"...die Arbeiterklasse muss Ihren Kampf heute mehr als je zuvor ebenfalls international führen."
Vorwort zum Manifest der Kommunistischen Partei von Johannes Schult. Phönix Verlag Hamburg 1946, (incl. Vorwort von K. Kautsky vom Juni 1906, sowie der Kundgebung des Parteitags der SPD am 11. Mai 1946 in Hannover als Anhang)
Vorwort
Seit Kautsky das nachstehende Vorwort verfaßt hat, sind wieder 40 Jahre vergangen und im nächsten Jahre ein volles Jahrhundert seit der Abfassung des Kommunistischen Manifestes. Mußte Kautsky schon darlegen, daß sich die politische Gesamtlage in Europa seit der Revolution von 1848 grundlegend verändert habe, so sind die letzten 40 Jahre durch eine drängende Rolle revolutionierender Ereignisse von ungeheurer Tragweite angefüllt. Man muß weit in die europäische Geschichte zurückgehen, wenn man eine Zeit auffinden will, die so kolossale Umwälzungen in so wenige Jahrzehnte zusammengedrängt aufweist.
Die imperialistische Politik aller Großmächte entlud sich 1914 im ersten Weltkrieg; Österreich-Ungarn zerbrach, Deutschland schied als Großmacht vorübergehend aus; der Zarismus brach zusammen, das großartige Experiment des Bolschewismus begann; in Ostasien vollzog sich eine jahrzehntelange Revolution; die Welt rückte näher zusammen, so daß sich auch die inneren Angelegenheiten jedes Staates in allen anderen Ländern bemerkbar machten; die Weltwirtschaft nahm einen ungeheuren Aufschwung; in reinen Agrarländern entwickelten sich große Industrien; in riesigen Agrargebieten entstand eine wissenschafllich gelenkte Landwirtschaft; Europas führende Stellung in der Welt wurde erschüttert. Der Kapitalismus trat in seine Endphase ein. In allen wirtschaftlich schwachen Großmächten entstand die politische Diktatur (Rußland, Italien, Japan, Deutschland, Spanien); es kam zu einem neuen, unsäglich gewaltsameren Zusammenstoß von Nationen, die sich um die Beherrschung der Rohstoffländer und der Absatzgebiete in den zweiten Weltkrieg stürzten, aus dessen Zerstörungen eine Welt hervorging, deren Züge kaum noch eine Ähnlichkeit mit der voraufgegangenen Geschichtsperiode aufweisen. Das System der Großmächte vereinfachte sich so sehr, daß tatsächlich nur noch drei Staaten die Politik der Welt bestimmen. Am Ende steht ein ungeheures Chaos, das von den Gestaden des Stillen Ozeans durch Asien und Europa zieht und alle Völker der Weil vor riesenhafte Aufgaben stellt, vor Situationen, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat.
Von hier aus ist die Frage nach der Gültigkeit des Kommunistischen Manifestes zu stellen. Schon Engels und Marx hatten die Teile ihrer Schrift, die sich auf die politische Situation ihrer Zeit bezogen, preisgegeben, und Kautsky zeigt in seinem Vorwort weitere Punkte auf, in denen die Schrift durch die neue Entwicklung überholt ist. Es könnte vermutet werden, daß das Kommunistische Manifest heute n u r noch geschichtlichen Wert habe, daß es also unserer Zeit nichts mehr zu sagen habe. Diese Frage soll hier behandelt werden. Der Abschnitt "Bourgeoisie und Proletarier" beginnt mit einer der viel zitierten, viel mißverstandenen und vielbekämpften Formulierungen der materialistischen Geschichtsauffassung. Die Richtigkeit dieser Auffassung nachzuweisen, ist hier nicht der Ort. Außerdem dürften die geschichtlichen Ereignisse, deren Zeugen wir geworden sind, eine beredtere Sprache führen. Für den Leser, der die Schriften von Marx und Engels nicht kennt, sei darauf verwiesen, daß zur Ergänzung noch andere Formulierungen herangezogen werden müssen. Immer wieder haben die beiden Schöpfer des wissenschaftlichen Sozialismus betont, daß nicht die Philosophie, sondern die Ökonomie jedem Zeitalter sein Gepräge aufdruckt. "Es ist nicht das Bewußtsein, welches das Sein, es ist vielmehr das gesellschaftliche Sein, welches das Bewußtsein erzeugt." Wie die Ökonomie den geschichtlichen Ablauf beeinflußt, das ist damit noch nicht gesagt. Engels hat sich späterhin oft genug gegen Marxisten und Nichtmarxisten zur Wehr setzen müssen, damit nicht seine Geschichtsauffassung falsch angewendet oder ausgelegt werde. Marx und Engels haben in ihren geschichtlichen Schriften, worin sie die Methode des historischen Materialismus meisterhaft anwandten, immer wieder darauf hingewiesen, daß jeder geschichtliche Vorgang ein oft schwer zu entwirrendes Netz von Ursachen und Wirkungen ist. Neben dem ökonomischen Faktor, der das letzte bestimmende Moment ist, sind zahlreiche Faktoren mitbestimmend für den Ablauf der Geschichte. Das Wirtschaftsleben (die Ökonomie) bildet die immer wieder entscheidende Grundlage alles Lebens; seine Veränderungen bedingen Veränderungen in anderen Lebensgebieten der Gesellschaft, manche sofort, andere erst in geringeren oder größeren Zeitabständen. Das Verhältnis, worin der Einzelne innerhalb des Wirtschaftslebens steht, ordnet ihn einer bestimmten Klasse zu. Ob er Besitzer von Grund und Boden, von landwirtschaftlichen, handwerklichen, industriellen, kaufmännischen Betrieben, Klein-, Mittel- oder Großbesitzer oder innerhalb solcher Betriebe als Lohnarbeiter oder Angestellter tätig ist, das bestimmt seine Klassenzugehörigkeit, seine Klasseninteressen sind damit seine eventuelle Teilnahme am Klassenkampf um die Wahrung seiner wirtschaftlichen Interessen. So gesehen, gibt es eine ganze Anzahl besitzender und nicht besitzender Klassen, deren Interessen zum Teil miteinander übereinstimmen, zum Teil auseinandergehen. Die Veränderungen im Wirtschaftsleben rufen unmittelbar Veränderungen in der Klassengliederung hervor. Somit stehen also Okonomie und soziale Gliederung im engsten ursächlichen Zusammenhang miteinander.
Viel verwickelter sind die Wirkungen, die das wirtschaftliche und das soziale Leben auf das politische und das geistige ausüben. Hier handelt es sich darum, ob die materielle Lage den Betroffenen zum Bewußtsein kommt oder nicht. Der menschliche Geist hat stark konservative Neigungen, und die meisten Menschen lernen außerordentlich langsam aus den Ereignissen, in die sie hineingerissen werden. So trauerte das Kleinhandwerk viele Jahrzehnte während seines Untergangs der "guten, alten Zeit" nach, zog also aus seiner neuen wirtschaftlichen und sozialen Lage völlig falsche Schlüsse. Das politische Denken und alle sonstige geistige Stellungnahme nennen Marx und Engels den ideologischen Überbau, von dem sie behaupten, daß er sich mit den Veränderungen der materiellen Bedingungen, also den Veränderungen des wirtschaftlichen und des sozialen Lebens ebenfalls umwälze, sich also der neuen wirtschaftlichen und sozialen Lage anpasse.
Sie haben nie behauptet, daß dieses mechanisch vor sich gehe, auch nie, daß dieser Vorgang sich in unmittelbarer zeitlicher Aufeinanderfolge vollziehe, haben vielmehr oft genug auf die Zähigkeit hingewiesen, womit sich der alte ideologische Überbau zu erhalten sucht. Ihr ganzes Leben war ausgefüllt mit dem Kampf gegen eine überalterte Ideologie. Sie prägten auch den Ausdruck der Klassenideologie, indem sie behaupteten, daß jede Klasse ihre besondere Ideologie entwickle. Da nebeneinander moderne Klassen und Klassenreste aus der Vergangenheit leben, so ist die Ideologie, im Querschnitt einer Zeit gesehen, bunt genug. Hier gilt es, das Vergehende und das Werdende klar zu erkennen, das erste abzutun und das letztere zu fordern. Soweit sich die lebendigen Bemühungen der Menschen auf politische Fragen richten, ist hier ein besonderes, wenn auch nicht scharf vom wirtschaftlichsozialen Leben abgegrenztes Gebiet erkennbar. Soweit sich das geistige Leben auf philosophische, religiöse, ethische, juristische, ästhetische, wissenschaftliche Gebiete richtet, ist ein weiteres reiches und viel gegliedertes, jedoch auch von den übrigen Lebensgebieten nicht scharf abgegrenztes Sondergebiet zu erkennen.
Wirtschaftsleben, soziales Leben, politisches Leben und geistiges Leben, sie geben in ihrem Zusammenklang das Leben eines Volkes, einer Zeit, ja der Menschheit in einem Gesamtbilde wieder. Innerhalb des Ganzen schießen die Fäden hin und her. Jedes dieser Lebensgebiete hat seine eigenen Entwicklungstendenzen und wirkt auf jedes der anderen Lebensgebiete mitgestaltend ein. In diese bunte Fülle wirken dann noch Naturereignisse, andere Völker, geschichtliche Ereignisse kleinen und großen Ausmaßes hinein, so daß das Gesamtbild eine unendliche Mannigfaltigkeit aufweist. Innerhalb der Wechselwirkung aller aufgezählten und nicht aufgezählten Faktoren aber setzt sich immer wieder unerbittlich als letzter bestimmender Faktor das Wirtschaftsleben durch, die Ökonomie. Es soll nicht geleugnet worden, daß der Mensch nicht nur ein ökonomisches und soziales, daß er auch ein Naturwesen ist, das Naturgesetzen unterliegt, daß auch sein Geist gewisse unveränderliche Züge hat. Ob, wie und in welchem Umfange die materiellen Tatsachen ins Bewußtsein übergehen, ob und in welchem Maße außer der intellektuellen Erkenntnis auch andere Reaktionen des menschlichen Geistes stattfinden, das alles untersucht die Seelenkunde, die Psychologie, von der Individual-Psychologie bis zur Massen-Psychologie (Völker-Psychologie, Klassen-Psychologie usw.), von der Psycho-Physik bis zur geisteswissenschaftlichen Psychologie.
In der geistigen Natur des Menschen liegen Erklärungsgründe für manche geschichtliche Erscheinungen. Und doch setzen sich auch hier die materiellen Gesichtspunkte, und das heißt für uns Menschen, die ökonomischen und sozialen, in letzter Instanz immer wieder durch; denn wie alles menschliche Leben im Grunde von materiellen Faktoren abhängt, so formt die Gesamtheit der ökonomischen und sozialen Lebensverhältnisse das Seelenleben der Einzelnen wie der Masse, Ihre rationalen und irrationalen Seeleninhalte, und nur wenige geistig besonders hervorragende Menschen vermögen sich von diesen Einflüssen teils oder ganz freizuhalten. Daß sich die Renaissance in Italien entwickelte ist nur zu verstehen aus der Wirtschaftsblüte der italienischen Städte des ausgehenden Mittelalters. Daß sich in den Niederlanden um 1600 eine hohe geistige und künstlerische Kultur entwickelte, ist der wirtschaftlichen Blüte dieses fleißigen Völkchens zu danken. Wie sich jedoch in ihren Einzelheiten derartige Kulturen entwickeln, hängt von zahllosen Einzelfaktoren ab. Die Ökonomie ist die Grundlage all dieser Kulturen, wie der Boden die Grundlage der Landwirtschaft ist. Die Bodengüte, die Bodenlage und alle anderen Faktoren, die den Boden in seiner Eigenart bestimmen, sind die V o r a u s s e t z u n g e n für den Ertrag. W a s aber auf dem jeweiligen Stück Boden gedeiht, das bestimmt im einzelnen nicht der Boden, sondern der Mensch aus seiner Ideologie heraus, die wiederum die praktischen Erwägungen seiner Lebensfunktion berücksichtigt.
Ist also dieser eine Hauptgedanke des Kommunistischen Manifestes heute nicht nur nicht veraltet, erweist er sich vielmehr seit der Abfassung der Schrift in steigendem Maße als richtig, so gilt das gleiche von dem anderen Grundgedanken, der Entwicklungstendenz der kapitalistischen Wirtschaft. In wenigen charakteristischen Gedankengängen weist die Schrift die revolutionierende Rolle des Bürgertums in der neueren Geschichte auf. Was das Kommunistische Manifest über die Rolle des Bürgertums in der Geschichte sagt, gehört zu dem Schatz unübertrefflicher Formulierungen, an denen die Schriften von Marx und Engels so reich sind. Jahrzehntelang hat man das Kommunistische Manifest in bürgerlichen Kreisen totgeschwiegen; nachher hat man es lächerlich zu machen versucht, unabsichtlich oder absichtlich mißverstanden und mit großer Überheblichkeit kritisiert. Die Schrift zu lesen, hielten die bürgerlichen Intellektuellen für unnötig oder unter ihrer Würde. Und dennoch ist der Abschnitt über Bourgeoisie und Proletariat geradezu das Hohe Lied der Leistungen des Bürgertums, dessen es sich gewiß nicht zu schämen braucht. "Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum l00jährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen, als alle vergangenen Generationen zusammen." Gewiß ist die Schilderung des Kommunistischen Manifestes über die Rolle und die Leistungen des Bürgertums in der Geschichte einseitig und unvollständig. Die geistigen Leistungen, die aus dem Schoße der Bourgeoisie in den verschiedensten Ländern hervorgegangen sind, werden nicht erwähnt, nicht die Kunst der Renaissance in Italien, die Wissenschaft des Humanismus, die Blüte der Literatur in Spanien, der Malerei, der Philosophie und der Staatswissenschaften in den Niederlanden, die Blütezeit der englischen Literatur, die klassische deutsche Musik, Philosophie und Dichtkunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Bürgertum braucht sich gewiß dieser Leistungen nicht zu schämen, auch nicht seiner politischen, die in der Schaffung der Vereinigten Staaten von Nordamerika und der englischen Demokratie Ihre klassischen Höhepunkte erreichte. Wenn das d e u t s c h e Bürgertum mit Verachtung vom Kommunistischen Manifest sprach, dann allerdings in dem Gefühl, daß es unter den national zusammengefaßten bürgerlichen Klassen die erbärmlichste Rolle gespielt hat.
Niemals, von dem einen mißglückten Versuch im Jahre 1848/49 abgesehen, hat das deutsche Bürgertum nach der politischen Macht gegriffen, und das hat wesentlich zu dem Unglück der Gegenwart beigetragen. So gewaltig die wirtschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Leistungen des deutschen Bürgertums sind, so kläglich ist die politische Rolle, die es bislang gespielt hat. Von den Zeiten Metternichs über die Zeiten Bismarcks bis hin zu Hindenburg und Hitler. Niemals in der Weltgeschichte hat eine Klasse politisch so kläglich versagt, wie das deutsche Bürgertum, trotz der ungeheuren Fülle hochbegabter, ja genialer Persönlichkeiten, die es hervorgebracht hat. Höchstens ließe sich ein Vergleich mit der polnischen Schlachta ziehen, die auch ihren Staat korrumpiert und in den Abgrund gestürzt hat. Diesem Bürgertum stellt die Schrift das moderne Proletariat gegenüber, ohne das dies Bürgertum nicht bestehen kann. Auch hier sind in wenigen Sätzen die wesentlichen Tatsachen aus der kurzen Geschichte des modernen Proletariats geschildert. Erst gegen das Ende des ersten Abschnitts der Schrift wird der sozialistisch geschulte Leser stutzig. Die Behauptung, daß der moderne Lohnarbeiter immer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herabsinke, hat sich in dieser lapidaren und stark vereinfachten Form nicht als Tatsache erwiesen. Die Tendenz allerdings, die aus diesem Salz des Manifestes spricht, bestand und besteht latent weiter. Inzwischen aber hat sich die Arbeiterbewegung in allen modernen Staaten so weit entwickelt, daß sie zu einem handelnden Faktor der Wirtschaftsgestaltung und der Politik geworden ist. Dazu war es nicht nötig, erst den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Kapitalismus in einer letzten Krise abzuwarten. Im Schoße der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wuchs die Macht heran, die den Kapitalismus beerben wird. Sie griff schon Jahrzehnte vor dem zweiten
Weltkrieg umgestaltend in die Verhältnisse ein und setzte wesentliche Verbesserungen der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse durch. Dies gelang ihr in besonderem Maße in den demokratischen Ländern, während sie in Ländern mit vollem oder halbem Absolutismus keine oder geringe Erfolge erzielte. Dies ist der vielgeschmähte und vielfach mißverstandene Klassenkampf, ein Kampf nicht nur um die materielle Existenz, ein Kampf auch um einen Anteil an der Kultur.
Mag nun die Voraussage, daß der moderne Arbeiter immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herabsinkt, sich auch als falsch erwiesen haben, so berührt dies den Grundgedanken des Manifestes in keiner Weise. Dieser Grundgedanke ist die Voraussage der wirtschaftlichen Entwicklung, die Zermahlung der Mittelstände, die Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen. Der Einwand, daß das Eigentumsrecht an den Kapitalien sich zu einem sehr großen Teil in den Händen der kleinen Sparer und der Rentner, auch in den Händen des Mittelstandes befindet, ist lächerlich; es kommt ganz allein darauf an, wer die Verfügungsgewalt über die zusammengeballten Kapitalmassen hat, und die Zahl dieser Personen wird immer geringer. Darin hat sich die Voraussage des Kommunistischen Manifestes glänzend bewahrheitet. Höchstens in einem Punkte mußte eine Berichtigung erfolgen. Das Manifest erwartet die Zusammenballung des Kapitals in den Händen von Privaten. Wir sehen heute im Zeitalter des Monopol-Kapitalismus, daß sich die im wesentlichen national zusammengeschlossenen Kapitalistenklassen der Staatsgewalt bedienen oder bemächtigen, damit sie den Kampf um die Rohstoffquellen und die Absatzmärkte der Welt führen können. Die beiden Weltkriege sind die klassischen Beispiele hierfür. Hier standen die Kapitalistenklassen der Länder einander gegenüber, und in diesen gewalttätigsten Kämpfen, die die Menschheit je erlebt hat, ist die Zusammenballung der Kapitalien mit Riesenschritten weitergeführt worden. Die Marxsche Voraussage über die Konzentration des Kapitals hat damit eine glänzende Bestätigung gefunden.
Die Arbeiterklasse, die bis dahin ihren Kampf im wesentlichen auf nationaler Basis geführt hat, erkannte die neue Situation schon frühzeitig und trat auf den neuen Kampfboden. Für die Arbeiterklasse handelt es sich um die Eroberung der Staatsgewalt. Das ist die neue Form des Klassenkampfes. Die Bourgeoisie hat dies schon längst begriffen und durchgeführt. Zwei Großmächte sind es heute, in denen die Arbeiterklasse dies Ziel erreicht hat: Rußland und das britische Weltreich. Ob allerdings der Weg, den die proletarische Revolution in Rußland bisher gegangen ist, als ein reiner Fall proletarischer Revolution bezeichnet werden darf, ist äußerst fraglich, da es sich in diesem Lande nicht um eine Diktatur des Proletariats, sondern um die Diktatur einer verschwindend kleinen Zahl von Machthabern ü b e r das Proletariat und ein ganzes Volk handelt. Wie jeder Absolutismus gibt auch der heutige russische Absolutismus vor, nach dem Grundsatz zu handeln: Alles für das Volk, aber nichts durch das Volk. Das gleiche sagten auch die Führer des Faschismus und des Nationalsozialismus, der spanischen Falange und der japanischen Militärdiktatur. Die Verwirklichung des Sozialismus ohne oder gar gegen den Willen der großen Masse der Lohnarbeiter wird immer ein zweifelhafter Versuch bleiben. So intolerant der Sozialismus gegen den Kapitalismus sein muß, so tolerant muß er gegen die Angehörigen seiner eigenen Klasse sein. Es gilt nicht, die Arbeiter zum Sozialismus zu zwingen, es gilt sie für ihn zu
gewinnen.
Wenn das Kommunistische Manifest in seinem 3. Teil die sozialistischen Strömungen seiner Entstehungszeit schildert und kritisiert, so hat der Leser hieran nur ein historisches Interesse. Und dennoch: Treten nicht auch in diesem Augenblick wieder zahlreiche Strömungen auf, die sich sozialistisch nennen und eine verzweifelte Ähnlichkeit mit denen haben, die das Kommunistische Manifest schildert. Wer denkt da nicht an Oswald Spenglers Schrift "Preußentum und Sozialismus"? Wer denkt nicht an den christlichen Sozialismus, der heute wieder in den Ländern des europäischen Festlandes umgeht? Haben nicht auch Faschismus und Nationalsozialismus sich ein sozialistisches Mäntelchen umgehängt? Hier gilt es für die Arbeiterklasse, die Augen offenzuhalten, um nicht noch einmal um den Sieg betrogen zu werden. Immer internationaler ist das Kapital geworden, und die Arbeiterklasse muß Ihren Kampf heute mehr als je zuvor ebenfalls international führen. Schon zeichnen sich übergeordnete Staatsgewalten in der Zusammenfassung der meisten Staaten der Welt deutlich ab. Um so mehr gilt der Schlachtruf, mit dem das Kommunistische Manifest schließt: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!
Hamburg, im August 1946
Johannes Schult.
Ähnliches:
„Die praktische Anwendung dieser Grundsätze, erklärt das Manifest selbst, wird überall und jederzeit von den geschichtlich vorliegenden Umständen abhängen.“
„Das Manifest läßt der revolutionären Rolle, die der Kapitalismus in der Vergangenheit gespielt hat, volle Gerechtigkeit widerfahren.“
„Es atmet die Grösse und Weite echter Weltkultur.“
Um die Dinge greifbar und begreifbar zu machen, haben die Menschen die Zuordnung und die Charakterisierung erfunden. Das „Manifest der Kommunistischen Partei“ läßt sich zu allererst als ein historisches Dokument einordnen; vorsichtigerweise sollten wir hinzufügen: vorläufig …