verkleideten“ Form völlig unbekannt war und für künftige, nicht mehr auf der Warenproduktion beruhende Produktionsweisen und Gesellschaftsorganisationen auch wieder völlig überflüssig werden wird (diese Ausgabe S. 83ff., besonders S. 88-91).
Die durch dieses Beispiel veranschaulichte Form der Marxschen Darstellung hat nicht nur den wissenschaftlichen und künstlerischen Vorzug einer bezwingenden Eindringlichkeit. Sie ist auch im höchsten Grade angemessen für eine in ihrer Tendenz nicht auf die Erhaltung und Weiterentwicklung, sondern auf die kämpferische Untergrabung und revolutionäre Umwälzung der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gerichtete Wissenschaft. Sie gestattet dem Leser des Kapital keinen Augenblick, im Anblick der unmittelbar erscheinenden Wirklichkeiten und Wirklichkeitszusammenhänge beschaulich auszuruhen, sondern weist überall auf die innere Unruhe in allem Bestehenden hin. Kurzum, sie erweist sich allen andern Methoden der Geschichts- und Gesellschaftsforschung dadurch im höchsten Grade überlegen, daß sie „in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffaßt, sich durch nichts imponieren läßt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist“.
Mit diesem Grundcharakter der Marxschen Darstellungsweise muß sich jeder Leser, der aus dem Kapital nicht nur einige teilweise Einblicke in das Getriebe und die Entwickelungstendenzen der gegenwärtigen Gesellschaft gewinnen, sondern die darin enthaltene Gesamttheorie vollständig und gründlich begreifen will, ein für allemal ab- finden. Man würde sich nur selbst betrügen, wenn man etwa - was an sich nicht völlig undurchführbar wäre -einen „bequemeren“ Zugang zum Kapital dadurch erschließen wollte, daß man es nicht von vorn bis hinten, sondern in gewissem Sinne „rückwärts“ liest. Man würde sich damit allerdings der Mühe entheben, z. B. in dem 9. Kapitel eine Anzahl von „Gesetzen“ über den Zusammenhang von „Rate und Masse des Mehrwerts“ kennenzulernen, die alle nur unter der Voraussetzung gelten, daß von der Möglichkeit des „relativen“ Mehrwerts, der erst im nächsten Kapitel hinzutritt, noch völlig abgesehen wird, um dann nach einer ebenso „abstrakten“ Entwicklung der Gesetze des relativen Mehrwerts in den folgenden Kapiteln schließlich im 14. Kapitel zu erfahren, daß „von einem gewissen Gesichtspunkt der Unterschied zwischen absolutem und relativem Mehrwert überhaupt hinfällig scheint“, indem sich herausstellt, daß „der relative Mehrwert absolut, der absolute Mehrwert relativ ist“, und beide in der Tat nur abstrakte Momente des konkreten wirklichen Mehr-werts - dieses wiederum noch äußerst abstrakten Moments einer letzten Endes zu den wirklichen Erscheinungen der uns umgebenden ökonomischen Wirklichkeit hinsteuernden Entwicklung - darstellen. Aber gerade auf dieser strengen, nichts auslassenden, und nichts aus der oberflächlichen und vorurteilsbehafteten Allerwelts-“Erfahrung“ ungeprüft im voraus annehmenden, Methode beruht der ganze formelle Vorzug der Marxschen Wissenschaft. Streicht man diesen Zug aus dem Kapital ersatzlos weg, so gelangt man in der Tat zu dem von aller Wissenschaftlichkeit befreiten Standpunkt jener von Marx so bitter verspotteten „Vulgärökonomie“, die theoretisch fortwährend „auf den Schein gegen das Gesetz der Erscheinung pocht“ und praktisch am Ende nur die Interessen derjenigen Klasse verteidigt, die sich in der augenblicklichen, unmittelbar gegebenen Wirklichkeit, wie sie ist, gesichert und befriedigt fühlt, ohne etwas davon zu wissen oder wissen zu wollen, daß zu dieser Wirklichkeit als eine tieferliegende, schwerer aufzufassende, aber ganz ebenso wirkliche Gegebenheit auch noch ihre fortwährende Veränderung, Entstehung und Entwicklung, der Untergang ihrer gegenwärtigen Formen und der Übergang zu künftigen neuen Daseinsformen, und das Gesetz all dieser Veränderungen und Entwicklungen mit dazu gehört. Immerhin wird aber auch ein solcher Leser, der sich grundsätzlich dem dialektisch fortschreitenden Gedankengang des „Kapital“ anzuvertrauen bereit ist, vor der Lektüre des 9. Kapitels mit Vorteil einige Seiten des 14. Kapitels im voraus durchblättern, um auf diese Weise doch wenigstens den Weg zu kennen, auf dem sich der im 9. Kapitel und, schärfer zugesehen, noch viel früher begonnene Gedankengang vorwärts bewegt.
Dieses hier an einigen Beispielen dargestellte „dialektische“ Verhältnis zwischen der ersten, ganz abstrakten und den späteren, fortschreitend konkreteren Formen der Behandlung ein und desselben empirischen Gegenstandes oder Verhältnisses, durch welches die im außerwissenschaftlichen Leben sonst für „natürlich“ geltende Reihenfolge der Betrachtung gegebener Wirklichkeiten förmlich umgekehrt oder „auf den Kopf“ gestellt zu sein scheint, gilt für den ganzen Aufbau des „Kapital“. So gibt es, wie Marx wiederholt ausdrücklich erklärt, vor dem I7. Kapitel für seine Untersuchung noch nicht den Begriff des „Arbeitslohns“, sondern nur den Begriff des „Werts“ (und allenfalls noch des Preises) der „Ware Arbeitskraft“; erst im 17.Kapitel wird aus diesem, in der begrifflichen Entwicklung vorausgehenden, Begriff jener andere Begriff des Arbeitslohns „abgeleitet“, der „auf der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft als Preis der Arbeit erscheint“.
Mit dieser „dialektischen“ Darstellungsweise des Kapital hängt endlich auch zusammen der für den nicht dialektisch gebildeten Leser (also tatsächlich für die übergroße Mehrheit aller heutigen Leser ungeachtet der von ihnen sonst etwa besessenen Bildungsgrade) zunächst schwer verständliche Gebrauch, den Marx allenthalten im „Kapital“ wie in seinen sonstigen Werken von dem Begriff und dem Prinzip des „Widerspruchs“, und besonders von dem „Widerspruch“ zwischen dem sogenannten „Wesen“ und der sogenannten „Erscheinung“ macht. „Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“, an diesen Hauptgrundsatz der Marxschen Wissenschaft wird sich der Leser des Kapital ebenso gewöhnen müssen, wie an die ziemlich oft im „Kapital“ vorkommende Bemerkung, daß irgendein „Widerspruch“, der sich an einem dargestellten Begriff oder Gesetz oder Formel, z. B. an dem Begriff des „variablen Kapitals“ auftut, in Wahrheit nichts gegen den Gebrauch dieses Begriffes besage, sondern vielmehr nur „einen der kapitalistischen Produktion innewohnenden Widerspruch ausdrückt“ (diese Ausgabe S. 213). In sehr vielen dieser Fälle zeigt eine nähere Analyse, und bei dem eben herangezogenen Beispiel des „variablen Kapitals“ ist es auch von Marx selber ausgesprochen, daß der vermeintliche „Widerspruch“ in Wahrheit als solcher gar nicht existiert, sondern nur durch eine symbolisch abgekürzte oder aus anderen Gründen mißverständliche Ausdrucksweise vorgetäuscht wird. Wo eine so einfache Beseitigung des Widerspruchs nicht möglich ist, muß sich der antidialektische Gegner der Rede vorn Widerspruch in einem als strenge Wissenschaft auftretenden begrifflichen Ableitungszusammenhang mit dem schon von Mehring in seiner interessanten Studie über den Marxschen Stil in Erinnerung gebrachten Ausspruch Goethes über die Gleichnisse trösten:
„Gleichnisse dürft ihr mir nicht verwehren, Ich wüßte mich sonst nicht zu erklären.“
In der Tat hat der von Marx an vielen wichtigen Stellen seines Werkes angewendete „dialektische“ Kunstgriff, die Gegensätze zwischen dem wirklichen gesellschaftlichen Sein und dem Bewußtsein seiner Träger, das Verhältnis zwischen einer tieferliegenden Haupttendenz und ihren sie vorerst noch kompensierenden oder sogar überkompensierenden „Gegentendenzen“ einer geschichtlichen Entwicklung, und selbst die realen Konflikte der gegeneinander. kämpfenden gesellschaftlichen Klassen als ebenso viele „Widersprüche“ darzustellen, in allen Fällen den Charakter und den Wert eines nicht banalen, sondern tiefe Zusammenhänge erleuchtenden Gleichnisses. Ganz dasselbe gilt auch für den andern, im „Kapital“ weniger oft, aber an entscheidend wichtigen Stellen (z. B. diese Ausgabe S. 298, 464, 538ff., 72o) auftretenden dialektischen Begriff des Umschlagens der Quantität in die Qualität oder eines Begriffes, einer Sache oder eines Verhältnisses in ihr (dialektisches) Gegenteil.
V
Der hier vorgelegten neuen Ausgabe des Marxschen „Kapital“ liegt zugrunde die von Karl Marx herausgegebene zweite Auflage des ersten Bandes vom Jahr 1872. Der Text dieser Auflage ist ohne jede Kürzung grundsätzlich so wiedergegeben, wie ihn Marx selbst 1872 redigiert hat. Er unterscheidet sich daher beträchtlich von den beiden bisher in deutscher Sprache verbreiteten Lesarten: dem von Engels als vierte Auflage 1890 hergestellten, seitdem unverändert abgedruckten Text der Meißnerschen Ausgabe und dem von Kautsky 1914 mit der Unterstützung von Rjasanoff und andern hergestellten Text der Dietzschen Ausgabe. Auch diese beiden Ausgaben sind vom Text der zweiten Auflage ausgegangen, haben diesen Text aber unter ausgiebiger Benutzung der von Marx dafür teils mündlich und brieflich, teils in Form von Notizen in seinem Handexemplar der deutschen Ausgabe von 1872 und der französischen Ausgabe von 1872/75 gegebenen Hinweise, in ziemlich weitgehendem Maße umgestaltet und ergänzt, lange Anmerkungen in den Text versetzt, erläuternde und ergänzende Bemerkungen hinzugefügt und ähnliches mehr. Die jetzt vorgelegte Ausgabe hat sich hierin eine viel größere Beschränkung auferlegt; sie hat insbesondere auch die Abweichungen der in den Jahren 1872 bis 1875, also fast gleichzeitig mit der zweiten deutschen Ausgabe, unter persönlicher Kontrolle von Marx fertiggestellten französischen Ausgabe von dem vollständig von Marx stammenden deutschen Text von 1872 nur in solchen Fällen berücksichtigt, wo dadurch der streng wissenschaftliche Aufbau und die künstlerische Geschlossenheit des letzteren nicht gestört wurde. Für dieses Vorgehen war vor allem die Erwägung maßgebend, daß das „Kapital“ heute, über sechzig Jahre nach seinem Erscheinen und fast fünfzig nach dem Tod seines Verfassers, bereits der Geschichte angehört. Damit ist keineswegs gemeint, daß es eine verminderte Gegenwärtigkeit der Wirkung hätte, wir haben unsere gegenteilige Ansicht weiter oben eindeutig ausgesprochen. Aber die Art, wie das „Kapital“ heute wirkt, ist doch eine andere geworden, als vor 4o Jahren und auch noch vor 20 Jahren. Es hat daher heute z. B. auch keinen Sinn mehr, den ursprünglichen Marxschen Text des Kapital in irgendeinem Punkte den erst in einer späteren Entwicklung hervorgetretenen neuen Tatsachen so viel als möglich „anpassen“ zu wollen. An der gewaltigen prophetischen Kraft der Marxschen Darstellung der Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Produktionsweise kann heute ohnedies kein vernünftiger Mensch mehr zweifeln, und diese Prophetie wirkt am allerstärksten in der Form, in der sie von Marx selbst ursprünglich ausgesprochen worden ist. Wenn also die ebenfalls von Marx autorisierte französische Ausgabe zweifellos in mancher Hinsicht, z. B. in der Darstellung der Konzentrationsbewegung des Kapitals (im zweiten Unterabschnitt des 23. Kapitels) moderner erscheint als die, gegenüber der ersten Auflage weniger veränderte, zweite deutsche Auflage, so braucht dieser Umstand für sich allein genommen noch nicht für die französische Fassung zu entscheiden. Es bleibt zu untersuchen, ob dieser Vorzug nicht - in dem genannten Fall oder auch in andern Fällen - erkauft ist durch die Preisgabe anderer Vorzüge, die wiederum der deutschen Ausgabe eigentümlich sind, ob nicht z. B., wie dies ziemlich häufig der Fall ist, durch die ausführliche Behandlung von Nebenpunkten und Polemik gegen französische Sozialisten und Ökonomen die für den deutschen Text charakteristische bezwingende Einheitlichkeit der Gedankenentwicklung in allzu hohem Grade aufgelockert wird. Wir haben daher für unsere Ausgabe den französischen Text zwar ebenfalls berücksichtigt, haben aber von den dadurch oder durch andere Abweichungen der späteren Engelsschen Auflagen von dem Marxschen Originaltext der zweiten Auflage nahegelegten Abänderungen und Ergänzungen vielfach auch dann Abstand genommen, wenn diese Änderungen sich, einzeln betrachtet, in einer von Marx selbst vorgezeichneten oder zugelassenen Richtung bewegten. Wir glauben, daß auf diese Weise im ganzen eine treuere Wiedergabe des ursprünglichen Marxschen Gesamtgedankens und seiner Form erzielt worden ist.
Die gleichen grundsätzlichen Erwägungen gelten auch für die Behandlung der dem „Kapital“ bekanntlich in überaus großer Anzahl beigefügten kürzeren und längeren, zum Teil viele Seiten langen Fußnoten. Auszuscheiden waren demnach aus diesen Fußnoten zunächst grundsätzlich alle zu dem ursprünglichen Text nachträglich hinzugefügten Bemerkungen, die auf später geänderte Verhältnisse hinweisen. Diese Bemerkungen sind in ihrer bisherigen Form entweder überflüssig oder nicht mehr ausreichend. So konnte es wohl bis zur Jahrhundertwende oder sogar bis zum Ausbruch des Weltkrieges einen Sinn haben, die von Marx im 8. und 13. Kapitel seines Werkes bis zum Jahre 1866 durchgeführte und mit einem allgemeinen Ausblick auf die weitere Entwicklung abgeschlossene Darstellung der englischen Fabrikgesetzgebung in mehr oder minder kurzen Fußnoten über diesen Termin hinaus fortzusetzen, wie dies zunächst von Marx in einer Note zur zweiten Auflage begonnen, dann von Engels und später von Kautsky weiter fortgesetzt worden ist. Dagegen muß man heute auf solche ergänzenden Zusätze entweder verzichten, oder man müßte sie zu einem solchen Umfang anwachsen lassen, daß dadurch der ganze Rahmen der Marxschen Darstellung gesprengt würde. Kein Vernünftiger wird die Weiterentwicklung der englischen Fabrikgesetzgebung im letzten Drittel des 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den Fußnoten des Marxschen Kapital von 1867/72 studieren wollen.
Nach Ausscheidung dieser Gruppe bleiben noch drei Gruppen von Fußnoten übrig. Die erste besteht aus rein formellen Belegstellen und vielfach interessanten, für das Verständnis des Textes aber vollkommen entbehrlichen streitbaren Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen. „Vulgärökonomie“. Von diesem ganzen gelehrten Apparat konnte das meiste ohne Schaden weggelassen werden; erhalten blieben aber auch hier, soweit als möglich, die besonders glücklichen Formulierungen und die erlesensten Proben des eigentümlichen sarkastischen Humors, mit dem Marx bei solchen Gelegenheiten die von ihm dafür auserkorenen Subjekte zu erledigen pflegte.
Wenn durch die Weglassung dieses bloßen „gelehrten Apparats“ eine gewisse Entlastung von überflüssigem Material herbeigeführt werden konnte, so durfte hierdurch doch keinesfalls die zuverlässige und vollständige Erreichung eines andern Zweckes beeinträchtigt werden, den sich Marx nach dem Bericht von Engels bei seinen theoretischen Fußnoten gesetzt hatte. Dieser Zweck bestand darin, in allen Fällen, wo eine ökonomische Vorstellung für die Geschichte der Wissenschaft Bedeutung hat, festzustellen, wo, wann und von wem ein solcher im Lauf der Entwicklung sich ergebender Gedanke zuerst klar ausgesprochen worden ist. Wenn Marx auf diese Weise nach Engels in den Fußnoten des ersten Bandes bereits, eine Aufgabe des „vierten Buches“ vorwegnehmend, einen „der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft entlehnten laufenden Kommentar zum Text“ hergestellt und darin „die einzelnen wichtigeren Fortschritte der ökonomischen Theorie nach Datum und Urheber festgestellt“ hat, so war dieser wichtige Bestandteil des Werks unter allen Umständen festzuhalten. Der Leser mag sich also nicht darüber verwundern, wenn er in dieser Ausgabe vielfach auch ganz kurze Hinweise auf diesen oder jenen Namen oder Buchtitel antreffen wird, die für eine bloß zum Lesen, nicht für streng fachwissenschaftliche Forschungsarbeit bestimmte Ausgabe entbehrlich scheinen könnten. In all diesen Fällen handelt es sich darum, jene fortlaufenden Angaben über die wirkliche Geschichte der politisch-ökonomischen Wissenschaft, die Marx mit seiner umfassenden Gelehrsamkeit und seiner bei unverschleierter Parteilichkeit tiefen wissenschaftlichen Objektivität dem „Kapital“ einverleibt hat, auch für den nicht fachlich interessierten Leser erkennbar zu machen.
Schließlich mußten selbstverständlich auch alle Fußnoten, welche keine bloß formellen, sondern sachlich inhaltliche Belege und Ergänzungen zum Text enthalten, also statistische und geschichtliche Daten, tiefe philosophische Einsichten und dergleichen, entweder ungekürzt oder mit unerheblichen Kürzungen erhalten bleiben. Formell unterscheidet sich unsere Behandlung der Fußnoten von der anderer Ausgaben dadurch, daß die Fußnoten kapitelweise durchnumeriert sind; die abschnittsweise Durchnumerierung bei Engels und Kautsky erklärt sich historisch aus der Tatsache, daß in der ersten Marxschen Auflage von 1867 die späteren „Kapitel“ noch nicht existierten, sondern die jetzigen großen „Abschnitte“ als Kapitel auftraten. Innerhalb jedes Kapitels wird jedes Buch bei seiner ersten Erwähnung genau, bei späteren Erwähnungen nur noch abgekürzt bezeichnet. Die wenigen, vom Herausgeber hinzugefügten Noten sind zum Unterschied von den Marxschen nicht durch eine fortlaufende Nummer, sondern durch das Zeichen *) kenntlich gemacht.
Schließlich ist noch ein Wort hinzuzufügen über die besondere Lösung des Übersetzungsproblems. Wie bereits weiter oben erwähnt, sind in dieser Ausgabe des „Kapital“ alle nicht von selbst verständlichen Fremdwörter entweder im Text verdeutscht oder in dem als Anhang beigefügten Fremdwörterverzeichnis erklärt. Alle fremdsprachlichen Zitate in Text und Fußnoten sind übersetzt, und darüber hinaus auch die Titel der zitierten Schriften in deutscher Sprache wiedergegeben, womit wir die Brauchbarkeit des Werkes für Leser ohne fremdsprachliche Bildung erhöht zu haben glauben. Wer an dem genauen Titel einer fremdsprachlichen Schrift interessiert ist, findet ihn in dem als weiterer Anhang beigefügten Verzeichnis der zitierten Werke.
Eine beträchtliche „Übersetzungsarbeit“ war schließlich noch an einer Stelle zu leisten, wo man sie zunächst nicht erwarten sollte. Ein erheblicher Bruchteil des Kapital und besonders der Kapitel 8 und 13 besteht aus den von Marx in deutscher Übersetzung angeführten Stellen aus den amtlichen englischen „Blaubüchern“; in allen Kapiteln werden im Text und in den Fußnoten zahlreiche Stellen aus fremdsprachlichen Quellenwerken in deutscher Übersetzung angeführt. Eine vollständige Nachprüfung aller dieser Zitate ist von Marx' jüngster Tochter Eleanor für die englische Ausgabe 1887 durchgeführt worden. Sie hat nach Engels' Bericht sämtliche angeführten Stellen mit den Originalen verglichen und in den bei weitem vorwiegenden Zitaten aus englischen Quellen für die Marxsche Übersetzung den englischen Originaltext eingesetzt. Hierbei ergaben sich natürlich gewisse Unstimmigkeiten, da es auch bei einem so gründlichen Quellenforscher, wie Karl Marx, unvermeidlich war, daß von der ungeheuren Menge mehr oder weniger umfangreicher Zitate, die er sich zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten aus den verschiedenen Auflagen, anfangs zuweilen auch aus den französischen Übersetzungen der englischen Originale, herausgezogen und in deutscher, französischer, englischer oder irgendeiner anderen bzw. mehreren durcheinander gemischten Sprachen aufbewahrt hatte, schließlich eine gewisse Anzahl nicht mehr genau mit den Quellen übereinstimmte. Es handelt sich dabei nicht so sehr um sachlich wichtige Irrtümer, als um eine beträchtliche Anzahl kleiner und kleinster Ungenauigkeiten, die aber in ihrer Gesamtheit schließlich doch sehr störend wirken. Friedrich Engels und nach ihm Kautsky haben diese in der englischen Ausgabe des Kapital von 1887 enthaltenen englischen Originaltexte in ihren späteren Ausgaben mit Recht überall zu Rate gezogen. Sie sind aber nach unserer Meinung hierbei, und ebenso bei der Ausmerzung der bei Marx selber fortwährend unterlaufenden Anglizismen, entschieden noch nicht weit genug gegangen, was bei Engels darauf zurückzuführen sein mag, daß er in seinen späteren Jahren an die englische Sprache so gewöhnt war, daß ihm die Marxschen Anglizismen meist überhaupt nicht mehr auffielen, während sie von vielen späteren Marxisten bis zum heutigen Tage vielfach als besondere Leistungen der Marxschen sprachschöpferischen Kraft bewundert wurden. In Wirklichkeit besteht diese sprachschöpferische Kraft bei Marx allerdings und verleiht seinen Werken einen Teil der ursprünglichen und starken Wirkung, die sie auf jeden empfänglichen Leser ausüben. Die sprachschöpferische Kraft Marxens besteht aber keinesfalls in jenen falschen Übersetzungen und ganz unmöglichen Sprachvermischungen. Hier kam es also darauf an, einen energischen Schritt vorwärts zu tun und, ohne die geringste Beeinträchtigung des eigentümlichen Marxschen Stils, die für den heutigen Leser irreführenden und in manchen Fällen sogar eindeutig falschen oder unverständlichen Wendungen in richtiges Deutsch zu übersetzen. Wir hoffen, mit der Durchführung dieses und der andern bereits erörterten Grundsätze unserm Ziele, der Schaffung einer zugleich treuen und für jedermann lesbaren Ausgabe des Marxschen „Kapital“, einen Schritt nähergekommen zu sein.
Außer den bereits erwähnten und einigen andern, zur Erhöhung der praktischen Brauchbarkeit des „Kapital“ bestimmten Anhängen (Verzeichnis der Eigennamen, Erklärung der im Kapital vorkommenden englischen Münzen, Maße und Gewichte) ist dieser Ausgabe noch ein theoretisch wichtiger Anhang hinzugefügt. Anhang I enthält den berühmten Rechenschaftsbericht, den Karl Marx im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ 1859 über den Gang seiner bisherigen politisch-ökonomischen Studien und ihr allgemeines Ergebnis erstattet hat. Dieser autobiographische Bericht gibt die tiefsten Einblicke in das Werden des ökonomischen und gesellschaftskritischen Forschers Marx, und in die Grundzüge jener materialistischen Geschichtsansicht, zu der sich der ehemalige Hegelsche Idealphilosoph und demokratisch revolutionäre Idealpolitiker Karl Marx um die Mitte der vierziger Jahre durchgearbeitet hatte und die er dann von 1845 ab gemeinschaftlich mit Friedrich Engels weiter ausgearbeitet hat bis zu jener vollkommen ausgereiften Form, in der er sie im Jahre 1859 vorläufig abschließend formulierte. Man findet hier ausdrücklich bestätigt, was inhaltlich „Das Kapital“ auch ohnedies beweist, wie weltenweit der Begründer der materialistischen Geschichtsauffassung davon entfernt gewesen ist, aus seinem neuen Prinzip irgend etwas wie eine an die wirkliche Geschichte von außen herangebrachte „allgemeine geschichtsphilosophische Theorie“ zu machen. Ganz ähnlich wie es Marx für seinen Wertbegriff ausgesprochen hat, gilt es auch für die Marxsche Geschichtsauffassung, daß sie von ihrem Urheber niemals als dogmatisches Prinzip betrachtet worden ist, sondern lediglich als ein neuer, brauchbarerer Zugang zur Erforschung der für den handelnden und denkenden Menschen sinnlich wirklich und praktisch gegebenen Erfahrungswelt. Schon vor 5o Jahren hat Marx zur Abwehr einer mißverständlichen Auffassung der Methode des Kapital durch den idealistischen russischen Soziologen Michailowsky erklärt, daß das Kapital und besonders sein im letzten Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ zusammengefaßtes Ergebnis weiter nichts sein sollte als ein geschichtlicher Abriß der Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus im westlichen Europa. Darüber hinaus haben die im Kapital aufgestellten Sätze Allgemeingültigkeit nur in dem Sinn, wie jede tiefere erfahrungsmäßige Erkenntnis einer natürlichen oder geschichtlichen Gestalt in ihrer Geltung über diesen Einzelfall hinausgreift. In welch hohem Grade die wissenschaftlichen Theorien des Kapital diese, die einzige mit den Grundsätzen einer strengen Erfahrungswissenschaft verträgliche Gültigkeit in der Tat besitzen, hat zu einem Teil schon die bisherige Entwicklung aller europäischen und auch schon einiger außereuropäischer Länder gezeigt und wird zum andern Teil die Zukunft lehren.
Berlin, 28. April 1932
Karl Korsch
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Ähnliches:
„Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels, ‚Der Fetischcharakter der Ware etc.‘, ist grossenteils verändert.“
„Die Untersuchungsmethode, deren ich mich bedient habe (…), macht die Lektüre der ersten Kapitel ziemlich schwierig...“
London, 18. März 1872 An den Bürger Maurice La Châtre Werter Bürger!
„…auf mich fiel nun die Pflicht, die Herausgabe sowohl dieser dritten Auflage wie des handschriftlich hinterlassenen zweiten Bandes zu besorgen.“
Es war Marx nicht vergönnt, diese dritte Auflage selbst druckfertig zu machen. Der gewaltige Denker, vor dessen Größe sich jetzt auch die Gegner neigen, starb am 14. März 1883.
„‚Das Kapital‘ wird auf dem Kontinent oft ‚die Bibel der Arbeiterklasse‘ genannt.“
Die Veröffentlichung einer englischen Ausgabe des „Kapital“ bedarf keiner Rechtfertigung. Im Gegenteil, es kann eine Erklärung darüber erwartet werden, warum diese englische Ausgabe bis jetzt verzögert worden ist, wenn man sieht, daß seit einigen Jahren die in diesem Buch vertretenen Theorien in der periodischen Presse und Tagesliteratur sowohl Englands wie Amerikas ständig erwähnt, angegriffen und verteidigt, erklärt und mißdeutet wurden.