Über Marx hinaus. Feminismus, Marxismus und die Frage der Reproduktion

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http://www.carmenwinter.de/ Foto: Carmen Winter: Das Kapital mit Black-Out-Technik

Marxismus und Feminismus sind zwei der wichtigsten radikalen Bewegungen unserer Zeit. Ihr Verhältnis zu verstehen ist zentral, um die Spaltung des globalen Proletariats zu überwinden und Strategien für eine gerechtere Gesellschaft zu entwickeln. Im Folgenden diskutiere ich, welche Bedeutung Marx’ Werk für die feministische Theoriebildung und Bewegung heute hat und verweise zugleich auf dessen Beschränkungen – Punkte, an denen wir über Marx hinausdenken müssen. Meiner Ansicht nach leistet Marx einen zentralen Beitrag zur feministischen Theorie. Dennoch haben Feministinnen zu Recht kritisiert, dass seine Analyse vor allem einen Teil der Arbeiterschaft im Blick hat: die männlichen industriellen Lohnarbeiter. Damit wird die Erfahrung all derjenigen an den Rand gedrängt, deren Arbeit die kapitalistische Akkumulation weltweit ohne Entlohnung befeuert. Kapitalistische Verhältnisse werden nur unvollständig erfasst.

Marx’ methodisches Vorgehen, seine materialistische Geschichtsauffassung und seine Analyse der Ausbeutung in der Lohnarbeit sind sehr nützlich für Feminist*innen, die wie ich eine radikale Gesellschaftsveränderung für unabdingbar halten. Marx bietet Instrumente, um Geschlecht und Klasse, Feminismus und Antikapitalismus zusammenzudenken. Doch sein Beitrag zum Feminismus ist eher indirekt – er hat nie explizit eine Theorie der Geschlechterverhältnisse entwickelt. Beginnend mit den Frühschriften zeigt er jedoch in zahlreiche Ausführungen, dass ihm die Bedeutung der Geschlechterfrage wohl bewusst war. Immer wieder prangerte er die Unterdrückung der Frauen im Kapitalismus und in der bürgerlichen Familie an.

Geschlechterfragen bei Marx & Engels

In die »Die heilige Familie« bezeichnen Marx und Engels die Beziehung zwischen Mann und Frau in Anlehnung an Fourier beispielsweise als einen Gradmesser des gesellschaftlichen Fortschritts und der Humanisierung der menschlichen Natur (1844, 208). In »Die deutsche Ideologie« (1846, 32) sprechen sie von der in der Familie herrschenden »latenten Sklaverei«, da sich der Vater die Arbeit von Frau und Kindern aneigne. Im »Kommunistischen Manifest« (1848) höhnen sie über die scheinheilige Moral in bürgerlichen Familienverhältnissen und richten sich insbesondere gegen das Privateigentum: Die kapitalistische Klasse behandle Frauen wie einen Besitz. Und im Ersten Band des »Kapitals« (1867) befasst sich Marx mit der Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft, wobei der Fokus auf den Fabrikarbeiterinnen liegt.
Kaum ein anderer Autor hat so eindringlich die brutale Ausbeutung von Frauen- und Kinderarbeit im Fabriksystem beschrieben wie Marx. Bei aller Eloquenz fällt jedoch auf, dass er wenig analytisch vorgeht und die Geschlechterproblematik darin vernachlässigt. Wir erfahren nichts über den Einfluss von Frauen- und Kinderarbeit auf die Arbeiterkämpfe dieser Zeit, über die Diskussionen in den Arbeiterorganisationen oder über die Veränderungen in den Geschlechterbeziehungen – abgesehen von moralisierenden Anmerkungen, die Fabrikarbeit rege Frauen zu promiskem Verhalten und einer Vernachlässigung der familiären Pflichten an. Selten tauchen Frauen bei Marx als handelnde und kämpferische Subjekte auf. Sie erscheinen zumeist als Opfer, obwohl andere Autoren bereits von zunehmender Unabhängigkeit und Aufsässigkeit der Arbeiterinnen berichteten.
Dem liegt Marx’ Überzeugung zugrunde, der Kapitalismus und insbesondere die Großindustrie schaffe die materielle Grundlage für eine höher entwickelte Familien- und Gesellschaftsform und mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Im Ersten Band des »Kapitals« argumentiert er, die Industrialisierung habe einen neuen Menschentypus hervorgebracht, der von persönlichen Abhängigkeiten und der Beschränkung auf einzelne Fertigkeiten befreit sei und seine Fähigkeiten in vielfältiger Weise entfalten könne. Die industrielle Arbeit löse die lähmenden Formen der Spezialisierung ab und erhöhe die »allgemeine Arbeitsfähigkeit«, wie sie Alfred Marshall später nannte.
Trotz seiner Kritik an den menschenverachtenden Arbeitsbedingungen sah Marx die Beschäftigung von Frauen in der Industrie als etwas Positives. Sie befreie die Frauen von patriarchaler Kontrolle, schaffe egalitärere Umgangsformen von Mann und Frau und dränge die Bedeutung von sozialen und biologischen Distinktionen zurück: die Erzählung vom industriellen Kapitalismus als dem großen Gleichmacher.
Nur ein Bruchteil der drei Bände des Kapitals behandelt die Themen Familie, Sexualität und Hausarbeit oder die Lebenssituation von Frauen. Diese Themen fehlen auch dort, wo wir sie am ehesten erwarten würden: In den Ausführungen zur gesellschaftlichen Arbeitsteilung, zum Arbeitslohn und zur Reproduktion der Arbeitskraft (Marx 1867, 591f).

Ein lückenhaftes Bild der Reproduktion

Marx wusste, dass die Arbeitskraft, unsere Fähigkeit zur Lohnarbeit, nicht einfach gegeben ist. Da sie tagtäglich verausgabt wird, bedarf sie der beständigen (Re-)Produktion. Sie ist unentbehrlich für die Kapitalverwertung, deshalb bezeichnete Marx die Produktion des Arbeiters selbst als das »dem Kapitalisten unentbehrlichste Produktionsmittel« (1867, 597). Er sah diese aber nur im Kreislauf der Warenproduktion realisiert. Die Arbeiter erwerben demzufolge mit dem Lohn alle lebensnotwendigen Mittel und reproduzieren sich über den Konsum von Waren, die andere Lohnarbeiter*innen hergestellt haben (vgl. Sraffa 1960). An keiner Stelle im »Kapital« wird diskutiert, dass die Reproduktion der Arbeitskraft auch der unbezahlten Hausarbeit von Frauen bedarf: Essen kochen, Wäsche waschen, Kinder großziehen, Liebe machen. Im Gegenteil stellt Marx die Lohnarbeiter als sich selbst reproduzierend dar. In der Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse – Essen, Wohnen und Kleidung – erscheinen sie als autarke Käufer von Waren (vgl. kontrovers dazu F. Haug in diesem Heft). Dabei drückt Marx sich um das Thema Sex herum, ob in der Ehe oder als Ware. Prostituierte gelten Marx nicht als Arbeiterinnen, sondern verkörpern die gesellschaftliche Erniedrigung der Frau und gehören zum »tiefste[n] Niederschlag der relativen Überbevölkerung«, zum Lumpenproletariat (1867, 673), das er an anderer Stelle als »Abhub aller Klassen« bezeichnete (1852, 161).
Selbst dort, wo sich Marx mit der generativen Reproduktion befasst, unterschlägt er den Beitrag von Frauen. Die Formulierung, dass die Kapitalisten die Reproduktion der Bevölkerung »getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen« kann (1867, 597), berücksichtigt nicht die Selbstbestimmung von Frauen über ihre reproduktiven Fähigkeiten. So wird der Eindruck erweckt, der Kapitalismus sei auf die weibliche Gebärfähigkeit nicht angewiesen und könne durch technologische Revolutionen stets aufs Neue eine ,Überbevölkerung‘ erzeugen. Dabei war die Steuerung der Bevölkerungsentwicklung sowohl für das Kapital wie auch für den Staat schon immer zentral. Nur so lässt sich die – zum Teil bis heute geltende – Ausweitung des Verbots von Geburtenkontrolle zu Beginn des kapitalistischen Zeitalters erklären, die mit verschärften Sanktionen gegen ›gebärunwillige‹ Frauen einherging.
Darüber hinaus ignorierte Marx den Umstand, dass die Reproduktion der Arbeitskraft und die industrielle Revolution in Europa wesentlich auf von Sklaven produzierten Gütern wie Zucker, Tee, Tabak oder Rum basierten. Die internationale Arbeitsteilung und ihre Fertigungskette ermöglichten es am Ende des 17. Jahrhunderts, die Kosten der (Re-)Produktion der europäischen Industriearbeiterschaft erheblich zu senken. Die Plantagenökonomie war das Herzstück einer globalen Arbeitsteilung, die die Sklaven in das System der (Re-)Produktion der europäischen Arbeiterschaft einband und zugleich Lohnarbeiter*innen und Sklaven räumlich und sozial getrennt hielt. Im »Kapital« finden sich nur kurze Verweise auf die Sklavenarbeit, obwohl die von Marx angeführte Internationale während des Amerikanischen Bürgerkriegs einen Boykott der Südstaaten unterstützte.
Doch warum diese Blindheit? In der Frage der Hausarbeit kommt sicher auch eine männliche Beschränkung der Perspektive zum Tragen, derzufolge diese ,natürlichen‘ und archaischen Arbeiten durch die Industrialisierung verschwinden werden. Auch war die typische Arbeiterfamilie zu Marx’ Lebzeiten so stark in das Fabrikregime eingebunden, dass kaum Zeit für Hausarbeit blieb. Zudem liegt Marx’ Fokus immer auf der Organisierung: In diesem Bereich konnte er sich wohl keine revolutionäre gesellschaftliche Bewegung vorstellen.

Die Lohn-Illusion und ihre Folgen

Doch es gibt einen weiteren Grund: Marx sah Arbeiter*innen jenseits des Lohnverhältnisses nicht als zentrale Subjekte der kapitalistischen Akkumulation und des Klassenkampfes. In Abwandlung eines Begriffs von Keynes unterlag Marx einer »Lohn-Illusion«, in der die Industriearbeit das maßgebliche Terrain der Ausbeutung und der Emanzipation ist, die andere Formen der Arbeiten zunehmend verdrängt. Damit zielt Marx’ Analyse der ursprünglichen Akkumulation allein auf die Entstehung der Lohnarbeit und lässt den Wandel der häuslichen und reproduktiven Tätigkeiten außen vor.
Dies hat gravierende Auswirkungen für die marxistische Theorie und Praxis. Marx sah nicht, dass Kämpfe um die Länge des Arbeitstages nicht nur Lohnarbeiter*innen betreffen, dass der Arbeitstag am Fabriktor nicht endet und dass auch unbezahlte Arbeit zum Mehrwert beiträgt. Auf diese Weise kommen in der Analyse der kapitalistischen Ausbeutung und der Vorstellung vom Kommunismus die am meisten verbreiteten Tätigkeiten auf dieser Welt nicht vor.
Politisch ist das größte Problem dieser Blindheit, dass Marx damit die in der sozialistischen Bewegung vorherrschende Annahme stützte, die Interessen der (europäischen) Lohnarbeiter*innen stünden für die Interessen der gesamten Arbeiterklasse – was viele antikoloniale Theoretiker*innen zu der Ansicht verleitete, der Marxismus sei für ihre Kämpfe irrelevant. Marx konnte so auch nicht erkennen, wie die kapitalistische Klasse das Lohnverhältnis und die Trennung von entlohnter und nicht entlohnter Arbeit dazu nutzen konnte, die Arbeiter*innenklasse nach Geschlecht, ethnischer Herkunft, Alter etc. zu spalten und Klassenkämpfe einzuhegen. Spaltungslinien, die sich mit der weltweiten Ausdehnung des Kapitalismus noch verschärften. Anstatt die Proletarier*innen aller Länder zu vereinen, haben sich die globale Ausbeutung und die Ungleichheiten vertieft.
Nicht zuletzt hat Marx die Rolle der ›Inspektoren‹ und Reformer, die im »Kapital« so häufig erwähnt werden, verkannt. Die seiner Meinung nach unnützen und scheinheiligen Maßnahmen trugen zur Rekonstitution der proletarischen Familie bei: Durch die Einführung des Familienlohns, die Verdrängung der Frauen aus der Produktion und die zunehmenden Investitionen in die Reproduktion der Arbeitskräfte gelang eine Befriedung der Klassenkämpfe, die eine neue Phase der kapitalistischen Akkumulation einleitete. Mit diesem Schachzug konnte die Gefahr eines Aufbegehrens eingedämmt werden. Es entstand ein neuer, disziplinierterer und belastbarer Arbeitertypus, der sich zunehmend mit seiner Arbeit identifizierte, also in Marx’ Worten die Anforderungen der kapitalistischen Produktion als »selbstverständliche Naturgesetze anerkennt« (1867, 765). So gelang in Großbritannien und den USA am Ende des 19. Jahrhunderts ein technologischer und gesellschaftlicher Umbruch: von der Leicht- zur Schwerindustrie, von der Textilproduktion zum Stahl, von einer Verlängerung des Arbeitstages hin zu einer Ausbeutung durch Intensivierung der Arbeit. Das Modell der proletarischen Kleinfamilie mit Vollzeit-Hausfrau war eine Voraussetzung für diesen Übergang von der »absoluten« zur »relativen« Mehrwertproduktion. Damit unterlief die Hausarbeit einen Prozess der »reellen Subsumption« und wurde zunehmend staatlich reguliert und an die Anforderungen des Arbeitsmarktes angepasst.

Feminismus-Marxismus und die Neuentdeckung der »Reproduktion«

Marx hat als Befürworter der Frauenbefreiung durch die Beteiligung von Frauen an der (industriellen) Produktion ganze Generationen von Sozialist*innen inspiriert. In den 1970er Jahren entdeckten Feministinnen jedoch einen anderen Marx: In der Auflehnung gegen Hausarbeit, gegen Privatheit und gegen materielle Abhängigkeit suchten sie nach einer Theorie, die die Wurzeln der Frauenunterdrückung aus einer Klassenperspektive erklärt. Ihnen gelang eine theoretische Revolution, die den Marxismus und den Feminismus nachhaltig veränderte.
Zentral waren u.a. Mariarosa Dalla Costa, die Hausarbeit als den Schlüssel in der Produktion der Arbeitskraft identifizierte und Selma James, die Hausfrauen als Teil einer globalen Klasse von unentlohnten Arbeiter*innen begriff, deren Ausbeutung zentral ist für die Kapitalakkumulation. Auch anderen feministische Theoretikerinnen und Aktivistinnen gelang es, das Lohnverhältnis neu zu denken und herauszuarbeiten, wie es verschiedene Ausbeutungsverhältnisse natürlich erscheinen lässt und das Proletariat durch neue Hierarchien spaltet. Die sogenannte »Hauarbeits­debatte« kreiste jedoch nicht nur um die Frage, ob Hausarbeit produktiv ist oder nicht. Indem Hausarbeit als zentrale Voraussetzung für die (Wieder-)Herstellung der Arbeitskraft begriffen wurde, veränderten sich das Verständnis des Kapitalismus insgesamt und damit auch die Strategien, ihn zu bekämpfen.
Genau in dieser Situation konnten Marx’ Ausführungen zur »einfachen Reproduktion« eine neue Wirkung entfalten und erschienen als theoretische Erleuchtung. Sie legten nahe, dass die häusliche Reproduktionsarbeit deshalb hatte ,überleben‘ können, weil sie durch das Kapital ausgebeutet wurde. Die von den sozialistischen Bewegungen als rückständig abgetane Arbeit erschien plötzlich als zentrale Stütze der kapitalistischen Arbeitsorganisation. Die Weigerung, unbezahlt Hausarbeit zu verrichten, erhielt damit eine eindeutige Klassendimension. Für die politische Praxis hieß das: Wir müssen uns als Feminist*innen nicht notwendig den Fabrikarbeiter*innen anschließen, um Teil der Arbeiterklasse und des Klassenkampfes zu sein. Wir können uns autonom organisieren und an der häuslichen Arbeit – dem »Nervenzentrum« der Reproduktion der Arbeitskraft – ansetzen. Weil die Männer im Kapitalismus durch den Familienlohn, die Ehe und die bürgerlichen Liebesideologie Arbeit, Zeit und Bewegungsfreiheit ihrer Frauen kontrollieren konnten, hieß das zunächst, Kämpfe innerhalb der eigenen Familien und Beziehungen führen zu müssen.

Ein anderes Bild der Zukunft

In der feministischen Aneignung der Theorie der Reproduktion wurde gleichzeitig deutlich, dass Marx völlig auf den Kopf bzw. die Füße gestellt werden musste. Feministische Analyse und feministische Kämpfe mussten genau an dem Punkt der »gesellschaftlichen Fabrik« ansetzen, die Marx in seinem Werk außer Acht gelassen hatte. Die Entdeckung, wie zentral die reproduktive Arbeit für die kapitalistische Akkumulation ist, warf mit einem mal die Frage auf, wie eine Geschichte des Kapitalismus aussehen würde, die nicht vom Standpunkt des Proletariats in der Fabrik, sondern in den Küchen und Schlafzimmern geschrieben wird, in denen die Arbeitskraft alltäglich und über Generationen hinweg (re-)produziert wird.
In einer solchen Perspektive muss auch Marx’ Analyse der ursprünglichen Akkumulation neu überdacht werden. Ein entscheidender historischer Moment ist hier die Hexenverfolgung im 16. und 17. Jahrhundert, mit der die Entwertung der Arbeit und des Wissens von Frauen einsetzte und sich eine spezifische geschlechtliche Arbeitsteilung im Kapitalismus durchsetze.
Zugleich wird deutlich, dass die ursprüngliche Akkumulation entgegen der Marxschen Vorhersage kein einmaliger, sondern ein permanenter Prozess ist. Die Vorstellung vieler Marxist*innen, wonach der Kapitalismus nur eine spezifische Phase der Geschichte sei, eine Art Fegefeuer im Durchgang zu einem neuen, durch die Industrialisierung eröffneten Reich der Freiheit, hat sich ganz offensichtlich als Illusion erwiesen. Der von August Bebel 1903 in »Die Frau und der Sozialismus« herbeigesehnte Tag, an dem alle Lebensmittel chemisch hergestellt werden können und jeder Mensch sich unabhängig von Tages- oder Jahreszeiten mit einer kleinen Tablettenschachtel mit Nährstoffen versorgt, erscheint uns heute als Dystopie.
Der aufkommende Ökofeminismus stärkte diese Position. Er brachte Marx’ Abwertung der Reproduktionsarbeit in einem Zusammenhang mit seiner Vorstellung, die Naturbeherrschung sei die historische Bestimmung des Menschen. Maria Mies und Ariel Salleh konnten zeigen, dass die Vernachlässigung der Reproduktionsarbeit in Marx’ Werk System hat und auf einer hierarchischen Höherbewertung von allem Technologischen und von Männern Geschaffenen beruht: Die Geschichte beginnt mit dem ersten Akt der Produktion und Arbeit ist das Mittel der menschlichen Selbstverwirklichung, indem sie die Natur den menschlichen Bedürfnissen unterwirf. Positive und gestaltende Tätigkeiten sind männlich konnotiert, Arbeit wird mit dem Vater, Natur mit der Mutter in Verbindung gebracht. Marx spricht von »Madame la Terre« und »Monsieur le Capital«.
Heute lässt sich kaum mehr übersehen, dass die fortschreitende Industrialisierung dabei ist, unsere Erde zu vernichten. Gleichzeitig macht sich die Wissenschaft im Dienste des Kapitalismus daran, menschliches Leben außerhalb des weiblichen Körpers zu produzieren. Es steht zu befürchten, dass dieses Vorhaben zu einem noch größeren Alptraum gerät, als es die Industrialisierung der Landwirtschaft bereits ist. Genau darum ist der Paradigmenwechsel so wichtig, der sich in radikalen Bewegungen vollzieht: weg von der Hoffnung, Maschinen seien die treibende Kraft des Fortschritts, hin zur Reproduktion des Lebens und der Ökosysteme.
Nichtsdestotrotz übt die prometheische Perspektive des technischen Fortschritts, für die die marxistische Tradition teils standen, weiterhin große Anziehungskraft aus und erlebt ein großes Comeback. Den digitalen Technologien wird heute eine ähnlich emanzipatorische Funktion zugesprochen wie einst bei Marx der Automatisierung. So wird die Sphäre der Reproduktion und der Care-Arbeit als zentrales Terrain des feministischen Kampfes erneut in den Hintergrund gedrängt.
Auch deshalb müssen wir uns weiterhin mit Marx’ Ausführungen zur Geschlechterfrage befassen, auch wenn sie nicht umfangreich sind Wir müssen uns aufs Neue bewusst machen, dass Marx’ Schweigen zu diesen Themen kein Versehen war, sondern die Grenzen seiner Theorie und seiner politischen Praxis anzeigt. Grenzen, die Marx nicht überwinden konnte, die wir heute aber unbedingt überwinden müssen.
Darum muss unsere Würdigung des Marxschen Werks einen klaren politischen Fokus haben: die Produktion des materiellen Lebens und die Bewahrung des Ökosystems. Hier können wir am meisten von denjenigen lernen, die sich am stärksten für deren Erhalt einsetzen: von den Frauen, die Care-Arbeit leisten, von den Indigenen und von den Subsistenzbäuer*innen, die heute eine Art neue Internationale bilden. Leider geraten genau sie häufig in Konflikt mit denen, die ihre Zukunft an die weitere Ausplünderung der Erde und immer mehr kapitalistisches Wachstum binden, wie etwa die US-amerikanischen Bergarbeiter in den USA, die Trump zujubeln. Diese Spaltung der Arbeiterklasse zu bearbeiten und die Sicherung unserer gemeinsamen Lebensgrundlage ins Zentrum zu stellen, ist die Herausforderung unserer Zeit.

Der Text ist eine bearbeitete Version des Vortrags »Geschlechterverhältnisse und Reproduktion in Marx Kapital« am 12. Juni 2017 in Berlin

Literatur

  • Bebel, August, 1903: »Die Frau und der Sozialismus«, Berlin [1973]
  • Marx, Karl, 1867: Das Kapital, Band I, in: MEW 23, Berlin
  • Ders., 1852: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, Berlin
  • Ders., 1885: Das Kapital, Band II, in: MEW 24, Berlin
  • Marx, Karl und Friedrich Engels, 1844: Die heilige Familie, in: MEW 2, Berlin
  • Dies., 1846: Die deutsche Ideologie, in: MEW 3, Berlin
  • Dies., 1848: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW4, Berlin
  • Sraffa, Piero, 1960: Production of Commodities by Means of Commodities, Cambridge

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in „Marxte noch mal?“ – LuXemburg 2-3/2017