Die Linie Luxemburg – Serge – Kofler

 Public Domain

Noch immer scheint die politische und analytische Betrachtung der Russischen Revolution und ihrer Folgen einem überwiegenden Entweder-Oder unterworfen. Seit den 1920er Jahren herrscht auf der Linken die bedingungslose Verteidigung auf der einen, die distanzierende Kritik auf der anderen Seite vor. Die einen, die Kommunisten und „Freunde Moskaus“, sehen in ihr traditionell die „Große Sozialistische Oktoberrevolution“, während die anderen, Sozialdemokraten wie Linksradikale unterschiedlicher Strömungen, in ihr eine letztlich nichtsozialistische, bürgerliche oder kapitalistische (oder staatskapitalistische) Revolution sehen und sie vehement ablehnen.

Zwischen und jenseits von apologetischer Affirmation und kritischer Kritik gab und gibt es aber auch eine gleichsam dritte innerlinke Linie der Lesart des Roten Oktober und seiner Folgen – die Lesart eines kritisch-selbstkritischen Sozialismus, die Linie einer sozusagen immanenten Selbstkritik aus der Sicht eines antistalinistischen revolutionären Sozialismus –, an die ich im Folgenden, sehr grob und kursorisch, erinnern möchte.

Rosa Luxemburg

 

Die noch immer überaus beeindruckende Pionierin einer solchen Selbstkritik, gleichsam die Mutter jeder innerlinken Kritik des roten Oktober, ist natürlich Rosa Luxemburg – die erste Figur, an die ich hier kurz erinnern möchte. Ich will und kann hier nicht an die einzelnen Inhalte von Luxemburgs Kritik der Bolschewiki erinnern, die sie in ihrer Schrift Zur russischen Revolution bereits im Jahre 1918, im ersten Jahr der sowjetrussischen Revolution, entfaltet hat (und über die man im Einzelnen durchaus kontrovers diskutieren kann, denn selbst Luxemburg ist nicht unfehlbar gewesen). Für erinnernswert halte ich in unserem Zusammenhang aber vor allem ihre bemerkenswerte Haltung den Bolschewiki gegenüber – diese bemerkenswerte Mischung aus unbedingter politischer Solidarität und Achtung auf der einen Seite und der Schärfe ihres kritischen Tons andererseits.

Bereits 1918 betont Rosa Luxemburg auf das Schärfste, dass – so wörtlich – „nicht kritikloses Apologetentum, sondern nur eingehende, nachdenkliche Kritik imstande ist, die Schätze an Erfahrungen und Lehren zu heben“, die die Russische Revolution den internationalen Sozialisten biete. Die Bolschewiki seien die einzige russische Partei gewesen, die, so Luxemburg, die wahren Interessen der Revolution verstanden hätten und die einzig wirklich sozialistische Partei, die die Revolution vorwärtsgetrieben hätte.

Es gebe, schreibt sie, nur ein Entweder–Oder – und das heiße: „Nicht durch Mehrheit zur revolutionären Taktik, sondern durch revolutionäre Taktik zur Mehrheit geht der Weg.“ Und weiter: „Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionärem Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben die Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet.“ Sie hätten vollbracht, „was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen zu leisten war. Das Gefährliche beginnt dort, wo sie [die Bolschewiki] aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.“

Genau dies ist jedoch passiert in dem Prozess, den wir die Bolschewisierung der internationalen kommunistischen Bewegung nennen: Man hat aus der Not eine Tugend gemacht – und damit war jede Form solidarischer Selbstkritik zunichte gemacht worden, im auf die Revolution folgenden Stalinismus sogar wortwörtlich liquidiert worden. Unter den politischen und intellektuellen Folgen leiden wir noch heute.

Victor Serge

 

Die zweite paradigmatische Figur, an die ich hier erinnern möchte, ist Victor Serge, den linken Bolschewisten, der aus dem westeuropäischen Anarchismus und 1918 nach Sowjetrussland kam und zum Bolschewiken wurde. Im Laufe der zwanziger Jahre wurde er schnell zum Oppositionellen, erst zum Anhänger Sinowjews, dann, ab Ende der zwanziger Jahre, zum Anhänger Leo Trotzkis und der Linken Opposition. Seine vielen in den 1930er Jahren verfassten und zum großen Teil auch im Westen veröffentlichten Schriften sind engagierte Darstellungen und Kritiken des Prozesses der Entartung dieser Russischen Revolution. Victor Serge ist geradezu ein Chronist dieser Stalinisierung – und seine Schriften gehören noch heute zum Besten, was zu dem Thema geschrieben wurde (und sind von der heutigen Forschung, die ihn und seine Schriften weitgehend verdrängt, fast vollständig bestätigt worden!).

Victor Serge war jedoch nicht nur Schriftsteller und Geschichtsschreiber, er verstand sich auch weiterhin als Sozialist und Marxist, als bolschewistischer Sozialist und Marxist, und versuchte sich an theoretischen Reflexionen dessen, was er dermaßen bezeugt hat – und auf diese analytischen Konsequenzen möchte ich hier hinaus.

In einem als Testament gedachten Brief von Anfang 1933 – er wartete in der Sowjetunion auf seine abermalige Verhaftung und Deportation nach Sibirien – formuliert Serge die folgenden bemerkenswerten Sätze:

„Wir dürfen uns nicht verheimlichen, dass der Sozialismus die Keime der Reaktion in sich selbst trägt. Im russischen Bereich haben diese Keime üppige Blüten hervorgebracht. Zurzeit stehen wir mehr und mehr einem totalitären Staat gegenüber, einer absoluten Kastenherrschaft, die von ihrer Macht berauscht ist und für die der Mensch nicht zählt. (…) Dieses Regime steht im Widerspruch zu allem, was während der Revolution gesagt, verkündet, gewollt und gedacht worden ist. (…) Die Reaktion im Herzen der Revolution stellt alles in Frage, gefährdet die Zukunft, die Prinzipien und die schöne Vergangenheit der Revolution selbst, lässt für sie eine innere Gefahr entstehen, die zur Stunde sehr viel realer ist als die äußeren Gefahren, von denen man spricht – mitunter gerade, um die ersteren vergessen zu lassen.“ (Hervorhebungen: CJ)

Serge zieht in diesem „Testament“ drei große Lehren aus seiner praktischen wie theoretischen Stalinismuskritik: Als erstes und vor allem müsse es jedem Sozialisten fortan darum gehen, den Menschen als solchen, seine individuellen Rechte, seine Sicherheit und seinen Wert zu achten und zu verteidigen – ohne das „gibt es keinen Sozialismus. Ohne das ist alles falsch, verfault, verdorben. Der Mensch, wer auch immer er sei, und wäre er der letzte der Menschen, ‚Klassenfeind‘, Sohn oder Enkel von Bürgern, darauf pfeife ich; man darf nie vergessen, dass ein Mensch ein Mensch ist. Hier unter meinen Augen, überall, wird das jeden Tag vergessen, das ist das Empörendste, das Antisozialistischste, das es gibt.“

Eng damit verbunden ist für ihn, dies zum Zweiten, die Verteidigung des Menschenrechts auf Wahrheit als der Bedingung jedweder geistigen und sittlichen Gesundheit, und, drittens, die Verteidigung des Denkens als solchem, der allgemeine Bruch mit der Furcht vor der Ketzerei. Serges Plädoyer für die Meinungsfreiheit ist radikal (und bemerkenswert aktuell):

„Ich bin der Meinung, dass der Sozialismus auf geistigem Gebiet nur durch Wettstreit, Forschung, Kampf der Ideen groß werden kann; dass er den Irrtum nicht zu fürchten braucht, weil er mit der Zeit immer wieder durch das Leben selbst berichtigt wird. (…) Nicht gegen die Freiheit des Denkens, nicht gegen den Menschen kann der Sozialismus triumphieren, sondern im Gegenteil durch die Freiheit des Denkens, indem er die Verfassung des Menschen verbessert.“

Das entscheidende Fundament, die entscheidende „Soll“-Bestimmung eines solchen „ethischen“ Sozialismus ist für Serge die Überzeugung, dass der Sozialismus, ob in Russland oder anderswo, sich nur durchsetzen kann und wird, wenn er sich dem Kapitalismus überlegen zeigt nicht in der Herstellung von Panzern, wie er schreibt, sondern in der Organisierung von emanzipativen gesellschaftlichen Verkehrsformen – wenn er also dem Menschen bessere gesellschaftliche Verhältnisse als der Kapitalismus bietet, einen besseren Lebensstandard, mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit und eine größere Achtung des Menschen.

Wir finden in diesen und anderen Texten von Victor Serge nichts weniger als jene politisch-theoretische Selbstkritik des Bolschewismus, die wir schon in Rosa Luxemburgs Bolschewismus-Kritik von 1918 angelegt finden – eine Bolschewismuskritik, die eben nicht das Kinde mit dem Bade ausschüttet.

Diese scharfe Mischung aus Kritik und kritischer Solidarität gipfelt Ende der 1930er Jahre in Serges Kritik der linksradikalen Kritik von Anton Ciliga.

„Es wird oft gesagt“, schreibt er, „dass der Keim allen Stalinismus‘ bereits in den Anfängen des Bolschewismus zu finden ist. Nun gut, ich habe dagegen nichts einzuwenden. Nur, dass dieser Bolschewismus auch viele andere Keime in sich trug, eine Masse anderer Keime“ (Hervorhebung: CJ).

Und Serge weist dann zurecht darauf hin, dass es gerade die charakterfestesten der ursprünglichen Bolschewiki gewesen sind, die in den 1920er und 1930er Jahren die erbittertsten politischen Opponenten Stalins gewesen sind – weswegen sie später auch alle umgebracht worden sind. Und in einem Brief an André Gide – André Gide war damals einer der bekannten westeuropäischen Links-Intellektuellen, die den Stalin-Kurs verteidigten, weil dieser angeblich ein antifaschistischer Kurs gewesen sei – formuliert Serge im Mai 1936 die denkwürdigen und noch immer aktuellen Worte:

„Wir bekämpfen den Faschismus, wie aber können wir ihm mit so vielen Konzentrationslagern im Rücken den Weg verstellen? Die Aufgabe ist nicht mehr einfach, wie Sie sehen. Niemand hat mehr das Recht, sie zu vereinfachen. Kein neuer Konformismus, keine heilige Lüge könnte das Schwären dieser Wunde verhindern. Die Revolution wird nicht mehr ausschließlich an der Weichsel und der mandschurischen Grenze verteidigt. Die Aufgabe, die Revolution nach innen, gegen das reaktionäre Regime zu verteidigen, das sich im Arbeiterstaat breit gemacht hat und die Arbeiterklasse nach und nach um den größten Teil ihrer Eroberungen prellt, drängt nicht weniger.“ (Hervorhebung: CJ)

Was wir in diesen zitierten Zeilen vor uns haben – vor allem in den zuerst zitierten aus seinem „Testament“ –, ist nichts weniger als einer der ersten Versuche, einen explizit sozialistischen Humanismus aus dem Geiste des Antistalinismus zu formulieren. Bis dahin hatte die sozialistische Bewegung dichotomisch von einem bürgerlichen und einem proletarischen Humanismus gesprochen, die beide wenig miteinander zu tun hätten. Dies ändert sich historisch in den 1930er Jahre. Und Victor Serge ist einer der ersten, die dies – theoretisch noch etwas unbeholfen, aber politisch-ethisch machtvoll – versuchen (Hendrik de Man, Georg Lukács, Henri Lefebvre). Es ist deswegen kein Zufall, dass Serge in den 1940er Jahren sehr sensibel die ersten Texte und Diskussionen positiv aufgreift, die bspw. Fragen der Sozialpsychologie, der Entfremdung und Verdinglichung aufgreift und thematisiert – bspw. das Werk von Erich Fromm.

Dieser sozialistische Humanismus ist eine historisch eigenständige und identifizierbare Strömung der politischen Ideengeschichte, die ihre erste Schritte in den 1930er Jahren macht, aber erst später, in den 1940er und vor allem 1950er Jahre zu einem konsistenten theoretischen Bewusstsein kommt. Und damit sind wir bei der dritten Person, an die ich hier kurz erinnern möchte, bei Leo Kofler.

Leo Kofler

 

Leo Kofler kommt weder aus dem Anarchismus noch aus dem Bolschewismus. Er kommt vielmehr aus dem Austromarxismus, d.h. vom linken Flügel der westlichen Sozialdemokratie. Der Gesellschaftstheoretiker und Sozialphilosoph Kofler beginnt sein theoretisches Werk in den vierziger Jahren – kurz vor Victor Serges Tod – und er ist nicht nur einer wichtigsten deutschsprachigen Marxisten der zweiten Jahrhunderthälfte, Er ist auch der erste, der im Übergang zu den fünfziger Jahren die im deutschsprachigen Raume erste systematische innermarxistische Stalinismuskritik veröffentlichte.

Koflers Stalinismuskritik hat – wie die von Serge (den er nicht kannte) – eine dreifache Frontstellung. Sie richtet sich, erstens, gegen die bürgerliche Stalinismuskritik, die den Stalinismus wesentlich auf die marxistische Theorie zurückführt. Zum zweiten richtet sie sich gegen die kommunistischen und linken Apologeten, die den Stalinismus auf die Verbrechen, den Personenkult und die Exzesse reduzieren, um so einen „sozialistischen“ Kern desselben aufrechtzuerhalten. Und schließlich, drittens, zielt sie auf jene Ultralinken, die bei ihrer Stalinismuskritik das Kind mit dem Bade ausschütten und sich vom Sozialismus verabschieden. Für Kofler war der Stalinismus vielmehr Ausfluss einer strukturellen Verbürokratisierung einer historisch neuartigen, „sozialistischen“ Übergangsgesellschaft, Produkt einer bürokratischen Schicht, die ihre Privilegien zu verteidigen sucht. Stalinismus in Theorie und Praxis war für Kofler nicht nur ein historisches Phänomen, sondern, als despotische Form der Entartung sozialistischer Bewegungen, auch eine mögliche Antwort auf die objektiven Probleme einer jeden Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Sozialismus. Diese spezifisch stalinistische Antwort auf das allgemeine Übergangsproblem war Kofler jedoch eine zutiefst menschenfeindliche, antihumanistische Antwort, eine Antwort zudem, die die sozialistische Emanzipationsbewegung mindestens für Jahrzehnte zurückgeworfen habe.

Kofler nimmt also die historische Erfahrung der stalinistischen Entartung ernst und fordert deswegen eine Erneuerung auch der marxistischen Theorie-Tradition. Er formuliert eine spezifisch marxistische Ideologiekritik des Stalinismus, behandelt den Stalinismus als politische Theorie und sieht in diesem „Marxismus-Leninismus“ den Ausfluss einer bornierten bürokratischen Praxis, den Ausfluss eines „engen und geistlosen Praktizismus“. Stalinistischer Marxismus, so Kofler im Übergang zu den fünfziger Jahren, entstellt den originären Marxismus in wesentlich drei Aspekten. Er eliminiert die Dialektik aus der marxistischen Theorie und Philosophie. Er reduziert den historischen Materialismus auf einen platten, mechanistischen Ökonomismus. Und er „vergisst“ den dem marxistischen Denken immanenten Humanismus.

Koflers – hier nicht näher auszuführende – Stalinismuskritik bietet damit nicht nur eine originelle Ideologiekritik des Marxismus-Leninismus als des extremsten Ausdrucks eines sozusagen unmarxistischen Marxismus. Er arbeitet sich in den 1940er und 1950er Jahren auch an einer Erneuerung der marxistischen Theorie ab und reformuliert den Marxismus – in Anknüpfung an Marx und andere – als eine auf der Subjekt-Objekt-Dialektik beruhende Praxisphilosophie. Kofler ist einer jener „westlichen Marxisten“, die in den 1930er und 1940er Jahren dort anknüpfen, wo (wie Michael Brie in seinem Konferenzbeitrag und in seinem Lenin-Buch aufzeigte) bereits Lenin 1914/15 begonnen hatte. Doch Kofler verbindet diesen westlichen Marxismus mit einem theoretisch durchdachten, explizit sozialistischen Humanismus – in durchaus latenter Abgrenzung gegen manche andere „westliche Marxisten“.

Sozialistischer Humanismus

 

Ein solcher sozialistischer Humanismus – und ich denke, dass wir diese besondere Strömung der Ideengeschichte in der Koflerschen Variante am ausgereiftesten formuliert finden –, ist durch wesentlich vier Aspekte zu charakterisieren:

1) Durch einen radikaldemokratischen Antistalinismus in Form einer ausformulierten Ideologiekritik der historisch neuartigen, „stalinistischen“ Form aristokratischer Herrschaft und Herrschaftsideologie und eines falsch verstandenen, historisch „entarteten“, undemokratischen Avantgardismus.

2) Durch ein Marxismus-Verständnis, das die marxistische Theorie und Philosophie als eine humanistische Praxisphilosophie, als eine Theorie menschlicher Handlungsfreiheit reformuliert.

3) Durch die Aktualisierung einer sozialistischen Kritik des bürgerlichen Humanismus (als besitzbürgerlichen Individualismus) unter den „spätbürgerlichen“, neokapitalistischen Bedingungen von Entfremdung und Verdinglichung.

4) Durch die Herausarbeitung der marxistischen Konturen einer philosophischen Anthropologie als einer Metatheorie, als einer Wissenschaft von den unveränderlichen Voraussetzungen menschlicher Veränderung (Kofler), und einem sozialistischen Menschenbild vom Gattungswesen Mensch, der als kollektives Wesen immer schon vergesellschaftet und auch als individueller Mensch sich nur in der Gemeinschaft vereinzeln kann.

Diese vier Charakteristika sind im sozialistischen Humanismus integral miteinander verbunden und bilden eine dynamische Einheit. Ihre unterschiedlichen Denker und Denkerinnen (unter anderem Ernst Bloch und Leo Kofler, Raya Dunayevskaya und Erich Fromm, Henri Lefebvre und Jean-Paul Sarte, E.P. Thompson und Karel Kosik, Leszek Kolakowski und Adam Schaff, Predrag Vranicki und Gajo Petrovic, Agnes Heller und György Markus) lassen sich unterscheiden durch die jeweiligen Stärken und Schwächen, mit denen sie diese vier Aspekte thematisiert oder nicht thematisiert haben.

Ich kann hier nicht näher eingehen auf diesen sozialistischen Humanismus als einer historisch eigenständigen, politisch-theoretisch identifizierbaren Strömung. Ich möchte aber betonen, dass er eine politisch-theoretische Antwort auf das historische Aufkommen des Stalinismus gewesen ist. Sozialistischer Humanismus ist gleichsam ein Codewort für jene praktischen wie theoretischen Herausforderungen, vor denen sozialistische und kommunistische Bewegungen in den 1930er/1940er Jahren und in den 1950er/1960er Jahren standen: Stalinismus und Faschismus auf der einen, die nachhaltig blockierte Entstalinisierung der kommunistischen Bewegung und die nachhaltige Preisgabe der sozialistischen Theorie und Praxis durch die internationale Sozialdemokratie auf der anderen Seite.

Sozialistischer Humanismus ist also die Linie einer sozusagen immanenten Selbstkritik aus der Sicht eines antistalinistischen Sozialismus, der – in den fünfziger und sechziger Jahren – das Erbe der Linken Opposition für eine Neue Linke rettet – und Rosa Luxemburgs Haltung einer radikalen, aber solidarischen Kritik erneuert. Und ich denke, dass diese Linie Luxemburg–Serge–Kofler (und andere) nichts an ihrer Aktualität verloren hat. Sie verdeutlicht vielmehr, dass die marxistische Tradition zu einer produktiven Selbstkritik fähig ist, und gehört deswegen zum unverzichtbaren Erbe eines zukünftigen Neosozialismus.

Zitierte und weiterführende Literatur:

 

Christoph Jünke: „Der Fall Victor Serge“, in ders.: Streifzüge durch das rote 20. Jahrhundert, Hamburg 2014, S.59-87

Christoph Jünke: Leo Koflers Philosophie der Praxis. Eine Einführung, Hamburg 2015

Rosa Luxemburg: „Zur russischen Revolution“ (1918), in ders.: Gesammelte Werke, Band 4, S.332-365

Victor Serge: „Reply to Ciliga“ (1939), auf www.marxists.org/archive/serge/1939/02/letter.htm

Victor Serge: Für eine Erneuerung des Sozialismus. Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975

Bei diesem Text handelt es sich um einen auf der RLS-Konferenz „Perspektiven auf den roten Oktober. Einhundert Jahre Russische Revolution 1917“ im November 2017 in Berlin gehaltenen Vortrag.