Das Ganze der Arbeit revolutionieren!

Zu schnell wenden sich viele Feminist_innen von Karl Marx und seinem Werk ab, weil dort die nicht entlohnte Reproduktionsarbeit nicht ausreichend berücksichtigt ist. Umgekehrt gelingt es Marxist_innen bis heute kaum, diese gesellschaftlich notwendige Arbeit, die überwiegend von Frauen in Familien geleistet wird, in ihre Kapitalismusanalyse aufzunehmen. Ich bin jedoch der Überzeugung, dass sich die nicht entlohnte Reproduktionsarbeit in die Marx‘sche Arbeitswerttheorie integrieren lässt. Auf diesem Weg lassen sich nicht nur soziale Auseinandersetzungen feministisch zuspitzen, sondern es sind auch konkrete Utopien entwickelbar, die auf das Ganze der Arbeit zielen und den Blick für eine solidarische, bedürfnisorientierte Gesellschaft öffnen.

Reproduktionsarbeit als integraler Teil des Kapitalismus

Auch wenn Karl Marx den Begriff der Reproduktionsarbeit nicht kennt, lohnt es sich, auf seine arbeitswerttheoretischen Überlegungen zurückzugreifen, um die Verschränkung von Lohn- und Reproduktionsarbeit zu analysieren. Marx zufolge ist der Wert der Arbeitskraft gleich dem jeder anderen Ware durch die gesellschaftlich im Durchschnitt notwendige Arbeitszeit bestimmt, die zur Produktion bzw. Reproduktion dieser spezifischen Ware notwendig ist. In diesen Wert fließen nicht nur die Kosten für die Aufrechterhaltung der Arbeitskraft der Lohnarbeitenden ein, sondern auch die Reproduktionskosten für eine neue Generation (vgl. MEW 23, S. 184 ff.). Der Wert der Arbeitskraft und damit auch der Durchschnittslohn hängen also vom Wert der Güter und Dienstleistungen ab, die Lohnarbeitende für ihre eigene Reproduktion und die ihrer Familienmitglieder benötigen. Dabei betont Marx, dass „die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element“ (ebd., S. 185) enthält, das heißt, es sind auch die Resultate sozialer Kämpfe, die das gesellschaftlich anerkannte Niveau der Reproduktion bestimmen und damit den Wert der Arbeitskraft beeinflussen. Im Unterschied zu jeder anderen Ware kann die Ware Arbeitskraft mehr Güter und Dienstleistungen produzieren, als zu ihrer Reproduktion nötig ist. Diese Differenz, den Mehrwert, eignen sich die Produktionsmittelbesitzenden an. Entsprechend streben sie danach, die Kosten für die Reproduktion der Arbeitskraft möglichst gering zu halten.

Marx betrachtet allerdings bei der Wertbestimmung der Arbeitskraft nur die Sphäre der Warenproduktion. Er macht keine Aussage zu dem Anteil der zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Arbeit, der nicht entlohnt wird. Lohnabhängige reproduzieren sich jedoch nicht nur dadurch, dass sie von ihrem Lohn Waren kaufen und konsumieren, sondern auch durch die Haus- und Sorgearbeit, die ohne Lohn in Familien ausgeführt wird. Marx hat diese gesellschaftlich notwendige Arbeit analytisch nicht wahrgenommen.

Es waren materialistisch orientierte Vordenker_innen der Zweiten Frauenbewegung, die diese Reproduktionsarbeit in den 1970er/1980er Jahren in Auseinandersetzung mit Marx theoretisch erfasst und ihre ungleiche Verteilung zwischen den Geschlechtern skandalisiert haben. Sie erkannten, dass Hausarbeit für den Kapitalverwertungsprozess unabdingbar ist und damit einen systematischen Bestandteil des kapitalistischen Systems darstellt. Laut Veronika Bennholdt-Thomsen ist sie „der kapitalistischen Verwertung untergeordnet, da die Produktion von lebendigem Arbeitsvermögen immer zugleich bedeutet, daß es für das Kapital verfügbar wird“ (1981, S. 31). Reproduktionsarbeit ist also „unbezahlte Arbeitszeit, die in den Verwertungsprozeß einfließt“ und damit „keineswegs eine andere Produktionsweise, die mit der kapitalistischen verflochten wäre […], sie bildet vielmehr einen integralen Bestandteil“ (ebd., S. 35). Diese theoretische Position wird von marxistisch inspirierten Linken jedoch kaum zur Kenntnis genommen und ist auch in feministischen Ansätzen zumindest in den Hintergrund geraten.

Einfluss der Reproduktionskosten der Arbeitskraft auf den Mehrwert

Mit Karl Marx können wir also festhalten, dass Produktionsmittelbesitzende mit dem Einsatz der Arbeitskraft von Lohnabhängigen Mehrwert erwirtschaften und Profite erzielen. Dem liegt jedoch zugrunde, dass Frauen in Familien die Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft übernehmen – und zwar ohne Entlohnung. Diese Tätigkeiten sind zwar keine wertschaffende Arbeit, da Arbeitskraft im familiären Zusammenhang nicht warenförmig produziert wird. Das Ausmaß der Reproduktionsarbeit beeinflusst aber dennoch die durchschnittlichen Reproduktionskosten und damit den Wert der Arbeitskraft: Je mehr Reproduktionsarbeit unentlohnt geleistet wird, desto geringer wird der Wert der Arbeitskraft. Auf diese Weise bestimmt die Reproduktionsarbeit die Höhe des Mehrwerts mit (vgl. Kontos 2015, S. 79).

Aufgrund dieser Erkenntnis wird seit Jahrzehnten und teilweise bis heute behauptet, das Kapital profitiere insbesondere von einem Familienmodell, in dem es einen männlichen Ernährer und eine nicht erwerbstätige Hausfrau gibt. Sicherlich war dieses fordistische Reproduktionsmodell in der ökonomischen Situation der 1960er und Anfang der 1970er Jahre durchaus opportun. Übersehen wird jedoch, dass es nur in einer historisch begrenzten Phase in Metropolenländern Gültigkeit hatte. Mit den verschärften Wirtschaftskrisen seit Mitte der 1970er Jahre wird deutlich, dass der Familienlohn und die damit verbundenen Sozialversicherungsbeiträge für die Familienmitglieder verhältnismäßig teuer für die Unternehmen sind. Das Ernährermodell wird für die Kapitalverwertung wegen der zunehmenden globalen Konkurrenz unattraktiv und zugleich immer stärker von feministischen Bewegungen kritisiert. Mit der Senkung der Reallöhne in Deutschland, insbesondere zwischen 2000 und 2009, verliert der größte Teil der Bevölkerung die materielle Grundlage für das Ernährermodell.

Der dahinter verborgene ökonomische Zusammenhang lässt sich bereits bei Marx nachlesen. Er weist darauf hin, dass mit steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen der durchschnittliche Lohn fällt, da kein Familienlohn mehr erforderlich ist und zwei Familienmitglieder zum Lebensunterhalt beitragen. Auch wenn eine Familie dann weniger Zeit für die nicht entlohnte Reproduktionsarbeit hat und mehr Güter und Dienstleistungen einkaufen muss sowie für zwei Personen mehr Lohn bezahlt werden muss als vorher für eine, verbessert dies die Verwertungsbedingungen für das Kapital. Denn zwei Lohnarbeitende liefern eine deutlich höhere Mehrarbeit (MEW 23, S. 417). Gleichzeitig zeigt Marx, dass für die Arbeiterfamilie die Kosten wachsen: „Da gewisse Funktionen der Familie, z. B. Warten und Säugen der Kinder usw., nicht ganz unterdrückt werden können, müssen die vom Kapital konfiszierten Familienmütter mehr oder minder Stellvertreter dingen. Die Arbeiten […] wie Nähen, Flicken usw., müssen durch Kauf fertiger Waren ersetzt werden. Der verminderten Ausgabe von häuslicher Arbeit entspricht also vermehrte Geldausgabe“ (MEW 23, S. 417, Fn. 121).

Dieser Gedanke lässt sich auf die heutige Situation übertragen, auch wenn mittlerweile deutlich höhere Reproduktionsanforderungen mitgedacht werden müssen, etwa für Bildung, Gesundheit, Ernährung sowie physische und psychische Fitness. Mit der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen steigen auch die addierten Löhne aller Familienmitglieder, da etwa Haushaltsarbeiter_innen angestellt und mehr Fertigwaren gekauft werden. Für das Kapital ist dieses Modell, in dem jede Person Vollzeit erwerbstätig ist, dennoch interessant, da es die Zahlung von Familienlöhnen überflüssig macht. Dies gilt insbesondere, wenn die Menschen einen möglichst großen Teil der Reproduktionsarbeit zusätzlich zur Lohnarbeit leisten – dies senkt den Wert der Arbeitskraft und erhöht den Mehrwert. Würden dagegen alle Reproduktionsarbeiten durch entlohnte Care-Beschäftigte übernommen, so würden sich die Reproduktionskosten der Arbeitskraft deutlich erhöhen. Die herrschende Gesundheits-, Bildungs- und Familienpolitik wirkt einer solchen Erhöhung jedoch aktiv entgegen: indem etwa Fallpauschalen im Krankenhaus Einsparungen beim Pflegepersonal erzwingen, sozial nicht abgesicherte Beschäftigte zu schlechten Löhnen in Privathaushalten arbeiten und Frauen nach wie vor die Sorge um Kinder und Angehörige unentlohnt zugewiesen wird.

Für die Kapitalverwertung ist also nicht nur wichtig, dass Arbeitskraft reproduziert wird, sondern auch, dass dies möglichst günstig geschieht. Wie dies konkret passiert, ob in Kleinfamilien oder in Wohngemeinschaften oder mit Unterstützung von prekär beschäftigten Hausangestellten, ist in dieser Logik weitgehend unbedeutend. Entscheidend ist, dass erstens möglichst viele erwerbsfähige Personen ihre Arbeitskraft verkaufen, dass sie zweitens ihre Reproduktionskosten durch nicht entlohnte Reproduktionsarbeit gering halten, dass sie drittens ihre Arbeitskraft und ihre psychischen, physischen und qualifikatorischen Fähigkeiten in einer Weise erhalten, die im Produktionsprozess rentabel einsetzbar ist, und dass sie viertens Kinder als Arbeitskräfte von morgen großziehen.

Spaltung der Lohnabhängigen durch Hierarchisierungen

Kapitalistische Ökonomien sind somit auf einen schwierigen Spagat angewiesen: einerseits die Reproduktionskosten niedrig zu halten und zugleich über passend qualifizierte und flexible Arbeitskräfte zu verfügen. Die Bearbeitung dieses Widerspruchs wird erleichtert, wenn das Lohnniveau differenziert ist. Eine solche Spaltung der Lohnabhängigen greift unter anderem auf klassistische, heteronormative und rassistische Herrschaftsverhältnisse zurück, die es erlauben, bestimmten Personengruppen geringere materielle Ressourcen zuzuweisen und so die Reproduktionskosten der Arbeitskraft zu senken. Mit dem intersektionalen Mehrebenenansatz (vgl. Winker/Degele 2009; Winker 2012) analysieren Nina Degele und ich diese differenten Positionierungen in Bezug auf Lohn- und Reproduktionsarbeit. Entlang der Kriterien soziale Herkunft, Bildung und Beruf werden etwa die Löhne abgestuft und insbesondere in den unteren Einkommensgruppen gedrückt. Sozial nicht abgesicherte Minijobs nehmen ebenso zu wie irreguläre Arbeitsverhältnisse. Vielen Menschen bleibt so nur ein deutlich geringeres als das durchschnittliche Reproduktionsniveau, was zu Armut und Existenzunsicherheit führt. Im hegemonialen Diskurs werden soziale Ungleichheiten mit dem Verweis auf angebliche Leistungsunterscheide legitimiert. So erhalten etwa bodyistisch diskriminierte Personen, die aufgrund ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, häufig deutlich weniger Lohn, obwohl gerade sie zur Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft zusätzliche Ressourcen benötigen. Die Lohnbenachteiligung von Frauen oder Migrant_innen wird mit Naturalisierungen und kulturellen Differenzen legitimiert.

Eine weitere Strategie, die Reproduktionskosten gering zu halten, ist die verstärkte Rückverlagerung von Reproduktionsarbeit an die Lohnabhängigen selbst, etwa durch eine staatliche Kürzungspolitik im Sozialbereich. Die Einzelnen sind angehalten, sich eigenständig beschäftigungsfähig zu halten. Auch die hiermit verbundene Reproduktionsarbeit wird entsprechend der patriarchalen Herrschaftsverhältnisse vor allem von Frauen in familiären Zusammenhängen geleistet, die auch einen Großteil der Sorgeverantwortung für Kinder und Angehörige übernehmen. Vor dem Hintergrund rassistischer globaler Arbeitsteilung werden diese Arbeiten teilweise an prekär beschäftigte Migrantinnen weitergegeben.

Krise sozialer Reproduktion

Immer mehr Menschen haben mit Existenznot, Überlastung und Erschöpfung zu kämpfen. Insbesondere Frauen wissen häufig nicht mehr, wie sie die hohen Flexibilitätsanforderungen der Lohnarbeit mit den familiären Sorgeaufgaben verbinden sollen. Dies zeigt, dass kein individuelles Scheitern, sondern ein strukturelles Problem vorliegt: Die Unternehmen wollen hoch kompetente und motivierte Arbeitskräfte zu möglichst geringen Löhnen, um ihre Rendite zu sichern. Die für die Mehrwertproduktion notwendige Arbeitskraft existiert jedoch nur in lebendigen Menschen und ist in ihrer Reproduktion auf gelingende Sorgebeziehungen angewiesen. Die Zuspitzung dieses Widerspruchs beeinträchtigt auch die quantitative und qualitative Verfügbarkeit der Arbeitskräfte; die zunehmende Belastung der Sorgearbeitenden wird damit auch zum Problem für die Kapitalverwertung. Derzeit setzen Unternehmens- und staatliche Politiken alles daran, das Ausmaß der unentlohnten Reproduktionsarbeit der Lohnarbeitenden zu erhöhen und durch die zunehmenden Lohnunterschiede unterschiedliche Reproduktionsniveaus durchzusetzen. Dennoch ist die Kapitalverwertung längst nicht gesichert. Qualifizierte, fitte und motivierte Arbeitskräfte stehen kaum mehr in ausreichendem Umfang zur Verfügung. Darum spreche ich von einer Krise sozialer Reproduktion, die in Krisenanalysen mehr Berücksichtigung finden müsste (vgl. Winker 2015). Eine solche Krise wird derzeit u. a. an dem Versuch sichtbar, ausländische Fachkräfte insbesondere in den Pflegeberufen anzuwerben, deren Weggang wiederum in ihren Herkunftsländern krisenhafte Folgen hat. Die neoliberale Politik stellt somit nicht nur die Lebensgrundlage vieler Menschen in Frage, sondern verschärft auch das Verwertungsproblem des Kapitals. In der Folge spitzen sich wiederum die sozialen Auseinandersetzungen um die Daseinsvorsorge zu. Genau hier liegen Eingriffspunkte für das politische Handeln. Denn die Krise sozialer Reproduktion ist im Alltag vieler Menschen präsent und prägt ihre Arbeits- und Lebenserfahrungen. Wenn es gelingt, die Auswirkungen dieser Krise zu politisieren, lässt sich Gegenwehr organisieren. Ein Beispiel ist die kleine soziale Bewegung der Care Revolution,[i] [1] an der inzwischen über 80 Initiativen aktiv beteiligt sind. Das Netzwerk will Politik aus Sicht der entlohnten und nicht entlohnten Sorgearbeitenden entwickeln. Dieser Begriff der Sorgearbeit ist zu unterscheiden vom Begriff der nicht entlohnten Reproduktionsarbeit, der analytisch auf die dem Kapitalismus eigene Trennung von der Lohnarbeit verweist. Mit den synonym benutzen Begriffen Care-Arbeit oder Sorgearbeit betone ich den Inhalt dieser Tätigkeiten, die – ob in Erziehung oder Bildung, Gesundheit oder Pflege – sowohl von Beschäftigten als auch von nicht entlohnten Sorgearbeitenden ausgeübt werden. Sie können Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Transformationsstrategie sein, deren mögliche Schritte und Dimensionen ich im Folgenden skizziere.

Materielle und zeitliche Ressourcen für Care-Arbeit erkämpfen

Zunächst ist es notwendig, für alle Menschen – also auch für alleinerziehende, erwerbslose, geflüchtete, kranke Menschen – das notwendige Reproduktionsniveau zu sichern; das bedeutet, allen Menschen materielle und zeitliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen, damit sie abgesichert und ohne existenzielle Not nach ihren Vorstellungen gut leben können. Bereits in den 1970er Jahren machten Feminist_innen mit der „Lohn-für-Hausarbeit-Kampagne“ Reproduktionsarbeit als Arbeit sichtbar. In einer Zeit, in der insbesondere Frauen häufig unter Zeitdruck und Existenznot Sorgearbeit leisten, ließe sich diese Debatte neu aufnehmen und hineintragen in die Auseinandersetzung um ein bedingungsloses und existenzsicherndes Grundeinkommen. Ein solches Grundeinkommen soll dabei nicht eine finanzielle Anerkennung der Reproduktionsarbeit darstellen, sondern ist eine individuelle Absicherung, die jedem Menschen ermöglicht, sich um sich selbst und um andere zu kümmern. Die Debatte um ein Grundeinkommen trägt dazu bei, die nicht entlohnte Sorgearbeit als wichtige Tätigkeit aller Menschen sichtbar zu machen, und wendet sich gegen einen lohnarbeitszentrierten Leistungsbegriff.

Darüber hinaus ermöglichen eine deutliche Arbeitszeitverkürzung für Vollzeitbeschäftigte und der Ausbau öffentlicher Care-Dienstleistungen allen Menschen mehr Zeit für Sorgearbeit und für zivilgesellschaftliche und politische Arbeit. Dies wären erste Schritte, damit Menschen frei von Existenzangst ihr Leben gestalten könnten und das Ganze der Arbeit auch zwischen den Geschlechtern umverteilt werden kann.

 Care-Arbeit der kapitalistischen Logik entziehen

Ein weiterer Schritt ist die Demokratisierung aller Care-Bereiche. Nur wenn Pflege, Gesundheit, Bildung oder Erziehung dem kapitalistischen Verwertungsprozess entzogen werden, können Menschen selbst bestimmen, wie sie gepflegt, geheilt oder gebildet werden wollen. Privatisierungen müssen gestoppt werden und sämtliche Schulen, Kitas, Krankenhäuser oder Altenpflegeheime in den Besitz der Allgemeinheit zurückgeführt werden.

Der Care-Bereich kann ein Vorreiter sein für eine grundlegende Demokratisierung und Vergesellschaftung. Denn der Bereich ist zentral für die existenzielle Absicherung und greift tief ins Leben der Menschen ein. Es ist für viele Menschen deutlich spürbar, wie unsinnig es ist, nach dem Prinzip maximaler Profitabilität heilen, lehren, beraten oder pflegen zu wollen, und dass dies nicht nur zu mangelhafter Qualität, sondern auch zu sozialer Ungleichheit führt.

Gleichzeitig haben Menschen sehr unterschiedliche Wünsche an eine soziale Infrastruktur. Kinderbetreuung, Altenpflege oder Gesundheitsversorgung müssen durch Mitsprache aller und gemeinschaftliche Abwägung von Prioritäten entwickelt und ausgestaltet werden. In Stadtteilen oder im Dorf sind Angebote gemeinsam planbar und umsetzbar, denn die allermeisten Care-Dienstleistungen können dezentral realisiert werden. In Formen der Selbstverwaltung können Menschen als Expert_innen ihrer Bedürfnisse vor Ort sprechen und entscheiden.

Ein gemeinschaftlich organisierter Care-Bereich muss sich an drei Zielen ausrichten: Vermeidung von Ausschlüssen, demokratische Gestaltung und Zentralität menschlicher Bedürfnisse. Hierfür sehe ich zwei gangbare Wege, die miteinander verbunden werden müssen: zum einen eine schrittweise Demokratisierung der bislang privatwirtschaftlich, staatlich oder von Wohlfahrtsverbänden organisierten Infrastruktur, etwa über Stadtteilversammlungen oder über gewählte Care-Räte. Zum anderen eine auf kollektiven Projekten beruhende dezentrale Neugestaltung von Care, anknüpfend an Erfahrungen von bestehenden commons-basierten Wohnprojekten, Produktionsgemeinschaften oder Nachbarschaftsläden. In solchen Strukturen lassen sich Erfahrungen sammeln und Fähigkeiten erwerben, die es ermöglichen, über den Care-Bereich hinausgehend die gesamte Ökonomie in gesellschaftliche und demokratische Kontrolle zu überführen.

Trennung von entlohnter und nicht entlohnter Arbeit aufheben

Alle Arbeit, gerade auch Sorgearbeit, muss gesellschaftlich so aufgeteilt sein, dass jede Person über das für sie richtige Maß entscheiden kann und niemand diese Arbeit aufgebürdet wird – insbesondere Frauen nicht. Es gilt, Bedingungen zu schaffen, unter denen alle sich je nach Fähigkeiten und Bedürfnissen ebenso in die Sorge für sich und andere einbringen können wie auch in den Aufbau von Infrastrukturen oder in die ökologische Produktion von Lebensmitteln oder Gütern. Keimformen dafür lassen sich bereits heute in Projekten der commons-based peer production finden, wo Menschen gleichrangig und gemeinsam über Gestaltung und Aufteilung der Arbeit und Verwendung ihrer Arbeitsergebnisse entscheiden (vgl. Habermann 2016).

In einer solchen Gesellschaft ist die Unterteilung in entlohnte und nicht entlohnte Arbeit aufgehoben, es gibt keinen durch Lohnarbeit und Warentausch regulierten Bereich der Ökonomie mehr. Die einzige Unterteilung, die dann noch sinnvoll ist, ist die zwischen Zeiten der ziel- und zweckbezogenen Arbeit und der rein selbstzweckbezogenen Muße. Wie bei Marx am Ende des 3. Bands des Kapitals ist das Ziel eine Verkürzung der Arbeitszeit, des Reichs der Notwendigkeit, zugunsten der Mußezeit, dem Reich der Freiheit (vgl. MEW 25, S. 828). Wie konkret unter diesen Rahmenbedingungen Menschen ihr Zusammenleben und ihre Sorgebeziehungen entsprechend ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen (vgl. MEW 19, S. 21) gestalten, lässt sich heute allerdings nur erahnen.

Der Weg in eine solidarische Gesellschaft umfasst unweigerlich Konflikte und Debatten über ihre Ausgestaltung. Ausgrenzungen und Diskriminierungen entlang der lange eingeübten Herrschaftsverhältnisse lassen sich jedoch nicht von heute auf morgen überwinden. Doch unter tatsächlich demokratisierten Verhältnissen, in denen nicht von vornherein die private Verfügung über Produktionsmittel Hierarchien und Ausschlüsse hervorruft, besteht die Chance, die vielfältigen Herrschaftsverhältnisse zu dekonstruieren und ungleiche Arbeitsteilungen zu überwinden. Mit der Arbeit und dem Austausch in Kollektiven und Gemeinschaften wie auch in überregionalen Institutionen entstehen Räume, um eine Kultur des offenen und solidarischen Miteinanders zu entwickeln und zu erproben – ein langwieriger Prozess, aber eine unabdingbare Voraussetzung für eine gemeinsame Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen in einer solidarischen Gesellschaft.

 

Dies ist die Kurzfassung eines Artikels, der Anfang 2018 im Buch „Feminismus und Marxismus“, hrsg. von Alexandra Scheele und Stefanie Wöhl, im Beltz Juventa Verlag erscheinen wird. Zeitschrift Luxemburg)

 

Literatur

Bennholdt-Thomsen, Veronika (1981): Subsistenzproduktion und erweiterte Reproduktion. Ein Beitrag zur Produktionsweisendiskussion. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 14, hrsg. von H.-G. Backhaus et al., Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 30-51

Habermann, Friederike (2016): Ecommony. UmCare zum Miteinander. Sulzbach am Taunus: Ulrike Helmer

Kontos, Silvia (2015): Von der Hausarbeitsdebatte zur ´Krise der Reproduktion´? In: Demirović, Alex/Klauke, Sebastian/Schneider, Etienne (Hrsg.): Was ist der „Stand des Marxismus“? Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 78-103

Marx, Karl (1891/1973): Kritik des Gothaer Programms. MEW Band 19. Berlin: Dietz, S. 13-32

Marx, Karl (1867/1979): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. MEW Band 23. Berlin: Dietz

Marx, Karl (1894/1979): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. MEW Band 25. Berlin: Dietz

Winker, Gabriele (2012): Intersektionalität als Gesellschaftskritik. In: Widersprüche, Heft 126, 32(4), S. 13-26

Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript

Winker, Gabriele/Degele, Nina (2009): Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript