„Es ist kein Zufall, dass sich die Hauptwucht vor allem gegen das Grundeigentum richtet."

Vorwort zur Volksausgabe des 3. Band des Kapital von Benedikt Kautsky, J. H.W. Dietz Nachfolger, 1929

Vorwort des Herausgebers

Die Aenderung des Titelblattes, durch die Karl Kautsky zum Mitherausgeber und ich zum Herausgeber des Werkes gemacht wird, geschieht auf Wunsch meines Vaters, der zur Zeit durch eine andere große Arbeit so in Anspruch genommen ist, daß er die zeitraubenden und mühevollen philologischen Kleinarbeiten an der vorliegenden Ausgabe nicht leisten konnte. An den Grundsätzen, nach denen wir gemeinsam gearbeitet haben, hat sich dadurch nichts geändert, und es ist im Text keine Korrektur oder Einschiebung ohne Prüfung durch meinen Vater vorgenommen worden.

Die Grundsätze sind im Vorwort zur Volksausgabe des II. Bandes dargelegt, so daß ich mich im wesentlichen damit begnügen kann, hier auf sie zu verweisen. Wir strebten größte Originaltreue an und haben Abänderungen nur dort vorgenommen, wo offensicht­lich einer der leider nur zu zahlreichen Druckfehler oder ein von Engels übersehener Schreibfehler im Marxschen Manuskript vorlag. Wo nur im entferntesten die Möglichkeit einer Verschiedenheit in der Auffassung der betreffenden Stelle vorlag, haben wir sie entweder unverändert gelassen oder unsere Fassung ausdrücklich dadurch kenntlich gemacht, daß wir den Wortlaut des Originals in einer Fußnote wiedergegeben haben. Bei dieser mühseligen Arbeit hat uns Karl Auer in hingebungsvoller Weise unterstützt; er hat uns auch beim Lesen der Korrekturen wirksam geholfen.

Die Arbeiten wurden dadurch erschwert, daß die Nachprüfung der Zitate in Wiener und Berliner Bibliotheken noch weniger möglich war als beim II. Band und daß trotz der bereitwillig und verständnis­voll geleisteten Hilfe Fritz Brügels und Anton Birtis von der Sozial­wissenschaftlichen Studienbibliothek in Wien und Albert Kruses in Berlin die Benutzung der Bibliothek des Britischen Museums in London unumgänglich notwendig wurde. Da das Bureau der Sozia­listischen Arbeiterinternationale von London nach Zürich verlegt worden ist, stand uns dort die Hilfe Fritz Adlers und seiner Mit­arbeiter, die uns beim II. Band so dankenswert unterstützt hatten, nicht mehr zur Verfügung, so daß ich mich dazu entschlossen habe, selbst an Ort und Stelle die zitierten Bücher einzusehen. Es ist dem Verlag dafür zu danken, daß er mir die hierfür notwendige Reise er­möglicht hat.

Die Nachprüfung der Zitate war schwieriger als im II. Band, weil Marx vielfach nicht den Büchertitel, sondern nur den Namen des zitierten Autors angab; soweit es möglich war, haben wir das in Betracht kommende Werk und die Stelle angegeben, von der wir annehmen durften, daß Marx sie im Auge gehabt habe. Erleichtert wurde diese Arbeit durch einen Vergleich des III. Bandes mit den „Theorien über den Mehrwert“, in denen Marx vielfach dieselben oder ähnliche Themen vom Standpunkt der Geschichte der Theorie behandelt. Wir haben in einer Reihe von Fällen auf die in Frage kommenden Stellen der „Theorien über den Mehrwert“ hin­gewiesen.

Durch die Heranziehung der „Theorien“ wird der Eindruck der umfassenden Einheit des Marxschen Werkes nur noch verstärkt. Gewisse Schwankungen in der Terminologie, die Marx bei einer end­gültigen Redigierung selbst sicher ausgeschieden hätte — wir haben an manchen Stellen, wo es uns besonders wichtig erschien, die Ein­heitlichkeit der Ausdrucksweise hergestellt —, vermögen diesen Ein­druck nicht zu verwischen.

Gerade die Hervorhebung dieser Tatsache scheint uns die wich­tigste in einer Zeit zu sein, da sich die ökonomische Forschung mehr und mehr zersplittert und auf die Beschäftigung mit Detailproblemen beschränkt wird.

Es ist schon im Vorwort zur Volksausgabe des II. Bandes darauf hingewiesen worden, daß es für die sozialistische Bewegung der Gegenwart nicht mehr genügt, die Probleme der kapitalistischen Produktion zu kennen — das bedeutet nicht, daß wir sie unter­schätzen, im Gegenteil, wir glauben, daß beispielsweise die stärkere Betonung der Marxschen Erkenntnisse in mancher Diskussion über Fragen der Rationalisierung von Nutzen hätte sein können —, son­dern daß sie auch die kapitalistische Zirkulation in ihren Interessen­kreis einbeziehen müsse. Hatte aber schon der II. Band eine erhebliche Bedeutung für die Gegenwart, so gilt das noch wesentlich mehr für den dritten. Besonders wichtig scheinen uns zwei Problem­kreise zu sein, zu deren Durchforschung dieser Band wesentlich bei­tragen kann: die Konjunkturtheorie  im Zusammenhang mit der Währungsfrage und die internationale Agrarkrise.

Wie stets nach Zeiten der Inflation, hat die Quantitätstheorie, die die Warenpreise von der Menge des umlaufenden Geldes abhängen läßt, heute wieder wesentlich an Boden gewonnen. Fand sie nach den Napoleonischen Kriegen ihren theoretischen Niederschlag in den Schriften Ricardos und den Prinzipien der Currencyschule, ihre praktische Auswirkung in dem Peelschen Bankakt von 1844, so feiert sie heute Auferstehung in der modernen Konjunkturtheorie, deren Schutzpatron — das scheint uns kein Zufall zu sein — der von Marx so liebevoll gezeichnete Vater der Currencyschule, Loyd-Overstone, ist.

Wohl haben gerade die letzten Jahre die formelle Beseitigung des letzten Prunkstückes der Currencytheorie, der englischen Bank­gesetzgebung, gebracht, nachdem sie praktisch im Jahre 1914 durch die Einführung von Staatspapiergeld, der sogenannten Currency­notes, außer Kraft gesetzt worden war.

Nach dem Kriege erwies es sich als unmöglich, zum früheren Zustand zurückzukehren, der der Bank von England die Ausgabe von Banknoten über ein gewisses Maß hinaus nur gegen Einlieferung von Gold erlaubte. Zunächst ließ man nach dem Kriege beide Kategorien von Noten — die der Bank von England und die staat­lichen Currencynotes — nebeneinander umlaufen, in der Hoffnung, die Entwicklung werde allmählich von selbst zu den Vorkriegs­zuständen zurückführen. Diese Erwartung erfüllte sich nicht, und so entschloß man sich im Jahre 1928 zur Zusammenlegung beider Notenkategorien. Gold gelangt nicht in den inländischen Verkehr, sondern wird nur für Ausfuhrzwecke zur Verfügung gestellt. Damit ist die von Marx in Kapitel XXXI ausgesprochene Ansicht als richtig erwiesen:

„Alle Geschichte der modernen Industrie zeigt, daß Metall in der Tat nur erheischt wäre zur Saldierung des inter­nationalen Handels ... Daß das Inland schon jetzt kein Metallgeld bedarf, beweist die Suspension der Barzahlungen der sogenannten Nationalbanken, zu der als zum einzigen Hilfsmittel in allen extremen Fällen gegriffen wird.“

Heute ist dieser Zustand kein „extremer Fall“ mehr, sondern die normale Konstruktion der Währungen fast aller kapitalistischen Staaten; selbst dort, wo gesetzlich noch ein freier Goldumlauf besteht, spielt er praktisch keine Rolle mehr.

Obwohl also das tragende Grundprinzip der Currencytheorie —die Koppelung der Notenzirkulation an den Metallschatz und die unterschiedslose Anwendung der gleichen Gesetze auf beide — be­seitigt ist, versucht man es, sie in einer neuen Form wieder zum Leben zu erwecken. Nach wie vor wird die Menge des umlaufenden Geldes als das wichtigste Moment der Preisbestimmung betrachtet, wobei es höchstens als angenehm empfunden wird, daß infolge der Ersetzung des Goldes durch das Papier der Zusammenhang mit der Bestimmung des Wertes durch die Arbeit völlig verlorengeht.

Die Regulierung der Geldmenge geschieht durch den Bankzinsfuß, mit dessen Erhöhung die umlaufende Geldmenge sinkt, mit dessen Senkung sie steigt. Entsprechend bewegen sich die Preise; Zins­steigerung senkt sie, Zinserniedrigung erhöht sie. Auf Grundlage dieser Theorie erwächst die Anschauung von dem Einfluß der den Zinsfuß regulierenden Notenbanken auf den Konjunkturzyklus.  Die Tatsache, daß Stagnation und sinkender Zinsfuß einerseits, Prosperität und steigender Zinsfuß anderseits zusammenfallen, wird dahin ausgedeutet, daß es in der Hand der Notenbanken liege, die Konjunktur anzufachen oder zu bremsen, vor allem aber allzu starke Schwankungen oder gar Krisen auszuschalten.

Damit ist der Zinsfuß, also die äußerlichste Erscheinung des kapitalistischen Prozesses, zur letzten Ursache in dem Geflecht seiner Wechselwirkungen geworden, und die von Marx gerade in dem vor­liegenden Band so vielfach gekennzeichnete „Verdinglichung“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, der Fetischcharakter des Kapitals ist vollendet.

Gleichzeitig mit dieser Betonung des Einflusses des Zinsniveaus auf die Konjunkturgestaltung entstehen Theorien, die die Möglich­keit der Schöpfung zusätzlicher Kaufkraft durch Vermehrung des Geldumlaufs oder durch Ausweitung des Kredits — beides wird. meistens als gleichbedeutend angesehen — behaupten. Die Er­scheinungen der Inflation werden aus Kaufkraftverschiebungen in Kaufkraftschöpfung umgedeutet, jede Erweiterung des Geldum­laufes, auch wenn sie ohne Erschütterung der Goldeinlösung und ohne Entwertung des umlaufenden Geldes vor sich geht, wird mit der Infla­tion gleichgesetzt, ebenso wie umgekehrt die Einschränkung der Menge des umlaufenden Geldes mit der Deflation — und so nähern wir uns wieder jener phantastischen Ueberschätzung des Kredits, die nach Marx' Worten „den Hauptverkündern des Kredits von Law bis Isaac Pereire ihren angenehmen Mischcharakter von Schwindler und Prophet gibt“. Ihren deutlichsten Ausdruck hat diese Ueber­schätzung in den überschwenglichen Erwartungen gefunden, mit denen der Plan der Gründung einer internationalen Reparationsbank begrüßt wurde, auf den sich die angesehensten ökonomischen Fachmänner aller Länder bei der Beratung des Youngplanes geeinigt haben.

Wie weit die Macht des Kredits reicht, wie sehr gerade seine Ausdehnung die Krisen verschärft, deren Vermeidung durch die systematische Handhabung der Zinsschraube von der modernen Konjunkturtheorie für möglich erklärt wird, vor allem aber, wie stark dieses ganze künstliche Gebäude von dem Zustand seiner Grundlage, der Produktionsverhältnisse, abhängig ist, die bei jeder der häufigen Erschütterungen des Kreditsystems zutage treten — all das finden wir im 5. Abschnitt des vorliegenden Buches eingehend dargestellt. Und ebenso wie die Argumente der bürgerlichen Oeko­nomen jener Zeit mit den heute verwendeten oft eine verblüffende Aehnlichkeit besitzen, muten auch die Marxschen Antworten durch­aus modern an.

Eine Befruchtung der Diskussion über den ganzen Problem­komplex, eine Stärkung des bisher noch recht zaghaft geäußerten marxistischen Standpunktes wäre die beste Rechtfertigung der Volks­ausgabe dieses Bandes.

Das gleiche gilt, wenn auch vielleicht nicht im gleichen Maße, von der wissenschaftlichen Erforschung der Agrarkrise. In der ganzen Debatte darüber in unsern Reihen spielt bemerkenswerter-weise die Grundrente eine verblüffend geringe Rolle. Soweit wir sehen können, wird die Frage, welche Höhe die Rente heute hat, fast nirgends zahlenmäßig untersucht. Jedoch die allgemeinen Klagen über die Höhe der Bodenpreise lassen bei der außerordentlichen Höhe der Zinssätze vermuten, daß trotz der Agrarkrise die Grundrente von ihrer Vorkriegshöhe zum mindesten nichts eingebüßt hat.

Mehr Aufmerksamkeit hat die Bergwerksrente erregt, deren Bedeutung der englische Bergarbeiterstreik des Jahres 1926 deutlich hervortreten ließ. Ein wichtiges Objekt der politischen, insbesondere der sozialpolitischen Kämpfe der Arbeiterschaft seit der Revolution bildet die städtische Grundrente (von Marx als Baustellenrente bezeichnet). Der Kampf um den Mieterschutz, der in allen krieg-führenden Ländern eingeführt wurde und in größerer oder geringerer Vollkommenheit noch besteht, die Bekämpfung des Bodenwuchers, die Förderung der öffentlichen Bautätigkeit und die behördliche Regulierung der Mietenbildung — alles das sind Eingriffe in die be­stehende Eigentumsordnung, aber auch in die Verteilung des den Besitzern der Produktionsmittel zufallenden Mehrwerts.

Die von Ricardo zuerst deutlich hervorgehobene und polemisch ausgenützte Erkenntnis, daß die Grundrente nur einen Teil des Mehrwerts bildet, ist heute in ganz anderer Form Gemeingut der ökonomischen Theorie geworden. Der industrielle Kapitalist erkennt die Analogie zwischen Rente und Profit als Ergebnisse zwar verschiedener, aber im Endeffekt gleicher Ausbeutungsmethoden an; und wie schon die Krise der siebziger Jahre durch die Einführung der Hochschutz­zölle den Gegensatz zwischen Industrie und Großgrundbesitz aus dem Weg geräumt hat, vollzieht sich heute bei der Bekämpfung der staat­lichen Eingriffe in die freie Bodenpreis- und Mietenbildung die Eini­gung zwischen Industrie und städtischem Grundbesitz.

Dennoch wäre es falsch, über dieser Einigung der früher einander feindlichen Schichten der besitzenden Klassen die Trennungsstriche zwischen ihnen, vor allem aber auch die ökonomische Bedeutung der einzelnen Schichten und der ihnen zugrunde liegenden Formen der Mehrwertteile zu übersehen.

Es ist kein Zufall, daß sich die Hauptwucht des proletarischen Angriffs auf die kapitalistische Eigentumsordnung vor allem gegen das Grundeigentum richtet, denn hier ist das bloße Eigentum als Anspruch auf Einkommen ohne die Ausübung einer ökonomischen Funktion am deutlichsten ausgeprägt. Der Kampf gegen die Grund­rente führt das Proletariat auf Forderungen zurück, die das Bürger­tum in seiner revolutionären Zeit selbst verfochten hat — eine Er­scheinung, der wir sonst vor allem auf kulturpolitischem Gebiet begegnen.

Der Kampf gegen die Rente ist der Kampf gegen eine Last, die nicht nur das Proletariat, sondern auch die kapitalistische Gesell­schaft bedrückt. Auch an diesem Beispiel zeigt sich die Richtigkeit der schon im Vorwort zur Volksausgabe des II. Bandes aus­gesprochenen Anschauung, daß zu den Gegenwartsaufgaben des Proletariats „nicht bloß die Ueberwindung der kapitalistischen Produk­tionsweise und ihre Ersetzung durch die sozialistische gehört, sondern auch die Verteidigung der Gesetze dieser Produktionsweise gegen ihre Vergewaltigung durch die Monopolisten des Großkapitals, die verbündet sind mit Großagrariern, Generalen, Bureaukraten, Professoren usw.“

Wenn die Volksausgabe die Arbeiterschaft in diesem schwie­rigen, ebensowohl theoretische Kenntnisse wie praktische Energie erfordernden Kampf unterstützt, dann hat sie ihren Zweck erfüllt.

Wien, im September 1929
Benedikt Kautsky

Ähnliches: 

„Die Untersuchungsmethode, deren ich mich bedient habe (…), macht die Lektüre der ersten Kapitel ziemlich schwierig...“

London, 18. März 1872 An den Bürger Maurice La Châtre Werter Bürger!

„…auf mich fiel nun die Pflicht, die Herausgabe sowohl dieser dritten Auflage wie des handschriftlich hinterlassenen zweiten Bandes zu besorgen.“

Es war Marx nicht vergönnt, diese dritte Auflage selbst druckfertig zu machen. Der gewaltige Denker, vor dessen Größe sich jetzt auch die Gegner neigen, starb am 14. März 1883.

„‚Das Kapital‘ wird auf dem Kontinent oft ‚die Bibel der Arbeiterklasse‘ genannt.“

Die Veröffentlichung einer englischen Ausgabe des „Kapital“ bedarf keiner Rechtfertigung. Im Gegenteil, es kann eine Erklärung darüber erwartet werden, warum diese englische Ausgabe bis jetzt verzögert worden ist, wenn man sieht, daß seit einigen Jahren die in diesem Buch vertretenen Theorien in der periodischen Presse und Tagesliteratur sowohl Englands wie Amerikas ständig erwähnt, angegriffen und verteidigt, erklärt und mißdeutet wurden.

„Die Arbeit ist das Mass des Werts“