Frieden im Zwielicht (Teil 3)

Mit dem Friedenschluss verschärften sich durch Gebietsverluste und andere Verpflichtungen eine ganze Reihe von ohnehin bestehenden Problemen – so auf dem Gebiet der Versorgung mit Nahrungsmitteln, im Transportwesen und natürlich auch in der Sicherheits- und Militärpolitik. Auf die entstandenen Fragen hatten die Bolschewiki und die Partei der Linken Sozialisten-Revolutionäre (PLSR) in den meisten Fällen unterschiedliche Antworten.

Weichenstellung in Sowjetrussland

Lutz Häfner konstatiert in einer Analyse der programmatischen Ausrichtung von Bolschewiki und PLSR, dass sich neben der Friedensfrage drei Konfliktbereiche zwischen der Partei der linken Sozialisten-Revolutionäre (PLSR) und den Bolschewiki entwickelten – Rote Armee, die Verfassungsfrage und Todesstrafe. Dazu kamen die Agrar- und Versorgungspolitik sowie das Verhältnis zu den Sowjets: gewählte Sowjets wurde unter verschiedenen Vorwänden aufgelöst und Menschewiki sowie Delegierte der rechten SozialistInnen-RevolutionärInnen ausgeschlossen. (vgl. Häfner 1994, 457ff.) Isaak Steinberg, führender PLSRer und bis Mitte März 1918 Volkskommissar für Justiz, charakterisierte das Verhältnis zwischen Bolschewiki und PLSR so:

„Die ersten drei Monate arbeiteten die beiden Parteien in einer gewissen Solidarität. Sie waren verbunden durch den gemeinsamen Kampf für den internationalen Frieden und durch das gemeinsame Streben, die Grundlagen einer radikalen sozialistischen Umformung Rußlands zu schaffen. Späterhin stellten sich aber unter ihnen Meinungsverschiedenheiten ein. Insbesondere fanden diese ihren Ausdruck in den Fragen der Beziehung zum Bauerntum, die Anwendung der revolutionären Gewalt und des Abschlusses des Friedens in Brest-Litowsk.“ (Šṭeinberg 1929, 13)

Auf dem III. Gesamtrussischen Sowjetkongress im Januar 1918 verkündete Lenin:

„Das Bündnis, das wir mit den linken Sozialrevolutionären geschlossen haben, ist auf einem festen Grund errichtet und festigt sich von Tag zu Tag, ja von Stunde zu Stunde. Wenn wir in der ersten Zeit im Rat der Volkskommissare befürchten mußten, daß der Fraktionskampf die Arbeit hemmen werde, so muß ich heute nach den Erfahrungen von zwei Monaten gemeinsamer Arbeit mit aller Bestimmtheit erklären, daß bei uns in den meisten Fragen einstimmige Beschlüsse zustande kommen.“ (Lenin 1961, 458)

Das bedeutete allerdings nicht, dass die von Steinberg hervorgehobenen bzw. von Häfner herausgearbeiteten Konflikte nicht schon vorhanden waren. Diese Widerspruchsfelder betrafen übrigens auch das Verhältnis zwischen den Bolschewiki und anderen linken Strömungen sowie die Diskussionen unter den Bolschewiki selbst.

Gegenstand und Entfaltung der Widersprüche hängen eng mit den Bedingungen, unter denen die Bolschewiki im Oktober 1917 erfolgreich waren zusammen. Sie waren in der Oktoberrevolution erfolgreich, weil sie bereits seit Februar offen Forderungen der Massen aufgriffen und die einfache Wahrheit aussprachen, dass nur die Macht der Sowjets die Forderungen nach Land, Frieden und Demokratie verwirklichen könnte. Diese Wahrhaftigkeit des Momentes war der Kredit, den sie hatten und der durch die ersten Dekrete über den Frieden und über den Boden, die Offenlegung von Geheimverträgen, das Versprechen einer offenen Verhandlungsführung zu einem Friedensschluss usw. bestätigt zu sein schien. Das war letztlich auch die Grundlage, auf der nicht nur die ArbeiterInnen, sondern vor allem die Bauern-Soldaten sich den Bolschewiki anschlossen. Das Bündnis mit den linken SozialistInnen-RevolutionärInnen war Ausdruck dieser Gemeinsamkeit. Auf dem Kongress der Sowjets der Bauerndeputierten im November 1917 hatten die Linken SozialistInnen-RevolutionärInnen die Mehrheit. Ihnen war es zu verdanken, dass die Bauern die Oktoberrevolution unterstützten und damit den Beschlüssen des II. Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten erst reale Wirksamkeit verschafften. In vielen Sowjetinstitutionen, in der Armee und in den Roten Garden arbeiteten Mitglieder der PLSR an entscheidenden Stellen. (vgl. Leont’ev 2017)

Im ersten Halbjahr 1918 stellte sich die Frage, ob die Haltung der Bolschewiki strategisch oder taktisch motiviert gewesen war. In den oben genannten Konfliktfeldern ging es letztlich um die Wahrhaftigkeit des Versprechens des Oktober.

Dieses einzulösen war auch deshalb schwierig, weil sich unterschiedliche Grundpositionen unter den PolitikerInnen und unter den Funktionären mit unterschiedlichen Auffassungen der AktivistInnen „an der Basis“ kreuzten. Der Inhalt dessen, was Arbeiterkontrolle – und das nicht nur als betriebliche Aktion - tatsächlich bedeuten sollte, war völlig offen. So hatte sich der Oberste Volkswirtschaftsrat in den ersten Monaten seiner Existenz mit der Abgrenzung der Kompetenzen von Behörden, auch solchen, die von den Belegschaften zur Gestaltung der Kooperationsbeziehungen unter den Betrieben geschaffen wurden oder die aus der vorrevolutionären Zeit überlebt hatten, zu beschäftigen. Schließlich war durch den Zusammenbruch des Geld- und Finanzsystems (auch durch Sabotage) und das Fehlen industrieller Güter ein Austausch zwischen Stadt und Land nur schwer zu gestalten – der traditionelle Weg über Marktbeziehungen wie auch der avantgardistische über den direkten Produktenaustausch waren nur schwer zu realisieren. (vgl. Zvezdin 1991) Die Entwicklung von programmatischen Auffassungen in den unterschiedlichen revolutionär-linken Gruppierungen waren vor diesem Hintergrund in dem hier betrachteten Zeitraum immer unmittelbar und sofort einer praktischen Prüfung unterworfen. Außerdem lebte man, wie Isaak Steinberg es ausdrückte, „in der erhabenen Welt der Ideen.“ (Šṭeinberg 1929, 178) Dies galt für alle Gruppierungen und sozialen Schichtungen des revolutionären Flügels. Alles schien möglich, man hatte ja die Macht. Die Sprache und der heute mitunter befremdlich klingende Pathos führender Funktionäre aller linken Gruppierungen waren davon geprägt. Viele Debatten der Zeit, die mit viel Engagement und auch Hass innerhalb der Linken geführt wurden, muss man vor diesem Hintergrund sehen. Es teilten nicht alle die gleichen Ideen …

Alles lief auf die Frage hinaus, WIE man nun zum Sozialismus kommen wollte.

Wer ist der Hegemon in der aufzubauenden Gesellschaft?

Im Zusammenhang mit der Auflösung der Konstituierenden Versammlung war eine (vorläufige) Entscheidung für ein auf den Sowjets beruhendes politisches System und gegen den bürgerlichen Parlamentarismus gefallen. Das sagte aber noch nichts über den Träger des revolutionären Prozesses. Russland war ein Bauernland, somit hätte der Bauer naturgemäß als Hegemon der Revolution betrachtet werden können. Dem stand die bolschewistische Lesart gegenüber, die die Revolution als proletarische betrachtete und dementsprechend den ArbeiterInnen die führende Rolle zusprach.

Jüngere Forschungen zum sozial-kulturellen Profil der Arbeiterklasse betonen, dass von einer einheitlichen Klasse im frühen Sowjetrussland nicht gesprochen werden kann. Ein überaus großer Teil der ArbeiterInnen waren entweder bäuerlicher Herkunft oder auf andere Art noch mit der bäuerlichen Lebensweise verbunden. Fünf Prozent der Industriearbeiter waren Mitglied der Bolschewiki, ebenfalls fünf Prozent sollen als Teilnehmer an der Oktoberrevolution zu betrachten sein, wobei die passive Unterstützung, wie sich etwa in den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung zeigte, erheblich war. Auch in den Roten Garden spielten Arbeiter eine herausragende Rolle. (vgl. Postnikov/Felʹdman 2009, 304f.) Allerdings differierte die Unterstützung der Bolschewiki regional erheblich. Während in Petrograd und Moskau bei den Wahlen die Mehrheit der ArbeiterInnen den Bolschewiki folgte, erreichten sie in Charkov, Kursk, Ufa und anderen Industriestandorten nur 5-11 Prozent der Stimmen. (vgl. ebd., 306) Die revolutionäre Stimmung wurde dabei vor allem von jüngeren, weniger qualifizierten, noch enger an bäuerlichen Traditionen orientierten ArbeiterInnen getragen. Viele der erfahreneren und qualifizierten ArbeiterInnen waren aus ihrer gewerkschaftlichen Arbeit oder Funktionen in den Fabrikräten in die entstehenden wirtschaftsleitenden Institutionen der Sowjetmacht, in die Armee oder den Sicherheitsapparat gewechselt und/oder standen dem Bolschewismus kritisch gegenüber. ArbeiterInnen und HandwerkerInnen (Kustare) bildeten bestenfalls ein Drittel des Personals der höheren Leitungsebene, ein bedeutend kleinerer Teil waren ihrer Herkunft nach tatsächlich IndustriearbeiterInnen. (vgl. ebd., 308ff.) Diese Prozesse und die dabei entstehenden Widersprüche sind übrigens immer zu beobachten, wenn linke Bewegungen bzw. Parteien in Regierungspositionen gelangen. Deren Unterschätzung führt regelmäßig zu Enttäuschungen. (jüngst Brasilien, Venezuela, Griechenland) Die Orientierung eines Teils der ArbeiterInnen auf die Bolschewiki hinderte sie jedoch keinesfalls daran, ihre Interessen in Streiks und anderen Aktionen auch gegen die Bolschewiki bzw. die Sowjetmacht zum Ausdruck zu bringen. Zudem neigten in großen Industriebetrieben die Belegschaften oft auch den SozialistInnen-RevolutionärInnen zu.

Das Proletariat war also keinesfalls das, was in Theorie und Propaganda gezeichnet wurde. Es war auf einen Lern- und Konstitutionsprozess angewiesen, den es tatsächlich nur in den Fabrikkomitees und den Sowjets durch eigenes Handeln gemeinsam mit BäuerInnen und Intellektuellen absolvieren konnte. Das galt sinngemäß auch für die Bauernschaft. Mit dem Dekret über den Boden und die Praxis der Landaneignung war zwar (vor allem in den russischen Gebieten) die Dorfgemeinschaft gestärkt, aber die Richtung ihrer Entwicklung (sowohl gegenüber anderen kollektiven Subjekten als auch im Innern) noch nicht bestimmt. Es ging also darum, wie die aus ganz konkreten Umständen resultierende spontane Hinwendung zu revolutionären Ideen und zu emanzipatorischen Praxen (Sowjets, Arbeiterkontrolle, Demokratisierung der Armee, Geschlechterverhältnisse, Brechung des ideologischen Monopols der Kirche, Kunst, Bildung …) unter rückständigen materiellen und kulturellen Bedingungen sich stabilisieren und einen aufbauenden Sinn aneignen könnte. In der späteren Diskussion werden, in Abhängigkeit von den jeweiligen politischen Sympathien, vor allem die rückständigen Seiten des sowjetrussischen Lebens in den Mittelpunkt gestellt. Bezugspunkt ist dabei von den verschiedenen Seiten Lenins Charakteristik des Kulturniveaus der russischen Gesellschaft als „asiatisch-halbbarbarisch“. Hier ist sich Lenin in erstaunlicher Weise NACH der Revolution (genauer nach der Phase der Machtergreifung) mit den Vorwürfen wesentlicher Teile der russischen Intelligencija gegen die revolutionären Massen WÄHREND der Phase zwischen Februar und Oktober 1917 einig. Schon die Betrachtung des Verlaufs der Revolution wirft allerdings die Frage auf, warum dann überhaupt emanzipatorische Ansätze von diesen „halbbarbarischen“ Menschen entweder aufgegriffen wurden oder selbst entwickelt werden konnten.

Die PLSR folge demgegenüber dem Konzept der einheitlichen Klasse der Werktätigen, in der ArbeiterInnen und BäuerInnen eine mindestens gleichwertige Rolle spielen sollten. (vgl. Wallat 2013, 65f.) Sie setzte damit die langjährige programmatische Tradition der Narodniki fort. Dieses Konzept hatte unter anderem (der von Marx hoch geschätzte) Tschernyschewski entwickelt. Er vertrat 1857 die Auffassung, dass die Potenziale der Obščina, der bäuerlichen Dorfgemeinschaft, im Zuge einer gemeinsamen Revolution der „Werktätigen“ (der Bauern und Arbeiter) in emanzipatorischer Art zum Tragen kommen könnten. (vgl. Černyševskij 1948, 108–110) Er meinte, dass industrielle und landwirtschaftliche Arbeit in genossenschaftlichen Zusammenschlüssen gemeinsam geleistet werden würden. (Černyševskij 1949, 37ff.) Das Agrarprogramm der PLSR entsprach zu dem hier interessierenden Zeitpunkt den maßgeblich von Viktor Černov seit Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelten Ideen, die 1905/1906 von der damals einheitlichen Partei der Sozialisten-Revolutionäre als Programm angenommen wurden. (vgl. zur Übersicht Striegnitz 1999) Die PLSR sah sich als Verkörperung der damit verbundenen revolutionären Tradition.

Aus einem solchen Blickwinkel und unter Berücksichtigung der puren demographischen Strukturen war das Primat der einen oder anderen Gruppe unsinnig:

„Die Linken Sozialrevolutionäre verlangten die engste soziale und geistige Zusammenarbeit des Proletariats mit dem werktätigen Bauerntum und bekämpfte jede Herausarbeitung eines ausschließlich proletarischen Staates auf Kosten des arbeitenden Dorfes.“ (Šṭeinberg 1929, 14)

Steinberg betonte damit den Gedanken der von der Konstituierenden Versammlung abgelehnten Deklaration der Rechte des arbeitenden Volkes, die ja formal auch die Verfassung der jungen Sowjetmacht seit Ende Januar 1918 bestimmte, dass die Macht den „arbeitenden Klassen“ (also nicht einer Klasse) gehöre (vgl. ebd., 67). Im Jahr 1921 nimmt Steinberg rückblickend dann auch ausdrücklich Bezug auf Rosa Luxemburg und ihre Revolutionsauffassung (vgl. Steinberg 2001, 77f.)

Dieser Geist prägte auch den II. Parteitag der PLSR im April 1918. Magerovskij betonte z.B., dass die Sowjetmacht keine Errungenschaft einer Partei sei, sondern eine Schöpfung der werktätigen Massen. (PLSR 2000, 422f.) Rudakov versuchte an dieser Stelle, in den Referaten der Führungspersonen Steinberg und Kamkov entwickelten Ansätze zur Konsequenz zu führen und ging dabei über das Konzept der „Werktätigen“ hinaus. Er meinte, wenn die Arbeiterklasse durch die Ruinierung der Produktivkräfte desorganisiert sei, könne sie die Revolution nicht weitertreiben. Also müsse die Macht in die Hände einer anderen Klasse übergehen, in die Hände der werktätigen Bauern. Es sei somit eine neue Revolution, diesmal der werktätigen Bauern unter der Führung der PLSR nötig. (vgl. ebd., 400) Allerdings bleibt bei allen diesen Erwägungen ähnlich wie bei der leninschen Richtung unter den Bolschewiki eine Reihe von Fragezeichen. Bei allem Vertrauen in das Schöpferische der Massen bleiben den LSR letztlich auch nur die Organisation der kulturellen Voraussetzungen für eine nichtkapitalistische Entwicklung und eine auf die ökonomischen Interessen der Bauern eingehende Wirtschaftspolitik, für die aber einstweilen kaum Grundlagen bestanden. Dieser Ansatz wurde dann 1920/1921 von Trotzki, dann von Lenin mit der Neuen ökonomischen Politik (NÖP) aufgegriffen. Auch sehen wir bei Rudakov die Floskel „unter Führung der PLSR“, die durchaus einer der bolschewistischen Konzeption entsprechenden Richtung Raum gibt. Der russisch-sowjetische Agrarökonom Aleksandr Čajanov, der in den 1920er Jahren eine große Rolle bei den Versuchen einer Reform der Agrarverhältnisse spielte, stellte in einem utopischen Roman die Probleme dieses Weges auf interessante Weise dar. (vgl. Tschajanow 1984) Die entstehende Sowjetrepublik basierte auf intensiver Lohnarbeit, paternalistischer Kultur und Konkurrenz zu anderen Sowjetrepubliken, die auch in Kriegen ausgetragen wird – eine Dystopie, die tatsächlich einen gewissen Realitätsgehalt beanspruchen kann.

Lenin war bezüglich der Bauernschaft schon in seinen Arbeiten in den 1890er Jahren zu der Überzeugung gekommen, dass auch im russischen Dorf kapitalistische Verhältnisse bestimmend werden bzw. schon geworden sind. (vgl. zur Übersicht Brangsch 2017, 84ff.) Das bestimmte sein Verhältnis zur Bauernschaft. Als Soldaten waren sie ihm Revolutionäre gewesen, mit dem Ablegen des Soldatenrockes verwandelten sie sich vor allem in Kleinbürger, im günstigsten Falle unzuverlässige, schwankende Elemente und mindestens potenzielle Feinde. Lediglich der Dorfarmut vertraute er in gewissem Maße. Lenin hatte auch spätestens in seinen Imperialismus-Analysen den Schwerpunkt revolutionären Handelns aus der qualifizierten IndustriearbeiterInnenschaft in das „Unten“ verschoben, das nicht durch die unter imperialistischen Bedingungen möglichen Formen der Korrumpierung erfasst sei. Bauern und Bolschewiki kannten sich also schlecht. Zwar waren viele Bauern als Soldaten mit der Sowjetmacht und den Bolschewiki 1917/1918 bekannt geworden, die meisten aber erlebten sie erstmals im Frühjahr 1918: durch die gewaltsame Requirierung von Nahrungsmitteln für die Städte (vor allem Petrograd und Moskau) und die Armee. Aus der Sicht der Bauern war die „Ernährungsdiktatur“ der Bolschewiki ab Mitte 1918 im Rahmen des Kriegskommunismus nichts anderes als die Wiederholung des Versuches der Errichtung der „Diktatur der Stadt über das Land“ unter dem Zarismus, zumal die Eintreibung der Abgabe in erster Linie durch „Städter“ realisiert wurde – nicht von Organen der Bauernschaft. Das sich daraus schnell Widerstand entwickelte, der erst einmal nichts mit irgendwelchen politischen Präferenzen zu tun hatte, ist verständlich. Und genauso klar ist, dass die alte Oberschicht das ausnutzte, um dem Widerstand eine konterrevolutionäre, vor allem antibolschewistische (nicht unbedingt antisowjetische!) Richtung zu geben. Dies verstärkte natürlich unter den Bolschewiki die Vorbehalte gegen die Bauernschaft und schien die Orientierung allein auf die Dorfarmut als Bündnispartner zu rechtfertigen. Die grobschlächtige Unterteilung der Landbevölkerung in die drei Gruppen Dorfbourgeoisie/Kulaken – Mittelbauern – Dorfarmut/Dorfproletariat war Ausdruck eines nur oberflächlichen Herangehens an die Landbevölkerung und wurde schon zu dieser Zeit als unzureichend kritisiert. Tatsächlich ist bis heute nicht genau bekannt, wie das russische Dorf und die ländlichen Gemeinschaften in anderen Regionen Russlands zu dieser Zeit sozial funktionierten (was übrigens auch für Westeuropa gilt).

Es zeigt sich also, dass unter den gegebenen Bedingungen das Proletariat zwar die entscheidende Kraft des Momentes der Revolution in den Städten und Industrie- und damit Machtzentren gewesen ist, dass es im revolutionären Prozess dann eine hegemoniale, prägende Rolle übernehmen konnte, ist aber anzuzweifeln. Insofern war das PLSR-Konzept der „Werktätigen“ als Subjekt des revolutionären Prozesses durchaus naheliegend. Seine Realisierung durch eine auch die Bauern befriedigende Politik stieß aber in der Realität an durch Krieg und Raubfrieden gesetzte enge materielle Grenzen.

In einer der Antworten auf die Herausforderungen waren sich die Bolschewiki und die PLSR allerdings einig: die revolutionären Umwälzungen mussten Teil einer globalen Revolution sein. Unter Vermittlung internationalistischer Solidarität sollten die aus der historischen Spezifik Russlands erwachsenden Probleme eines sozialistischen Weges überwunden werden. Aus dem Blickwinkel der Mehrheit der PLSR verließen die Bolschewiki mit dem Friedensschluss in Brest-Litowsk diesen Weg. Wenn die internationale Solidarität aber ein Eckstein für die Bewältigung der spezifisch russischen Probleme war, bedeutete der Friedensschluss auf Kosten der Werktätigen im Baltikum, in der Ukraine, in Georgien und in Finnland sowie die Stärkung des Imperialismus gegen die ArbeiterInnen in den anderen kriegführenden Staaten, dass in Russland das gemeinsame und gleichberechtigte Handeln der ArbeiterInnen und BäuerInnen unmöglich bzw. nicht mehr angestrebt war. Der Verrat an der Idee der Internationale wäre in dieser Logik auch ein Verrat an einem nur auf dieser Grundlage möglichen Bündnis von Arbeitern und Bauern. Rosa Luxemburg, die hinsichtlich der Rolle der Bauernschaft die Positionen der PLSR nicht geteilt haben dürfte, argumentierte in ihrer Kritik der Politik der Bolschewiki in ganz ähnlicher Richtung: Die Orientierung auf das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ und der Frieden von Brest-Litowsk würden ihrer Meinung nach eine „geplante konterrevolutionäre Liquidierung des ganzen Weltkrieges“, also eine weitere Niederlage der ArbeiterInnenbewegung, einen Friedensschluss auf Kosten der Massen, nach sich ziehen. (vgl. Luxemburg 1974, 352)

(wird fortgesetzt)

Quellen und zum Weiterlesen

Brangsch, Lutz (2017). Marxismus im Zeitalter der Hoffnungen und Katastrophen - Lenin, in: Das Kapital @150 - Russische Revolution @100. „Das Kapital“ und die Revolutionen gegen „Das Kapital“, Hamburg: VSA Verlag, 79–101, abrufbar unter: http://ifg.rosalux.de/files/2011/03/Die_Oktoberrevolution_Revolution_geg...

Černyševskij, Nikolaj Gavrilovič (1949). Izbrannye ekonomičeskie proizvedenija ; T. 3.2, Moskva: Izd. pol. literatury

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Lenin, W. I. (1961). Dritter Gesamtrussischer Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten 10.-18. (23.-31.) Januar 1918. Bericht über die Tätigkeit des Rats der Volkskommissare 11. (24.) Januar, in: W.I. Lenin Werke Bd. 26 September 1917-Februar 1918, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 455–472

Leont’ev, Ja.V. (2017). Vtoraja partija Oktjabrja, in: Vedomosti vom 8.12.2017, S. 7

Luxemburg, Rosa (1974). Zur russischen Revolution, in: Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 4 August 1914 bis Januar 1919, Berlin: Dietz Verlag, 332–365

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Postnikov, Sergej Pavlovič/Felʹdman, Michail Arkadʹevič (2009). Sociokulʹturnyj oblik promyšlennych rabočich Rossii v 1900 - 1941 gg, Moskva: ROSSPĖN

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Zvezdin, Zinovij K. (Hrsg.) (1991). Protokoly Prezidiuma Vysšego Soveta Narodnogo Chozjajstva : dekabr’ 1917 g. - 1918 g. ; sbornik dokumentov, Moskva: Nauka