„Zweifellos das tiefste und revolutionärste Werk der Weltliteratur.“

Vorrede des Marx-Engels-Lenin-Instituts von Vladimir Viktorovic Adoratskij, Verlag für Literatur und Politik Wien, 1932

 I.

Die deutsche Volksausgabe des „Kapital“ erscheint kurz vor dem 50. Todestag von Karl Marx, fünfundsechzig Jahre nach dem Erscheinen des I. Bandes. Niemals ist die welthistorische Be­deutung dieses Werkes klarer zutage getreten als heute. Die Geschichte dieses halben Jahrhunderts hat gezeigt, mit welch un­widerstehlicher Gewalt sich die von Marx entdeckten Bewegungs­gesetze der kapitalistischen Produktionsweise durchsetzen.

„Als Marx vor einem halben Jahrhundert sein ‚Kapital‘ schrieb, hielten die meisten Oekonomen die freie Konkurrenz für ein ‚Naturgesetz‘. Die offizielle Wissenschaft versuchte das Werk von Marx totzuschweigen, der durch seine theoretische und geschichtliche Analyse des Kapitalismus bewies, daß die freie Konkurrenz die Konzentration der Produktion erzeugt, diese Konzentration aber auf einer gewissen Stufe ihrer Ent­wicklung zum Monopol führt. Das Monopol ist jetzt zur Tat­sache geworden. Die Oekonomen schreiben Berge von Büchern, in denen sie die einzelnen Erscheinungen des Monopols schil­dern, während sie nach wie vor einstimmig verkünden, daß ‚der Marxismus widerlegt‘ sei.“

Diese Worte Leninsaus dem Jahre 1916 [1] treffen auch für das von Marx entdeckte allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation vollkommen zu. Nicht nur die offizielle Wissen­schaft und die Revisionisten, sondern auch die sog. „ortho­doxen Marxisten“ der alten II. Internationale — von den „Theoretikern“ des modernen Sozialfaschismus gar nicht zu reden — haben den Marxschen Satz bestritten, daß „imMaße wie das Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, wel­ches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlech­tern muß“.Die Tatsachen aber, sogar das Material der amtlichen bürgerlichen Statistik, haben ihn bestätigt,besonders klar —auch in den reichsten imperialistischen Staaten — seit Ende der neunziger Jahre, mit vernichtender Wucht in der Nachkriegs­epoche, der Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus, und in der gegenwärtigen tiefen Weltwirtschaftskrise.

„Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalisti­schen Hülle. Sie wird gesprengt.“

Dieser Punkt, den Marx in den sechziger Jahren voraus­gesagt, ist erreicht worden etwa um die Jahrhundertwende, als der Imperialismus in Europa, Amerika und Asien völlig reif geworden war. „Der Imperialismus — sagt Leninin dem oben zitierten Werk — ist der Kapitalismus auf einer Entwicklungsstufe, auf der die Herrschaft der Monopole und des Finanzkapitals sich herausgebildet , der Kapitalexport eine hervorragende Bedeutung gewonnen, die Verteilung der Welt durch die internationalen Trusts begonnen hat und die Aufteilung des gesamten Territo­riums der Erde zwischen den größten kapitalistischen Ländern abgeschlossen ist.“ Der Imperialismus ist parasitärer und ster­bender Kapitalismus. Gegen die Opportunisten, die behaupten, daß er die Widersprüche des Kapitalismus aufhebe oder ab­schwäche, hebt Lenin hervor, daß „die Monopole die freie Kon­kurrenz, aus der sie erwachsen nicht beseitigen, sondern über und neben ihr fortbestehen und somit eine Reihe besonders kras­ser und schroffer Widersprüche, Reibungen und Konflikte er­zeugen.“ (Sämtliche Werke, Bd. XIX, S. 168.)

Marxschrieb in der Epoche der freien Konkurrenz, zur Zeit der Herrschaft des industriellen Kapitals. Er hat die Epoche des Monopols, der Herrschaft des Finanzkapitals nichtmehr erlebt. Aber er hat sie vorausgesehen. Er hat die grundlegenden Bewegungsgesetze des Kapitals entdeckt und dargestellt, und damit die Tendenzen aufgezeigt, die zum modernen Imperialismus führ­ten; er hat einige seiner wichtigsten Erscheinungen vorhergesagt. So hat Marx im „Kapital“ von der neuen Rolle des Bankkapitals gesprochen und den stagnierenden und parasitären Charakter des Monopols festgestellt. Er hat am Beispiel Englands, das im Besitze des industriellen Monopols war, die Wirkung des Para­sitismus auf die Arbeiterklasse, die Bildung einer Arbeiter-Aristo­kratie, die Spaltung der Arbeiterbewegung, verfolgt und die öko­nomischen Wurzeln des neueren Opportunismus entdeckt. Marx hat an Hand der Analyse des Widerspruchs der damals neuen Form der Aktiengesellschaft eine glänzende Ankündigung des modernen Finanzkapitals gegeben und das Monopol als sterben­den Kapitalismusgekennzeichnet, als „einen notwendigen Durch­gangspunkt zur Rückverwandlung des Kapitals in Eigentum der Produzenten“ [2].

Nach Marx' Tode hat Engelsbei der Herausgabe des III. Bandes des „Kapital“, in der 4. Auflage der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ und in seiner Kritik des Entwurfs zum Erfurter Programm einige konkrete Formen des monopolistischen Kapitalismus im ersten Stadium ihrer Entwicklung festgestellt: Kartelle und Trusts, internationale Kartelle.

Marx und Engels haben die Entwicklung vorausgesehen. Aber die marxistische Analyse des neuen Stadiums des Kapitalismus, des „sterbenden Kapitalismus“, konnte erst Leningeben. Lenin hat in einer Reihe grundlegender ökonomischer Arbeiten, von der „Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“ (1897), der „Agrarfrage und die Marxkritiker“ (1901) bis zu dem Werk „Neue Daten über die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus in der Landwirtschaft“ (1914/15), die Arbeit dort aufgenom­men und weitergeführt, wo Marx seine im „Kapital“ nieder­gelegten Untersuchungen abbrechen mußte. Seit Beginn des Jahrhunderts, vor allem aber nach der Revolution von 1905/07 analysiert er in einer großen Zahl von Aufsätzen und Broschüren die Erscheinungen des monopolistischen Kapita­lismus und gibt schließlich in dein Buche „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ und den umfangreichen Vorarbeiten dazu die Theorie des Imperialismus.Hier — wie in seiner gesamten Tätigkeit — stellt Lenin die Marxsche Theorie wieder her, reinigt sie von der Verfälschung und Ver­flachung durch die Revisionisten und Zentristen der II. Inter­nationale, konkretisiert sie und entwickelt sie weiter.indem er sie mit vollendeter Meisterschaft auf die neue historische Epoche anwendet. „Der Leninismus ist — nach dem bekannten Wort Stalins —der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Genauer gesagt: der Leninismus ist die Theorie und die Taktik der proletarischen Revolution im allgemeinen, die Theorie und Taktik der Diktatur des Prole­tariats im besonderen.“

Aber nicht nur theoretisch hat Lenin das Vermächtnis von Marx vollstreckt, das Marxsche „Kapital“ fortgeführt.

Die Bewegungsgesetze der kapitalistischen Produktionsweise sind zugleich die Gesetze ihres Untergangs. Aber sie vollziehen sich nicht automatisch, nicht neben den lebenden Menschen und über ihren Kopf. Sie werden vollstreckt vom Proletariat,durch den Klassenkampf, durch „die Empörung der stets anschwellen­den und durch den Mechanismus des kapitalistischen Pro­duktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“. Am Vorabend der Revolutionen von 1848/49 hat Marx im „Manifest der Kommunistischen Partei“ die Auf­gabe des Proletariats proklamiert: „Sturz der Bourgeoisie. herrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Pro­letariat“ als Mittel zur „gewaltsamen Aufhebung der alten Pro­duktionsverhältnisse, der Existenzbedingungen des Klassengegen­satzes und damit der Klassen überhaupt“, Verwirklichung desKommunismus.In denselben Jahren, da Marx sein „Kapital“ schrieb, hat er die gigantische Arbeit der Gründung und Leitung der I. Internationale geleistet und damit das Fundament gelegt für die internationale Organisation des revolutionären Pro­letariats. Auf Grund der Pariser Kommune, der ersten — wenn auch nur für kurze Zeit — siegreichen proletarischen Revolution, in deren vordersten Reihen die Anhänger der I. Internationale kämpften, hat Marx das Programm der Diktatur des Prole­tariats konkret weiterentwickelt. Aber noch war das Ende des Kapitalismus nicht voll herangereift, noch „war die proletarische Revolution keine direkte, praktische Unvermeidlichkeit“ (Stalin). Dies tritt erst ein in der Epoche des Imperialismus. Nun hat sich in allen entwickelten kapitalistischen Ländern — wie das Kommunistische Manifest vorausgesagt — „der mehr oder minder versteckte Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesell­schaft bis zu dem Punkt entfaltet, wo er in eine offene Re­volution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bour­geoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet“. Der Schwer­punkt der internationalen Arbeiterbewegung hat sich nach Ruß­land verschoben. Hier, an ihrer schwächsten Stelle, wird die Kette des Kapitalismus zuerst gesprengt. Nach der historischen „Generalprobe“ von 1905 und dem Sturz des Zarismus im Februar hat im Oktober 1917 das russische Proletariat unter der Führung der Bolschewiki, unter der Führung Lenins,die Bour­geoisie gestürzt, die Diktatur des Proletariats errichtet und die „Expropriateurs expropriiert“. Die russische Revolution ist zum Auftakt und Stützpunkt der internationalen Revolution geworden.

Heute teilt sich die Erde in zwei Herrschaftsgebiete zweier Produktionsweisen, in zwei Welten,die in erbittertem Kampf gegeneinander stehen: die alte Welt des untergehenden Kapitalis­mus und die neue Welt des aufsteigenden Sozialismus in der Sowjetunion.

Während die tiefste und verheerendste aller bisherigen Krisen die kapitalistische Welt schüttelt, ein Heer von Millionen Arbeits­losen dem Hunger überliefert ist, baut das Proletariat der Sowjet­union als Vorkämpfer der Arbeiter aller Länder den Sozialismus auf. Während in der kapitalistischen Welt unter den Schlägen des Klassenkampfes die teilweise relative Stabilisierung zu­sammengebrochen ist und eine neue Reihe von Kriegen und Revolutionen herannaht, hat das Proletariat der Sowjetunion dasFundament der sozialistischen Oekonomie vollendet.Unterstützt von den revolutionären Arbeitern der kapitalistischen Länder, die das Land des Sozialismus gegen die drohende Gefahr der imperia­listischen Intervention verteidigen, geht es an den zweiten Fünf­jahrplan, dem die XVII. Parteikonferenz der Kommunistischen Partei der Sowjetunion die welthistorische Aufgabe gestellt hat: „Endgültige Liquidierung der kapitalistischen Elemente und Klassen überhaupt, völlige Vernichtung der Ursachen, die die Klassenunterschiede und die Ausbeutung gebären, Ueberwindung der Ueberreste des Kapitalismus in der Wirtschaft und im Bewußtsein der Menschen, Verwandlung der gesamten werk­tätigen Bevölkerung des Landes in bewußte und aktive Erbauer der klassenlosen sozialistischen Gesellschaft.“

In dieser, trotz aller Schwierigkeiten und zeitweisen Nieder­lagen, siegreichen Entfaltung des Klassenkampfs des inter­nationalen Proletariats im letzten halben Jahrhundert hat das „Kapital“ eine gewaltige, stets wachsende Rolle gespielt. Im Vorwort zur englischen Ausgabe schildert Engels seine Wirkung auf die europäische Arbeiterbewegung. Heute beherrscht die im „Kapital“ entwickelte Theorie unbestritten die revolutionäre Ar­beiterbewegung der ganzen Welt.Das „Kapital“ ist nicht nur das grundlegende Werk für die Propaganda des Marxismus, es ist eine der schärfsten theoretischen Waffen des Kampfes um die Diktatur des Proletariats, die Grundlage des Programms der Kommunistischen Internationale, ein mächtiges Werkzeug für den Aufbau des Sozialismus auf einem Sechstel der bewohnten Erde.

II.

Marx hat die wissenschaftliche Bedeutung des „Kapital“, vor allem des I. Bandes, kurz nach Abschluß der Druckkorrektur in seinem Brief an Engels vom 24. August 1867 folgendermaßen zusammengefaßt:

„Das beste an meinem Buche ist 1. (darauf beruht allesVer­ständnis der facts [Tatsachen]) der gleich im erstenKapitel her­vorgehobne Doppelcharakter der Arbeit,je nachdem sie sich in Gebrauchswert oder Tauschwert ausdrückt; 2. Die Behandlung des Mehrwerts, unabhängig von seinen besondrenFormen als Profit, Zins, Grundrente etc.“

Einige Monate darauf führt er anläßlich der Rezension des eben erschienenen I. Bandes durch Dühring diesen Gedanken weiter aus und nennt als drittes der „drei grundneuen Elementedes Buchs“,daß „zum erstenmal der Arbeitslohn als irrationelle Erscheinungsform eines dahinter versteckten Verhältnisses dar­gestellt und dies genau an den beiden Formen des Arbeitslohns: Zeitlohn und Stücklohn, dargestellt wird.“ (Brief an Engels vom 8. Januar 1868.)

Eine ausführlichere Zusammenfasssung der entscheidenden wissenschaftlichen Entdeckungen von Marx auf dem Gebiete der politischen Oekonomie hat Engels1885 im Vorwort zum II. Band gegeben, in seiner Polemik gegen die lächerlichen Beschuldigun­gen der deutschen Vulgärökonomen, Marx habe Rodbertus pla­giiert.

„Marx .… untersuchte die Arbeit auf ihre wertbildende Qua­lität — schreibt Engels — und stellte zum erstenmal fest, welche Arbeit, und warum, und wie sie Wert bildet, und daß Wert überhaupt nichts ist als festgeronnene Arbeit dieserArt — ein Punkt, den Rodbertus bis zuletzt nicht begriffen hat. Marx unter­suchte dann das Verhältnis von Ware und Geld, und wies nach, wie und warum, kraft der ihr innewohnenden Werteigenschaft, die Ware und der Warenaustausch den Gegensatz von Ware und Geld erzeugen muß; seine hierauf gegründete Geldtheorie ist die erste erschöpfende und jetzt stillschweigend allgemein akzeptierte. Er untersuchte die Verwandlung von Geld in Kapital, und be­wies, daß sie auf dem Kauf und Verkauf der Arbeitskraft beruhe. Indem er hier die Arbeitskraft, die wertschaffende Eigenschaft,. an die Stelle der Arbeit setzte, löste er mit einem Schlag eine der Schwierigkeiten, an der die Ricardosche Schule zugrunde gegan­gen war: die Unmöglichkeit, den gegenseitigen Austausch von Kapital und Arbeit in Einklang zu bringen mit dem Ricardoschen Gesetz der Wertbestimmung durch Arbeit. Indem er die Unter­scheidung des Kapitals in konstantes und variables konstatierte, kam er erst dahin, den Prozeß der Mehrwertbildung in seinem wirklichen Hergang bis ins einzelnste darzustellen, und damit zu erklären — was keiner seiner Vorgänger fertig gebracht; konsta­tierte er also einen Unterschied innerhalb des Kapitals selbst, mit dem Rodbertus ebensowenig wie die bürgerlichen Oekonomen imstande waren das geringste anzufangen, der aber den Schlüssel zur Lösung der verwickeltsten ökonomischen Probleme liefert, wovon hier wieder Buch II — und noch mehr, wie sich zeigen wird, Buch III — der schlagendste Beweis. Den Mehrwert selbst untersuchte er weiter, fand seine beiden Formen: absoluter und relativer Mehrwert, und wies die verschiedne, aber beidemal ent­scheidende Rolle nach, die sie in der geschichtlichen Entwick­lung der kapitalistischen Produktion gespielt. Auf Grundlage des Mehrwerts entwickelte er die erste rationelle Theorie des Ar­beitslohns, die wir haben, und gab zum ersten Mal die Grund­züge einer Geschichte der kapitalistischen Akkumulation und eine Darstellung ihrer geschichtlichen Tendenz.“

Schließlich weisen wir hin auf die im Briefwechsel — be­sonders des Jahres 1868 — enthaltenen glänzenden zusammen­fassenden Darstellungen des theoretischen Inhalts des Werkes sowie einzelner Fragen der politischen Oekonomie. Besonders wichtig ist der Brief an Kugelmannvom 11. Juli 1868 (der im Anhang zum I. Band dieser Ausgabe folgt). Leninhat im Jahre 1907, in seinem Vorwort zur russischen Ausgabe der Kugelmann­briefe, über diesen Brief geschrieben:

„Hervorragendes Interesse für die erweiterte und vertiefte Kenntnis des Marxismus bietet der Brief vom 11. Juli 1868. In Form polemischer Bemerkungen gegen die Vulgärökonomen setzt hier Marx seine Auffassung der sogenannten „Arbeitswerttheo­rie“ außerordentlich prägnant auseinander. Gerade diejenigen Einwände gegen die Marxsche Werttheorie, die bei den am wenig­sten geschulten Lesern des „Kapital“ am ehesten auftauchen, und daher von den Dutzendvertretern der „professoralen“, bürger­lichen „Wissenschaft“ am beharrlichsten unterstützt werden, wer­den hier von Marx kurz, einfach und außerordentlich klar analy­siert. Marx zeigt hier, welchen Weg er einschlug und welcher Weg eingeschlagen werden muß, um zur Erklärung des Wert­gesetzes zu gelangen. Er lehrt uns seine Methode an Hand der aller-gewöhnlichsten Einwände verstehen. Er beleuchtet die Verbindung eines scheinbar so rein theoretischen und abstrakten Problems, wie die Werttheorie, mit den „Interessen der herrschenden Klas­sen“, die „die Verewigung der Konfusion“ fordern. Es wäre nur zu wünschen, daß jeder, der sich in Marx zu vertiefen und das „Kapital“ zu lesen beginnt, gleichzeitig mit dem Studium der ersten und schwierigsten Kapitel des „Kapital“ auch den von uns erwähnten Brief immer wieder lese.“ („Briefe an Kugel­mann“, Berlin 1927, S. 6.)

Lenin weist hier auf die Rolle des Klassenkampfsin der poli­tischen Oekonomie und damit auf einen entscheidenden Grund­zug des Marxismus hin. Die umwälzende Bedeutung des „Kapi­tal“ liegt nicht einfach darin, daß es tiefer, umfassender, rich­tiger die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise darstellt als die klassische Oekonomie. Marx hat die klassische Oekonomie vollendet, indem er sie überwand, er hat der Oekonomie derBourgeoisie die Oekonomie des Proletariats gegenübergestellt.Marx betritt das Gebiet der politischen Oekonomie als Klassen­kämpfer, als Revolutionär, als der Verfasser des „Manifests der Kommunistischen Partei“, das er an mehreren Stellen des „Kapital“ zitiert, dessen Grundgedanken hier vertieft und wissenschaftlich weiterentwickelt sind. Das „Kapital“ ist nicht nur das tiefste und umfassendste wissenschaftliche Werk --, sondern auch ein Werk, geschrieben für die Partei,die Partei des Proletariats. In seiner Rezension der „Kritik der politischen Oekonomie“ (1859) weist Engels darauf hin, daß das Auftreten der deutschen proletarischen Partei untrennbar verbunden war mit der Umwälzung der politischen Oekonomie durch Marx. „Ihr ganzes theoretisches Dasein ging hervor aus dem Studium der politischen Oekonomie.“ („Das Volk“, 6. August 1859, Nr. 14, S.3.) Und Marx selbst schreibt am 11. Oktober 1867, zur Zeit des Erscheinens des I. Bandes, an Kugelmann, es sei sein Ziel gewesen bei der Ausarbeitung des „Kapital“ — „die Partei so hoch als möglich zu heben und durch die Art der Darstellungselbst die Gemeinheit zu entwaffnen“.

Die bürgerlichen Oekonomen, die in einer verlogenen „Objek­tivität“ und „Unparteilichkeit“ machen, klagen deshalb Marx der „Tendenz“, der Parteilichkeit, an. Sie begreifen nicht oder geben, vor, nicht zu begreifen, daß die politische Oekonomie stets parteilich war, daß sie — solange es Klassen gibt — auch parteilich bleiben wird, und daß gerade die Parteinahme für die revolutio­näre Klasse die Voraussetzung des Fortschritts dieser Wissenschaft ist. In ihrer Jugend eine Waffe der aufstrebenden Bourgeoisie gegen den Absolutismus, wurde die politische Oekonomie schließlich eine Waffe gegen das revolutionäre Proletariat, zur Verteidigung der Ausbeutung, zum Kampf gegen den Sozialismus. Dies war zugleich der Tod der bürgerlichen Oekonomie als Wissenschaft. Marx hat im Nachwort zur 2. Auflage des I. Bandes eine glänzende Skizze dieser Entwicklung gegeben und aus­gesprochen, daß die Kritikder bürgerlichen Oekonomie nur möglich war durch die Parteinahme für dieKlasse, „deren ge­schichtlicher Beruf die Umwälzung der kapitalistischen Pro­duktionsweise und die schließliche Abschaffung der Klassen — das Proletariat“.

Wie ein roter Faden zieht sich durch das „Kapital“ der Klassenkampf an der theoretischen Front, den Marx als Vertreter des Proletariats gegen die Oekonomie der Bourgeoisie führt. Man kann das Werk nicht völlig verstehn und die Marxsche Theorie nicht wirklich als Waffe im Klassenkampf anwenden, ohne aufmerksam die Lage an dieser Front zu studieren (die Marx besonders in den Fußnoten des I. Bandes angibt), ohne die theo­retischen Positionen der verschiedenen Klassen zu kennen und den Verlauf des Kampfes zu verfolgen. Man wird dabei finden, daß Marx‘ Kampf gegen die alten Oekonomen heute durchaus aktuell ist, weil ihre Ansichten den Interessen bestimmter Klassen und Schichten entsprachen und heute in neuer Form wieder aufleben. Noch in seiner letzten ökonomischen Schrift, den Randglossen zu dem Buche des deutschen Reaktionärs und „Kathedersozia­listen“ Adolph Wagner, aus denen eine Auswahl im Anhang zum I. Band dieser Ausgabe folgt, liefert Marx eine vernichtende Kritik der bürgerlichen Vulgärökonomie und ihrer „Werttheorie“. Hier gibt er nicht nur wertvolle Fingerzeige zum Verständnis des 1. Abschnitts des ersten Buches des „Kapital“ (z. B. über die Rolle des Gebrauchswerts), sondern erledigt zugleich mit einer Handbewegung „Argumente“, die die allermodernsten, faschistischen Vulgärökonomen à la Spann und Co. heute noch wiederkäuen.

Aber Marx hat im „Kapital“ und seinen übrigen ökonomi­schen Schriften nicht nur gegen die bürgerliche Oekonomie zu kämpfen gehabt, sondern auch gegen ihre Ableger im Lager der Arbeiterbewegung: vom Kampf gegen den kleinbürgerlichen „Sozialismus“ Proudhons und seine ökonomischen Rezepte 1847 und der Brandmarkung des deutschen „wahren“ Sozialismus im Kommunistischen Manifest bis zum Kampf gegen die opportunistische Sekte der Lassalleaner, ihren Vorschlag, den Sozialis-mus durch Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe im Rahmen des absolutistischen Preußen einzuführen. Diesem Kampf ver­dankt u. a. eines der wichtigsten Dokumente aus der Feder von Marx seine Entstehung, die berühmten „Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei“ aus dem Jahre 1875. Was Lenin über den vorerwähnten Brief an Kugelmann sagt, gilt ebenso für dieses Dokument. Hier zeigt Marx die Klassenbedeutung des von ihm entdeckten Doppelcharakters der Arbeit und gibt schließlich anläßlich der Kritik der Lassalleschen Phrase vom „vollen Arbeitsertrag“ eine Skizze der sozialistischen Oekonomie, des Uebergangs zum Kommunismus, die heute, da die Sowjet­union in die Periode des Sozialismus eingetreten ist,unmittelbar lebendige Wirklichkeit wird.

Den theoretischen Kampf auf dem Gebiete der politischen Oekonomie hat Marx aufs engste verbunden mit den Fragen des ökonomischen und des politischen Kampfes der Arbeiterklasse, der Praxisdes revolutionären Klassenkampfes überhaupt. Die in den Anhang des I. Bandes aufgenommenen Briefe vom 22. Juni und 30. November 1867 zeigen, wie Marx seine wissenschaftlichen Unter­suchungen in unmittelbaren Zusammenhang brachte mit dem praktischen Kampf für die Tagesforderungen des Proletariats in England und Deutschland. Zugleich aber gaben diese Forschun­gen die theoretische Grundlage für Programm und Taktik der internationalen Arbeiterbewegung. Zur Zeit der I. Internationale hat Marx auf diesem Gebiet einen Kampf an zwei Frontenge­führt: einerseitsgegen die bürgerlich-opportunistische Richtung der englischen Trades Unions, gegen die Beschränkung des Kampfes der Arbeiterklasse auf ökonomischen Kleinkampf, gegen die Verwandlung der Gewerkschaften in bloße Organe zur Regelung des „Preises der Arbeit“ — andrerseitsgegen die kleinbürgerliche Ignorierung der Bedeutung des ökonomischen Kampfes, die „links“ drapierten Ansichten des owenistischen Sektierers Weston, mit denen sich Marx am 20. Mai 1865 in dem bekannten Vortrag im Generalrat der Internationalen Arbeiterassoziation auseinandersetzte (der 1894 unter dem Titel „Value, Price and Profit“ [Wert, Preis und Profit] von seiner Tochter Eleanor herausgegeben wurde), gegen die kleinbürgerliche Leugnung der Bedeutung der Gewerkschaften, die opportunistische Verdammung der Lohnkämpfe und Streiks seitens der Proudhonisten in Frank­reich und der Lassalleaner in Deutschland. Die Dokumente des Kampfes gegen die Bakunisten, die Briefe und Schriften aus der Zeit des Sozialistengesetzes in Deutschland, die Schriften von Engels aus der Epoche der II. Internationale, geben glänzende Beispiele dieses Zweifrontenkampfes.

Es war Lenin,der Marx‘ und Engels‘ Kampf gegen die bürgerliche Oekonomie und ihre Vertreter in der Arbeiter­bewegung unter den neuen Verhältnissen der imperialistischen Epoche weitergeführt hat. Er selbst sagt darüber im „Materialismus und Empiriokritizismus“, daß „man keinem einzigenPro­fessor der politischen Oekonomie, der imstande ist, auf dem Gebiet spezieller Tatsachenforschung die wertvollsten Arbeiten zu liefern, auch nur ein Wortglauben darf, sobald er auf die allgemeine Theorie der politischen Oekonome zu sprechen kommt. Denn letztere ist eine Wissenschaft, die innerhalb der modernen Gesellschaft nicht weniger parteilichist als die Erkenntnistheorie“.

„Im großen und ganzen — fährt er fort — sind die Profes­soren der politischen Oekonomie nichts anderes als die gelehrten Kommis der Kapitalistenklasse und die Professoren der Philo­sophie — die gelehrten Kommis der Theologen. Die Aufgabe der Marxisten ist nun hier wie dort, es zu verstehen, die von diesen ‚Kommis‘ gemachten Errungenschaften sich zu eigen zu machen und zu verarbeiten (man kann zum Beispiel, wenn man die neuen ökonomischen Erscheinungen studieren will, keinen Schritt machen, ohne sich der Werke dieser Kommis zu bedienen), — es aber auch zu verstehen,die reaktionäre Ten­denz derselben wegzuhauen, die eigeneLinie durchzuführen und die ganze Linieder uns feindlichen Kräfte und Klassen zu be­kämpfen.“ (Sämtliche Werke, Bd. XIII, S. 350 f.)

Der Gegensatz der Klassiker und Romantiker der bürger­lichen Oekonomie zu Anfang des 19. Jahrhunderts reproduziert sich im Kampf der „legalen“ Marxisten und der Narodniki in Rußland in den neunziger Jahren. Lenin tritt in der vollen Rü­stung des Marxismus auf und schlägt sowohl die Harmonietheorie der Struve u. Co. als auch die neue Auflage des Sismondismus bei den Narodniki entscheidend. Gleichzeitig greift Lenin in die internationalen Auseinandersetzungen mit den Revisionisten ein, indem er schon 1900 die Schwäche und Inkonsequenz der Stel­lung des sogenannten „orthodoxen Marxismus“ (Kautsky und Plechanow) kritisiert. Ein Jahrzehnt darauf sind diese Theo­retiker beim Opportunismus gelandet. Kautsky arbeitet seine Theorie des „Ueberimperialismus“ aus. In dem vernichtenden Krieg gegen diese Theorie setzt Lenin den Kampf von Marx gegen die Harmonieapostel der Bourgeoisökonomie fort. Und er trifft damit zugleich die neueren und allerneuesten Theorien des heu­tigen Sozialfaschismus, die Theorien der Hilferding u. Co. vom „organisierten Kapitalismus“ und Staatskapitalismus ebenso töd­lich, wie er in seiner Polemik gegen die Narodniki im voraus alle jene ganz „modernen“ „links“ drapierten Theorien des automati­schen Zusammenbruchs des Kapitalismus erledigt hatte, die sich meist auf die falsche Theorie von Rosa Luxemburg stützen.

Das „Kapital“ ist die feste theoretische Grundlage jener Siege des Leninismus an der theoretischen Front. Es spricht in jeder Zeile gegen die opportunistische Lüge vom „Hineinwachsen in den Sozialismus“ wie gegen den nicht weniger gefährlichen Schwindel vom selbsttätigen „Zusammenbruch“ ohne proletarische Revolu­tion. Die revolutionäre „Seele“ dieses Werks ist die materiali­stische Dialektik.Lenin sagt über die Theoretiker der II. Inter­nationale, daß „im Laufe eines halben Jahrhunderts keiner derMarxisten Marx verstanden“,keiner das „Kapital“ verstanden habe — weil sie nicht die Dialektikverstanden. Diese „Theoreti­ker“ — von Bernstein bis zu Kautsky, Hilferding und Otto Bauer — sind heute in ihrem offenen und versteckten Kampf gegen die Dialektik von einer mechanistischen Verballhornung des Marxismus bis in den Sumpf des reaktionären Idealismusgelangt.

Die materialistische Dialektik von Marx ist aber nicht nur eine den mechanistischen und idealistischen Theorien weit über­legene, die einzig richtigeEntwicklungslehre, sondern schließt zugleich — wie Lenin hervorhebt — selbst das Element der Tätig­keit, der revolutionären Praxisein. Von dieser revolutionären Dialektik ist das „Kapital“ erfüllt. Es ist dieselbe revolutionäre Dialektik, die aus den bekannten Worten Stalinsspricht, der im Kampfe gegen die fatalistische Entstellung des Marxismus durch die alte II. Internationale, im Kampf gegen die Theorie des „Selbstlaufs“, der automatischen Entwicklung zum Sozialismus, gegen den Opportunismus von rechts und von „links“, die Rolle der Kommunistischen Partei- und des Proletariats der Sowjetunion beim Aufbau des Sozialismus kennzeichnet:

„Es wäre dumm, zu denken, der Produktionsplan bestehe im Aufzählen von Zahlen und Aufgaben. Der Produktionsplan ist in Wirklichkeit die lebendige praktische Tätigkeit von Mil­lionen Menschen. Die Realität unseres Plans — das sind die Millionen Werktätiger, die ein neues Leben bauen, die Realität unseres Programms, das sind lebendige Menschen, das sind wir alle, das ist unser Arbeitswille, unsere Bereitschaft, auf neue Art zu arbeiten, unsere Entschlossenheit, den Plan zu erfüllen.“ (Rede vor den Wirtschaftlern, Juni 1931.)

III.

Die Geschichte des „Kapital“, seiner Vorarbeiten, seiner Nie­derschrift, seiner Ausgaben in den verschiedenen Ländern, seiner Wirkung, Bekämpfung und Verteidigung ist die Geschichte des proletarischen Klassenkampfes fast eines Jahrhunderts. Marx und Engels haben in den Vorworten zu den vier deutschen Ausgaben sowie zur französischen und englischen Uebersetzung darüber be­richtet und Leningibt in der Biographie von Marx einen kurzen Ueberblick über die Geschichte des „Kapital“. Im Briefwechsel zwischen Marx und Engels, sowie in den Briefen an Kugelmann, Danielson u. a. finden sich zahlreiche wertvolle Berichte über den Gang der Arbeit, Ratschläge von Engels zur stilistischen Verbesserung und Popularisierung, Bemerkungen über die Wir­kung des I. Bandes usw.

Der I.Band erschien im Herbst 1867. Engels hatte eine große Arbeit in der Agitation für das Buch geleistet, um die Tot­schweigetaktik der bürgerlichen Wissenschaft und Presse Marx gegenüber zu brechen. Die Verbreitung des Werks ging jedoch sehr langsam. Erst das Jahr der Pariser Kommune brachte den Umschwung.Im Frühjahr 1873 erschien die z. T. stark umgear­beitete 2. Ausgabe.

Zur endgültigen Ausarbeitung der übrigen drei Bücher des Werkes, deren erste Niederschrift noch aus den Jahren vor der Bearbeitung des I. Bandes für den Druck stammt, ist Marx nicht mehr gekommen. Diese Arbeit fiel Engels zu. Er berichtet über ihre Durchführung in den Vorworten zum II. und zum III. Band. Der II. Band, der das zweite Buch „Der Zirkulationsprozeß des Kapitals“ enthält, erschien 1885, der III., der das dritteBuch „Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion“ umfaßt, in zwei Teilen 1894. Das vierteBuch, die sog. „Theorien über den Mehrwert“ — von Kautsky 1904/10 gekürzt und als selbständiges Werk veröffentlicht — wird in der Marx-Engels-Gesamtausgabe des Marx-Engels-Lenin-Instituts seine erste vollständige Ausgabe finden.

Die ungeheure Wirkung des „Kapital“ hat auch in dem wütenden Kampf der Bourgeoisie gegen dieses Werk eine ge­wisse taktische Wendung erzeugt. Leninschildert diese in seinem Buche „Staat und Revolution“ folgendermaßen:

„Mit der Lehre von Marx geschieht jetzt dasselbe, was wieder­holt in der Geschichte mit den Lehren revolutionärer Denker und Führer geknechteter Klassen in ihrem Befreiungskampfe geschah. Die unterdrückenden Klassen hatten für die großen Revolutionäre, solange sie am Leben waren, nur ständige Verfolgungen übrig, sie begegneten ihrer Lehre mit dem wildesten Ingrimm, dem wü­tendsten Haß, dem zügellosesten Lügen- und Verleumdungsfeldzug. Nach ihrem Tode versucht man, sie zu harmlosen Heiligenbildern zu machen, sie sozusagen zu kanonisieren, ihrem Namen einen gewissen Ruhm einzuräumen zum ‚Trost‘ und zur Nasführung der unterjochten Klassen, indem man den Inhalt der revolutionä­ren Lehre kastriert, ihre revolutionäre Spitze abbricht, sie ver­flacht. Bei einer solchen ‚Bearbeitung‘ des Marxismus finden sich jetzt die Bourgeoisie und die Opportunisten innerhalb der Arbeiterbewegung zusammen.“ (Sämtliche Werke, Bd. XXI,. S. 467.)

Den hervorragendsten Anteil an dieser „Bearbeitung“ von Marx und speziell seines „Kapital“ hat Karl Kautskygenommen. Marx selbst hat diesen Mann in einem Brief an seine Tochter Jenny vom 11. April 1881 treffend beurteilt: „Er ist eine Mittel­mäßigkeit, von kleinen Gesichtspunkten, überweis (erst 26 alt), Besserwisser, in einer gewissen Art fleißig, macht sich viel mit Statistik zu schaffen, liest aber wenig Gescheites heraus, ge­hört von Natur zum Stand der Philister ...“ (Original im Marx­-Engels-Lenin-Institut in Moskau.)

Schon die sog. „Volksausgabe“ des I. Bandes des „Kapital“, die Kautsky 1914 herausbrachte, zeigt ihn als anmaßenden Philister und Verballhorner von Marx. „Die Pflicht der Pietät gegenüber, einem Manne,“ dem er „mehr verdanke als irgendeinem andern“ — sagt er in seinem Vorwort — habe ihn veranlaßt, die Arbeit zu übernehmen. Aber die Art, wie er das „Kapital“ herausgegeben hat, zeigt nichts weniger als Pietät. „Es ist also — schrieb Engelsvon seiner eignen Arbeit an der dritten Auflage — kein Wort ge­ändert, von dem ich nicht bestimmt weiß, daß der Verfasser selbst es geändert hätte.“ Kautsky hat es andersgemacht. Er hat sich an die Aenderungdes von Engels herausgegebenen Marxschen Textes herangewagt und — weit über die von ihm angegebenen Zwecke der Berichtigung von Druckfehlern und der Populari­sierung hinaus — „souverän“ umformuliert, gestrichen und zu­gesetzt, ohne über diese Tätigkeit pflichtgemäß genaue Rechen­schaft abzulegen. Es konnte nicht ausbleiben, daß die beschränkte Auffassung der Marxschen Oekonomie und das Unverständnis der Dialektik, die schon Kautskys bekannte Schrift von 1886 über Marx‘ ökonomische Lehren kennzeichnen, auch in diesen Aenderungen zum Ausdruck kamen.

Was er 1914 beim I. Band des „Kapital“ vorsichtig als bloße Textänderung begonnen, hat Kautsky 1926 beim II. Band und 1929 beim III. Band als offen opportunistische Verfälschung der Grundgedanken des „Kapital“ zuendegeführt. Das Vorwort des II. Bandes proklamiert das gemeinsame Interesse der Kapitalisten und der Arbeiter „an dem ungestörten Abfauf des Zirkulations­prozesses“ und stellt dem Proletariat die Aufgabe der „Verteidi­gung der Gesetze dieser Produktionsweise gegen ihre Vergewalti­gung durch die Monopolisten des Großkapitals“. Gegen wen Kautsky die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise in derTatverteidigt, hat er in seinen zahlreichen Pamphleten gegen die Sowjetunion gezeigt, in denen er zur militärischen Intervention und zum konterrevolutionären Aufstand gegen die Diktatur des Proletariats aufmuntert.

Hier ist es offenbar, daß die Herausgabe von Marx nur als Vorwand dient für den Kampf gegenden Marxismus, Es ist die „lebendige Dialektik des Opportunismus“: aus dem Philister von 1881 ist allmählich ein Renegat und Fälscher des Marxismus, ein Feind des revolutionären Proletariats geworden, der zur Verteidigung des Kapitalismus aufruft von der Tribüne des­selben Werkes, in dem Marx dem Proletariat die Aufgabe des Sturzes der Ausbeuter, der Vernichtung des Kapitalismus ge­stellt hat.

Dies die Behandlung des „Kapital“ durch die deutsche Sozial­demokratie, die sich einmaldie Partei von Marx und Engels nann­te. Wie anders seine Behandlung durch die russischen Bolsche­wiki, die das von der deutschen Sozialdemokratie in den Schmutz getretene Banner des Marxismus hochhielten und die Führer der internationalen revolutionären Arbeiterbewegung wurden. Heute sind vom „Kapital“ in der Sowjetunion acht Auflagen in etwa einer MillionExemplaren verbreitet — mehr als in Deutschland und in allen kapitalistischen Ländern zusammengenommen. Das „Kapital“ wird von Millionenjunger Arbeiter und Arbeiterinnen in den Sowjetschulen, Parteischulen und Universitäten studiert. Es ist kein Zufall, daß Moskau das internationale Zentrum für das Studium und die Propaganda des Marxismus geworden ist.

IV.

Das Marx-Engels-Lenin-Institut bereitet als Abteilung II der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels die große akademische Ausgabe des „Kapital“ vor, die alle Varianten der verschiedenen Ausgaben, sämtliche noch un­veröffentlichten Vorarbeiten und Materialien enthalten wird. Die Aufgabe der vorliegenden deutschen Volksausgabedes „Kapital“ ist es vor allem, dem deutschen Arbeiter eine leicht lesbare undbillige Ausgabe des vollen und authentischen Textes, der vonEngels besorgten Ausgabe des „Kapital“ zu übermitteln [3].Die Be­schleunigung ihres Erscheinens war um so notwendiger, als die Meißnersche ' Originalausgabe auf dem Büchermarkt vergriffen und die Kautskysche sog. „Volksausgabe“ — ganz abgesehen von ihrem Preis, der sie für Arbeiter unerschwinglich macht, — einen unzuverlässigen Text bringt und die den Marxismus grob fälschen­den Vorworte.

Der Originaltext des „Kapital“ bietet auch abgesehen von den Schwierigkeiten des Inhalts dem wissenschaftlich nicht geschul­ten Leser große technische Schwierigkeiten, da Marx erstensfast alle Schriftsteller in der Sprache des Originals zitiert, zweitenseine große Zahl fremdsprachlicher Ausdrücke, Sprichwörter und geflügelter Worte, und drittenssehr viele Fremdwörter und aus fremden Sprachen stammende wissenschaftliche Fach­ausdrücke verwendet. Das Marx-Engels-Lenin-Institut hat seiner Volksausgabe die Aufgabe gestellt, alle drei Gruppen von Schwierigkeiten durch Uebersetzungen und Erklärungen zu überwinden, ohne den Marxschen Text selbst zu ändern.

Die Redaktion der vorliegenden Ausgabe hat diese Aufgabe nach folgendem Prinzip gelöst: alle fremdsprachlichen Zitate wurden durch möglichst wortgetreue Verdeutschungen ersetzt, den fremdsprachlichen Wörtern, Sätzen und Sprichwörtern wurde eine Uebersetzung in eckigen Klammern hinzugefügt, nicht aber den eigentlichen Fremdwörtern und fremden Fachausdrücken. Im Vorwort zu seiner populären Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (1882) sagt Engelsüber die Fremdwörterfrage: „Ich habe mich darauf beschränkt, alle unnötigen Fremdwörter zu entfernen. Bei den unvermeid­lichen habe ich auf Beifügung sogenannter erklärender Ueber­setzungen verzichtet. Die unvermeidlichen Fremdwörter, meist allgemein angenommene wissenschaftlich-technische Ausdrücke, wären eben nicht unvermeidlich, wenn sie übersetzbar wären. Die Uebersetzung verfälscht also den Sinn; statt zu erklären, ver­wirrt sie.“ Eine Entfernung von Fremdwörtern über die schon von Engelsals Herausgeber geleistete Arbeit kam bei dieser Aus­gabe des „Kapital“ nicht in Frage. Die Einfügung der zahllosen Uebersetzungen in den Text aber hätte diesen allzusehr beschwert, bei den unvermeidlichen Fremdwörtern sogar — wie Engels sagt — seinen Sinn verfälscht.Daher ist die Frage so gelöst worden, daß alle eigentlichen Fremdwörter in das Fremdwörterverzeichnis zu jedem Bande aufgenommen wurden. Dies gab die Möglichkeit, die nicht einfach übersetzbaren zu erklären.Besonders wichtig war dies auch bei den aus fremden Sprachen stammenden Fach­ausdrücken, ökonomischen Begriffen, Namen bestimmter Rich­tungen der politischen Oekonomie und Philosophie usw. Auch jene fremdsprachlichen Wörter, die im Text übersetzt sind, aber nochmals vorkommen, wurden ins Register eingereiht. Namen von Münzen und Gewichten wurden in deutscher Schreibweise gegeben. Außerdem wurden die lateinischen, englischen usw. Abkürzungen bei Zitierungen (l. c., ibid., sq., ch., 1., usw.) durch deutsche ersetzt und diese in eine Abkürzungserklärung aufgenommen. Wo Marx nur auf früher zitierte Schriften ver­weist, ohne den Titel zu nennen, wurde dieser, zumeist in der auch von Marx angewandten Abkürzung, eingesetzt. Die Ueber­setzungen der Büchertitel sind im Literaturverzeichnis gegeben. Die Kolumnentitel geben links die Ueberschriften der Abschnitte und rechts die der Kapitel wieder. Eine entscheidende Ver­besserung allenAuflagen, die der ersten folgten, und allenan­dern Ausgaben gegenüber, ist die Uebernahme der zahlreichen von Marx selbst angebrachten Sperrungen aus der ersten Ausgabedes I.Bandes, die in den späteren Ausgaben aus finanziellen Gründen weggelassen werden mußten. In der vorliegenden Aus­gabe sind sie in Kursivdruck wiedergegeben. Sie erleichtern dem Leser das Verständnis der schwierigen Partien bedeutend [4].

Soviel zur Popularisierung des Textes. Nun zum Apparat der Volksausgabe: Jeder Band enthält ein Personenregistermit kurzen Charakteristiken der genannten Personen. Die Fremdwörter­verzeichnissesollen die bestimmteBedeutung angeben, in der die betreffenden Ausdrücke im „Kapital“ angewandt werden. Ferner sind Verzeichnisse der vorkommenden fremden Maße, Gewichte und Münzen jedem Band beigegeben. Die Verzeichnisse der zitier­ten Literatursind zum größten Teil auf Grund der Originale der von Marx zitierten Werke ausgearbeitet worden. Die besondere Ver­zeichnung der Neuausgaben der zitierten Werke von Marx und Engels ermöglicht rasches Auffinden der angeführten Stellen in diesen Ausgaben. Jeder Band enthält ein kurzes Sachregister,das nur die wichtigsten Stichworte umfaßt. Der zweite Teil des dritten Bandes bringt das ausführliche Gesamtsachregisterder drei von Engels herausgegebenen Bände.

Nun noch einige Bemerkungen zur wissenschaftlichenText­bearbeitung. Zu Grunde gelegt wurde dem I. Band die 4. von Engels besorgte Ausgabe (1890), dem II. Band die 2. (1893) und dem III. Band die 1. (1894). Eine besonders große text­kritische Arbeit verlangte der I. Band. Zwischen der 2. Ausgabe (1872) und der 4. Ausgabe sind mehr als 1200 Varianten fest­gestellt worden. Die überwiegende Mehrzahl entfällt auf die von Engels angebrachten kleinen stilistischen Verbesserungen, die Ergänzungen aus der französischen Ausgabe von 1873 und die Korrekturen verschiedener Schreib- und Druckfehler in . den Quellenangaben, die von Eleanor Marx für die englische Ausgabe gemacht und von Engels in die 4. deutsche Ausgabe übernommen wurden. Wo es sich um Druckfehler oder Auslassungen einzelner Wörter handelt, die zwischen der 2. und 4. Ausgabe entstanden sind, hat die Redaktion den ursprünglichen Textwiederhergestellt. Zur Entscheidung wurden in Zweifelsfällen die 1. deutsche und die französische Ausgabe herangezogen.

Der Vergleich der Zitate —auch der englischen — mit den Originalen ist von neuem durchgeführt worden, wobei eine Anzahl von Schreib- oder Druckfehlern berichtigt werden konnte, die Eleanor Marx bei ihrer Nachprüfung (die sich übrigens nicht nur auf Zitate aus englischen Quellen erstreckte) entgangen war. In den wenigen Fällen, wo das Originalwerk oder seine Photo­kopie nicht vorlag, wurde die englische Ausgabe, in einzelnen Fällen auch die französische zu Rate gezogen, um offenbare Irrtümer oder Druckfehler zu berichtigen. Korrekturen von Titeln, Erscheinungsdaten und Seitenangaben wurden nur dann vor­genommen, wenn ein Versehen, ein Schreib- oder Druckfehler außer Frage stand. Wo die geringste Möglichkeit vorhanden war, daß Marx eine andre Ausgabe benutzt habe, wurde nichts geändert. Eine Reihe dieser Fälle ersieht der Leser aus den Differenzen der Marxschen Angaben mit denen des Literaturverzeichnisses. Ergänzungen zu den Marxschen Quellenangaben wurden in eckige. Klammern gesetzt. Die Tabellen aus englischen offiziellen Ver­öffentlichungen wurden sämtlich mit den Originalen oder —wo diese nicht zur Hand waren — mit der englischen Ausgabe verglichen. Die Zuendeführung dieser Prüfung an Hand der Origi­nale bleibt der akademischen Ausgabe überlassen. Zwei Korrek­turen, die Marx selbst in Briefen an Danielson gefordert hat, sind in Fußnoten der Redaktion (5. 112 u. 542 f) vermerkt.

Um dem Leser das Eindringen in das Werk zu erleichtern, hat die Redaktion jedem Band im Anhang eine Reihe von Do­kumenten, Briefen und Artikeln von Marx und Engels beigege­ben, die in enger Beziehung zum Inhalt des Bandes stehen. Dem Gesamtwerk ist LeninsArtikel „Karl Marx“ aus dem Jahre 1914 vorangestellt. Lenin ist hier an vielen Stellen gezwungen, „in Andeutungen, gewissermaßen durch die Blume zu sprechen, injener verfluchten Sprache, zu der der Zarismus alle Revolutionäre nötigte, sobald sie die Feder in die Hand nahmen, um etwas ‚Legales‘ zu schreiben“. Trotzdem gibt jene Arbeit eine meister­hafte, in ihrer Gedrängtheit und Klarheit unerreichte Einführung in den Marxismus. Die deutsche Volksausgabe des „Kapital“ ver­einigt so die Namen der drei großen Führer und Lehrer des internationalen Proletariats.

V.

Wie soll man das „Kapital“ lesen?

Wer an die Lektüre des „Kapital“ herangeht, muß zuerst einen Ueberblick gewinnen über den Aufbau, die Gliederung dieses einzigartigen Werkes. Es ist ganz anders aufgebaut als die üblichen bürgerlichen „Grundrisse“ oder Lehrbücher der politischen Oekonomie. Es gibt in seinen ersten drei Büchern und ihren 17 Abschnitten nicht eine Aneinanderreihung der einzel­nen an der Oberfläche erscheinenden „Gebiete“ oder „Spezialfä­cher“ der Volkswirtschaftslehre, wie z. B.: Industrie, Handel, Landwirtschaft, Bankwesen, Arbeiterfrage etc. Das „Kapital“ ist vielmehr ein „dialektisch Gegliedertes“, wie Marx am 31. Juli 1865 an Engels schreibt. Sein Aufbau entspricht der wirklichen materiellen Entwicklung des Gegenstandes, den es behandelt, der kapitalistischen Produktionsweise, der ihr entsprechenden Pro­duktions- und Verteilungsverhältnisse. Ausgehend vom Wesender kapitalistischen Produktion als einer Warenproduktion, in der die Arbeitskraft selbst zur Ware wird, schreitet Marx, die widerspruchsvolle Entfaltung ihrer Erscheinungsformen, deren Verselbständigung gegeneinander und „Verknöcherung“ verfol­gend, von den einfachsten, grundlegenden Produktionsverhält­nissen der Warenproduktion bis zu den kompliziertesten Er­scheinungsformen des Kapitals, dem Profit, dem zinstragenden Kapital, der Grundrente. Marx selbst hat im 48. Kapitel des dritten Buches einen kurzen Rückblick über diese dialektische Entwicklung gegeben. Ihr entspricht der Aufbau des „Kapital“: ErstesBuch — der Produktionsprozeß des Kapitals, zweitesBuch — der Zirkulationsprozeß des Kapitals, drittesBuch — der Gesamt­prozeß der kapitalistischen Produktion. Als Abschluß folgt das vierteBuch über die Geschichte der ökonomischen Theorie. In seinem Brief an Engels vom 30. April 1868, der im Anhang zum I. Band folgt, hat Marx den Inhalt der beiden folgenden Bücher skizziert. Das erste Buch, das den Produktionsprozeß behandelt, ist die Grundlage des ganzen gewaltigen Werkes. Es ist daher selbstverständlich, daß man das Studium beim I. Band beginnen muß und nicht bei einem der folgenden.

Will der Leser vorBeginn der Arbeit am „Kapital“ eine kurze zusammenfassende Einführung in die Marxsche Oekonomie durchnehmen — und das ist unerläßlich — so findet er sie vor allem in dem unsere Ausgabe einleitenden Artikel von Lenin.Einen ganz kurzen und noch populäreren Ueberblick über den Inhalt des 1. Bandes gibt Engelsin seinen Artikeln für das „Demokratische Wochenblatt“ aus dem Jahre 1868, die in den An­hang aufgenommen wurde. Engels' sogen. Konspekt des I. Bandes, keine Popularisierung, sondern eine ausführliche originelle Dar­stellung des Inhalts, ist für das gründliche Studium des „Kapital“ von großem Wert. Die letztgenannte Schrift kommt gleichzeitig mit der vorliegenden Volksausgabe heraus. Es ist selbstverständ­lich, daß die bekannte kleine Schrift von Marx,„Lohnarbeit und Kapital“ (1849), und der unter dem Titel „Lohn, Preis und Profit“ im Buchhandel befindliche Vortrag von 1865 zur Vorbereitung auf die Lektüre des „Kapital“ herangezogen werden müssen.

Der Leser wird dieser Hilfsmittel besonders bedürfen beim I. Abschnitt des ersten Buches „Ware und Geld“. Marxselbst weist im Vorwort zur französischen Ausgabe auf seine Schwie­rigkeit hin und „wappnet“ den Leser dagegen.

Ein wichtiges Hilfsmittel zur Erleichterung des Ver­ständnisses dieses I. Abschnittes hat uns Engelsgegeben. Am 16. Juni 1867, beim Lesen der Korrekturbogen, schrieb er an Marx, es werde „das hier dialektisch gewonnene etwas weitläufiger historisch nachzuweisen, sozusagen aus der Geschichte die Probe darauf zu machen sein, obgleich dafür das Nötigste auch schon gesagt ist“. Diese Aufgabe, „auf historischem Wege die Notwendigkeit der Geldbildung und den dabei statt­findenden Prozeß“ darzustellen, hat Engels selbst mehrere Jahrzehnte später in seiner letzten, unvollendeten Arbeit, dem sog. Nachtrag zum III. Band des „Kapital“ gelöst (wenn auch sein Hauptzweck dabei die historische Darstellung der Verwand­lung der Werte in Produktionspreise war). Der Leser findet die­sen „Nachtrag“, eine glänzende historische Darstellung, im An­hang zum III. Band unserer Ausgabe.

Trotz all dieser Hilfsmittel ist damit zu rechnen, daß einem großen Teil der Leser der I. Abschnitt auf den ersten Anlauf unüberwindlich ist. Für diesen Fall möge man den Rat befolgen, den Marx am 30. Nov. 1867 der Frau seines Freundes Kugelmannerteilte (s. Anhang zum I. Band, S. 831). Marx rät hier, die mehr historisch-darstellenden Kapitel 8, 11, 12, 13 und 24 zuerst zu lesen. Aehnliche noch ausführlichere Ratschläge für die erste Lektüre des II. und III. Bandes hat Friedrich Engels in einem, Brief an Viktor Adler erteilt, der im Anhang zum II. Band folgt. Natürlich darf der Leser sich mit der Lektüre dieser Kapitel, nicht zufrieden geben und muß darauf das Werk noch einmal von Anfang im Zusammenhang durcharbeiten. Erst dann er­schließt sich auch die ganze Bedeutung der historischen Teile. Zu warnen ist vor der umgekehrten Methode, nur die theo­retischen Abschnitte herauszusuchen und das „veraltete Tat- sachenmaterial“ zu überschlagen. Denn diese Partien, wie z. B. die Geschichte des Kampfes um den Normalarbeitstag und die Illustrationen des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation, sind keineswegs veraltet und nichts weniger als bloßes „Material“. Im Gegenteil, sie geben in gewissem Sinn das Resultatder theoretischen Analysen: In ihnen tritt der „Toten­gräber“ des Kapitals, die Arbeiterklasse, leibhaftig auf; Marx gibt eine konkrete Darstellung und historische Analyse des Proletariats,seiner Lage und seiner Kämpfe, er kommt hier zu dem Punkt, auf den seine politische Oekonomie hinausläuft, zum Klassenkampf.

Das „Kapital“ ist zweifellos das tiefste und revolutionärste Werk der Weltliteratur, es vermittelt dem modernen Proletarier die umwälzenden Entdeckungen von Marx, die reifsten Ergebnisse einer jahrhundertelangen Entwicklung der Wissenschaft, es gibt ihm ein Lehrbuch der materialistischen Dialektik, der materia­listischen Geschichtsauffassung im allgemeinen, ihrer Anwendung auf das kapitalistische System im besonderen. Aber nicht, um aus dem Leser einen „Gelehrten“ zu machen, einen Bücherwurm, der Wissenschaft der Wissenschaft wegen oder zu seinem Ver­gnügen treibt. Der Leser des „Kapital“ darf nie vergessen, daß der Marxismus die Verbindung der Theorie mit der Praxisver­langt und daß die revolutionäre Praxis an ersterStelle steht. Die Lektüre des „Kapital“ ist für den revolutionären Arbeiter nicht Selbstzweck, sondern eine Anleitung zum Handeln,zum Kampf für den Sturz der Bourgeoisie und für den Sieg des Sozialismus.

Moskau, 30. März 1932.
V. Adoratskij 

 


Fußnoten

[1] „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus.“ Sämtliche Werke, Bd. XIX, S. 97.

[2] „Das Kapital“, III. Buch, 27. Kapitel.

[3] Es konnte daher auch nicht die Aufgabe dieser Ausgabe sein, Varianten der verschiedenen Auflagen anzuführen oder gar in den Text hineinzuarbeiten. Von den Varianten der französischen Ausgabe über die von Engels verwerteten hinaus wurde nur der Absatz über die Geschichte des Puddelverfahrens als Fußnote aufgenommen (S. 654).
Das Zitat aus Hopkins Im Zusatz zu Note 34, S. 238, wurde nach dem Beispiel der französischen Ausgabe vollständig gebracht

[4] An einigen Stellen, wo Marx den Text der 1. Ausgabe stark um­gearbeitet hat, war die exakte Uebertragung der Sperrungen schwie­rig. Es ist im allgemeinen so verfahren worden, daß Sperrungen nur in jene Sätze übernommen wurden, deren Wortlaut Marx un­verändert gelassen hat. Wenn Marx in einem gesperrten Passus ein paar Wörter geändert oder hinzugefügt hat, die umittelbar dazu­gehören, wurden die neuen Wörter ebenfalls gesperrt. Ausnahms­weise wurden auch in ganz umformulierten Sätzen Wörter gesperrt, wenn der Sinn der Sätze und die hervorzuhebenden Wörter völlig die­selben waren. Die Sperrungen im Abschnitt über die Wertform und einiger Absätze in dem Unterabschnitt über den Fetischcharakter der Ware wurden aus dem Anhang zur 1. Ausgabe übertragen. Jene grö­ßern Partien des Textes, wo sich keineHervorhebungen finden, sind Ergänzungen der späteren Ausgaben. Die in der 4. Ausgabe gesperrten -Wörter sind in Sperrdruck bzw. — wenn in beiden Ausgaben hervor gehoben — in gesperrtem Kursivdruck wiedergegeben. Die Hervor­hebungen in den Einschaltungen aus der französischen Ausgabe und einige Hervorhebungen von Engels in der englischen Ausgabe wurden kursiv gesetzt.

Ähnliches: 

„Die Untersuchungsmethode, deren ich mich bedient habe (…), macht die Lektüre der ersten Kapitel ziemlich schwierig...“

London, 18. März 1872 An den Bürger Maurice La Châtre Werter Bürger!

„…auf mich fiel nun die Pflicht, die Herausgabe sowohl dieser dritten Auflage wie des handschriftlich hinterlassenen zweiten Bandes zu besorgen.“

Es war Marx nicht vergönnt, diese dritte Auflage selbst druckfertig zu machen. Der gewaltige Denker, vor dessen Größe sich jetzt auch die Gegner neigen, starb am 14. März 1883.

„‚Das Kapital‘ wird auf dem Kontinent oft ‚die Bibel der Arbeiterklasse‘ genannt.“

Die Veröffentlichung einer englischen Ausgabe des „Kapital“ bedarf keiner Rechtfertigung. Im Gegenteil, es kann eine Erklärung darüber erwartet werden, warum diese englische Ausgabe bis jetzt verzögert worden ist, wenn man sieht, daß seit einigen Jahren die in diesem Buch vertretenen Theorien in der periodischen Presse und Tagesliteratur sowohl Englands wie Amerikas ständig erwähnt, angegriffen und verteidigt, erklärt und mißdeutet wurden.

„Die Arbeit ist das Mass des Werts“