MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL

Kapitalströmung, Kunsthalle Tübingen, 2017 Foto: Christin Lahr ©

Christin Lahr verschenkt Geld. Jeden Tag überweist sie einen Cent auf das Konto der Bundesrepublik Deutschland. Der Empfänger: Das Bundesfinanzministerium. Im Betreff: Bei jeder Überweisung 140 Zeichen aus dem Kapital von Karl Marx, erster Band. 43 Jahre wird es dauern, bis der erste Band des Kapital „überwiesen“ ist.

Gestartet ist das Projekt MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL mit der ersten Überweisung am 31. Mai 2009 um 20:35 Uhr. Das Ganze ist kein irrer Einfall, sondern: Ein Kunstprojekt - noch bis zum 5. Mai 2018 zu besichtigen in der Ausstellung "Das Kapital" im Hamburger Museum der Arbeit und ab 1. Mai 2018 in der Ausstellung GELDRAUSCH in der TUFA Trier, im Rahmen der großen Feierlichkeiten zu 200 Jahre Karl Marx. Marx200.org befragte die Künstlerin nach Rezeption und Stand des Projekts und nach seiner Rolle in der Kunst.

Frau Lahr, wieviel Geld haben Sie mittlerweile auf das Konto der Bundesbank überwiesen?

Am 31. Mai 2018 werden es 3288 Cents sein: 9 Jahre x 365 Tage + 3 Schalttage = 3288 Cents = 32,88 EUR

Wieviel werden es sein, wenn der "erste Band überwiesen" ist?

Da die Arbeit durch jede neue Regelung im Bankverkehr beeinflusst wird, lässt sich das nur schwer schätzen. Der zu überweisende Text des Kapitals, Band 1 umfasst ohne Fußnoten etwa 1.696.500 Zeichen. Zu Beginn des Projekts waren pro Überweisung 108 Zeichen möglich, Umlaute oder ß mussten in zwei Zeichen aufgelöst werden, das Onlinebanking war kostenlos. Dies ergab hochgerechnet 15700 Überweisungen, 157 EUR und einen Zeitraum von etwa 43 Jahren. Seit der Einführung von IBAN können 140 Zeichen sowie Umlaute und ß überwiesen werden. Die zukünftigen Modalitäten im Bezug auf Währung oder Zahlungsverkehr werden sich zeigen.

Gab es seitens der Bundesbank schon mal Reaktionen?

Warum sollte es? Für die Bundesbank ist der Eingang von Geld nichts Ungewöhnliches – sie rechnet damit. Geld findet immer einen Weg ohne Widerstand und erfährt selten Gegenwehr. Für das Bundesministerium der Finanzen hingegen war der unerwartete Kapitalzufluss zunächst einmal gewöhnungsbedürftig. Nach ersten Irritationen und Klärungsversuchen des Verwendungszweckes verbuchte es jeden einzelnen Cent gemäß VV Bundeshaushaltsverordnung § 59, KBestB - Kassenbestimmungen für die Bundesverwaltung, und brachte die Bilanz, die ja stets ausgeglichen sein muss, 1 x täglich in die Waage. Seit ich am 08.02.2009 Herrn Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister für Finanzen, auch offiziell über das Projekt informiert habe, können die regelmäßigen Zuwendungen als solche identifiziert und als zweckgebundene Spenden verbucht werden. (Reaktionen bei einem Besuch der Künstlerin im Bundestag).

Was verfolgen Sie genau mit dem Kunstprojekt?

MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL begegnet der herrschenden politischen Ökonomie und „ideo-logischem“ Bürokratismus mit der Geste des Schenkens und hält dem System den Spiegel vor. Die Mikrospenden wirken in homöopathischen Dosen unserem wachsenden Schuldenberg entgegen. Sie bringen 1x täglich die Bilanz des Staates aus dem Gleichgewicht und dienen als Impulsgeber für eine nachhaltige Wertedebatte. DAS KAPITAL, das aus jeweils 1 Cent, einem Stückchen Weltkulturerbe sowie einem unschätzbaren künstlerischen Mehrwert besteht, schreibt sich unwiderruflich in Konten und Archive ein. Die zweckgebundene Schenkung an die Bundesrepublik Deutschland wird in den jeweiligen Staatshaushalt eingestellt, durch die aktuell gewählten Repräsentanten verwaltet und bei der Bundesbank sicher verwahrt. Ich selbst gehe über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten eine nahezu intime Beziehung mit dem Staat ein, den die meisten eher als Fremdkörper betrachten. Dabei beinhaltet dieser Inbegriff eines GeMEINwesens, MEIN WESEN ebenso wie EIN Wesen. Entgegen dem Gefühl allgemeiner Ohnmacht geht es mir darum, das Verhältnis des Einzelnen zum Staat wieder begreiflich zu machen, Strategien der Selbstermächtigung zu befördern und mir mein Gemeinwesen wieder anzueignen. Mit Hilfe der kleinsten Währungseinheit führe ich vor, dass dabei selbst die kleinste Einheit eines Staates etwas bewegen kann und nichts ohne Wirkung bleibt.

Wie sind Sie darauf gekommen, können Sie eine Initialzündung nennen?

Vielleicht eine fundamentale Erkenntnis vor fast zwei Jahrzehnten, basierend auf einem winzigen Zahlendreher in der Finanzbuchhaltung? Meine langjährige Praxis in Tai Chi und die damit einhergehende Aufmerksamkeit gegenüber Energieflüssen? Gefühle zunehmender Ohnmacht in einer kapitalistischen Verwertungsgesellschaft, der jegliches Empfinden für Werte abhanden gekommen ist, final befeuert durch die Finanzkrise 2008?

Was genau sieht man, wenn Sie das Projekt ausstellen wie jetzt in Hamburg oder Trier? Es ist ja im Grunde nur eine tägliche Banküberweisung, was kann man da dem interessierten Publikum zeigen?

MACHT GESCHENKE: DAS KAPITAL ist ein kommunikativer Prozess, der mithilfe unterschiedlicher Medien und Aufzeichnungen bestehende Verhältnisse spiegelt und ein rhizomartiges Geflecht aus Beziehungen produziert. Die täglichen Überweisungen sind lediglich Mikroimpulse, die den Diskurs immer wieder neu befeuern. In Hamburg und Trier sind performative Installationen zu sehen mit zahlreichen Einzelarbeiten aus diesem Werkkomplex: REAL FILM, ÜBER_ZEICHNUNGEN, WORKING WEEKS, SUCHE KAPITAL: neu und gebraucht, MAKING OF CAPITAL und nicht zuletzt die FREUNDLICHE ÜBERNAHME der Stühle der Bürgermeister_innen der jeweiligen Stadt. (Auf der Website der Kunsthalle Tübingen kann man eine virtuelle Rundreise zur Installation machen).

Wie ist die Rezeption in der Kunstszene und wie bei den Zuschauern?

Für mich macht das keinen Unterschied. Ich betrachte meine Arbeiten nicht als etwas Abgeschlossenes innerhalb einer bestimmten Szene, sondern als wechselseitiges Wirken zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft. Mithilfe von Mikroimpulsen, die ungehindert in den Alltag oder bestehende Systeme einsickern und sich dort viral verbreiten können, werden Besucher_innen der Ausstellung sowie zufällig Beteiligte zu Mitwissern_innen, Mitwirkenden und Kollaborateuren_innen meines künstlerischen Handelns.