Die Julitage

Demonstration Petrograd Juli 1917
Demonstration Petrograd Juli 1917. Nieder mit den kapitalistischen Ministern Foto: By Оцуп (1883–1963) [Public domain], via Wikimedia Commons Public Domain

Die Bolschewiki wollten das Schicksal der Pariser Kommune vermeiden. Das ist der Grund, warum sie im Juli 1917 die Macht nicht ergriffen. 1917 hatte Russland mehr als 165 Millionen Staatsbürger, von denen nur 2,7 Million in Petrograd wohnten. Die Landeshauptstadt hatte 390.000 Fabrikarbeiter, von denen ein drittel Frauen waren, 215.000 bis 300.000 Soldaten in Garnisonen und etwa 30.000 am Kronstadt-Marinestützpunkt stationierte Matrosen und Soldaten.

Nach der Februarrevolution und der Abdankung von Zar Nikolaus II übergaben die Sowjets unter der Führung der Menschewiki und der Partei der Sozialrevolutionären die Macht an eine nicht-gewählte provisorische Regierung, die entschlossen war, Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg weiterzuführen und die Agrarreform bis nach der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung aufzuschieben, deren Datum bald auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Dieselben Sowjets hatten auch die Einsetzung von Soldatenkomitees gefordert und sie angewiesen, alle Befehle zu missachten, die den Verfügungen und Dekreten des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten zuwiderliefen. Diese widersprüchlichen Entscheidungen ergaben eine unsichere, duale Machtstruktur, die durch regelmäßige Regierungskrisen gekennzeichnet war.

Im April 1917 wurde durch den Krieg die erste dieser Krisen ausgelöst, die nach der Amtsenthebung der wichtigsten bürgerlichen Politiker, Pawel Miljukow von den Kadetten (Konstitutionell-Demokratische Partei) und Alexander Gutschkow von der Oktobristen endete. Die Krise demonstrierte die Ohnmacht der Regierung gegenüber der Petrograd-Garnison: Truppen gehorchten dem Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets statt dem damaligen Kommandanten, General Lawr Kornilow.

Die aus der Krise geborene Koalitionsregierung hatte neun Minister von den bürgerlichen Parteien und sechs von den sogenannten sozialistischen Parteien. Prinz Georgi Lwow blieb Premierminister und Innenminister, aber Kriegs- und Marineminister Alexander Kerenski, ein Mitglied der Partei der Sozialrevolutionäre, wurde bald zum aufgehenden Stern der Regierung. Das Kabinett umfasste zudem die Menschewiken Irakli Zereteli als Minister für Post und Telegrafen und Matwei Skobelew als Minister für Arbeit. Die Sozialrevolutionären Wiktor Tschernow und Pawel Perewersew beteiligten sich auch an der Koalition als Landwirtschaftsminister bzw. Justizminister.

Die Partei der Bolschewiki im Sommer 1917

Die Bolschewiki hatten im ersten Halbjahr 1917 zu kämpfen. Zunächst lehnten sie die Demonstration zum Weltfrauentag ab, die zur Februarrevolution führte. Danach erfuhr die Partei der Bolschewiki Mitte März einen deutlichen Rechtsruck, als Lew Kamanew, Josef Stalin und MK Muranow aus Sibirien zurückkehrten und das Parteiorgan, Pravda, übernommen. Unter ihrer Führung befürwortete die Zeitung kritische Unterstützung für die provisorische Regierung, lehnte die Parole „Nieder mit dem Krieg“ ab und rief nach einem Ende der desorganisierenden Aktivitäten an der Front.

Diese Positionen standen im Gegensatz zu den Meinungen, die Lenin in seinen „Briefen aus der Ferne“ zum Ausdruck brachte. Daher überrascht es nicht, dass die Pravda nur den ersten von diesen veröffentlichte, und auch nur mit mehreren Streichungen. Alexander Schlijapnikow berichtet:

„Der Tag des Erscheinens der ersten Nummer der umgestalteten Prawda – am 15. März - war ein Triumphtag für die Landesverteidiger. Das ganze Taurische Palais, von den Geschäftemachern des Komitees der Reichsduma bis zum Herzen der revolutionären Demokratie – dem Exekutivkomitee–, waren von der Neuigkeit erfüllt: dem Siege der gemäßigten, vernünftigen Bolschewiki über die Extremen. Im Exekutivkomitee selbst empfing man uns mit giftigem Lächeln.“

Diese Meinungen herrschten unter den Führern der Bolschewiki, als Lenin am 3. April am Finnischen Bahnhof ankam. Am nächsten Tag legte er den Delegierten der Bolschewiki zum Ersten Allrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten seine berühmten Aprilthesen vor. Im Gegensatz zu Kamenew und Stalin beteuerte er nochmals seine völlige Zurückweisung des „revolutionären Defensismus“ und plädierte für Verbrüderung an der Front. Er nahm auch Leon Trotzkis Haltung ein, als er den „gegenwärtigen Moment“ als einen Übergang zwischen der ersten „bürgerlich-liberalen“ und der zweiten „sozialistischen“ Stufe beschrieb, während der die Macht in die Hände des Proletariats übergehen würde.

Lenin stellte sich der „eingeschränkten Unterstützung“ Stalins und Kamenews für die provisorische Regierung entgegen und rief stattdessen für ihre völlige Ablehnung auf. Zudem entkräftete er die Vorstellung, dass sich die Bolschewiki und die Menschewiki wieder vereinigen könnten. Ab dann forderten die Bolschewiki die Übergabe aller Macht an die Sowjets, die dann das Volk bewaffnen, die Polizei, Armee und Staatsbürokratie abschaffen, alle Grundbesitze beschlagnahmen und die Kontrolle der Produktion und Verteilung an die Arbeiter übernehmen würden.

Auf dem Siebten Allrussischen Kongress der Partei der Bolschewiki, der vom 24. bis 29. April in Petrograd stattfand, gewannen Lenins Positionen zum Krieg und zur provisorischen Regierung eine Mehrheitsunterstützung.

Zu Beginn des Jahres 1917 blieb die Partei der Bolschewiki klein. Sie hatte nur etwa zweitausend Mitglieder in Petrograd, bloß 0,5 Prozent der industriellen Arbeiterklasse. Allerdings stieg die Mitgliedschaft bis zur Eröffnung der Aprilkonferenz allein in der Hauptstadt auf Sechzehntausend an. Bis Ende Juni verdoppelte sie sich. Zweitausend Soldaten der Garnisonen traten der Militärischen Organisation der Bolschewiki bei, und weitere viertausend schlossen sich dem Klub Pravda an, einer parteiabhängige Organisation für Militärpersonal, die von der Militärischen Organisation der Bolschewiki operiert wurde. Diese massive Zunahme der Mitgliedschaft transformierte die Organisation. Ihre Reihen füllten sich mit ungestümen Rekruten, die wenig über Marxismus wussten, aber auf revolutionäre Aktivität erpicht waren. Inzwischen fingen die Bolschewiki an, neue Organisationen zu gründen. Am 4. Mai, dem Tag vor der Bildung der Koalitionsregierung, kam Trotski aus dem Exil zurück. Da er und Lenin nun eine gemeinsame Basis gefunden hatten, fing Trotski an, seine Organisation, die Meschrajonzy (wörtlich: die zwischen den Bezirken stehenden Gruppe), mit Lenins Partei zu verbinden.

Trotz dieses exponentiellen Wachstums waren die Bolschewiki noch in der Minderheit. Auf dem Ersten Allrussischen Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, am 3. Juni eröffnet, stellten sie weniger als zehn Prozent der Delegierten. Diese nationale Tagung hatte 1.090 Delegierte – von denen 822 wählen konnten – die mehr als dreihundert Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets sowie dreiundfünfzig regionale, provinzielle und Bezirkssowjets vertraten. Die Bolschewiki hatten die drittgrößte Vertretung mit 105 Delegierten, nach den Sozialrevolutionären (285 Delegierte) und den Menschewiki (248 Delegierten). Zu diesem Zeitpunkt gab es in Petrograd drei verschiedene Organisationen der bolschewistischen Partei: das neunköpfige Zentralkomitee, die Allrussische Militärorganisation und das Petersburger Komitee. Jede hatte ihre eigenen Verantwortlichkeiten und war deswegen verschiedenen und manchmal entgegengesetzten Zwängen unterworfen. Das Zentralkomitee musste die ganze Situation des Landes betrachten und befand sich oft dazu gezwungen, die radikaleren Gruppen zurückzuhalten.

Den Boden bereiten

Die militärische Organisation der Bolschewiki plante eine bewaffnete Demonstration für den 10. Juni, um die Opposition der Massen gegen die Vorbereitungen der provisorischen Regierung auf eine Militäroffensive, Kerenskis Versuche, Disziplin in den Kasernen wiederherzustellen, und die zunehmende Bedrohung der Versetzung an die Front zum Ausdruck zu bringen. Sie sagte die Aktion erst in letzter Minute ab und unterwarf sich so der Opposition des Sowjetkongresses.

Manche Elemente in der Partei der Bolschewiki, insbesondere im Petersburger Komitee und der Militärorganisation, sahen die abgesagte Demonstration als einen potenziellen Aufstand an. Tatsächlich musste Lenin selbst bei einer Dringlichkeitssitzung erscheinen, um die Entscheidung des Zentralkomitees, die geplante Mobilmachung abzusagen, zu verteidigen. Er erklärte, dass das Zentralkomitee die formale Ordnung des Sowjetkongresses beachten musste, und dass die Konterrevolution die Demonstration für seine eigenen Zwecke benutzen wollte. Lenin fügte hinzu:

„Selbst im üblichen Krieg kommt es vor, dass angesetzte Offensiven aus strategischen Gründen abgesagt werden müssen, umso mehr kann das im Klassenkampf als Folge von Schwankungen der kleinbürgerlichen Mittelschichten vorkommen. Man muss verstehen, der Situation Rechnung zu tragen und kühn in seinen Entschlüssen zu sein.“

Der Sowjetkongress stimmte dafür, nach einer Woche, am 18. Juni, seinen eigenen Protestmarsch zu veranstalten, und beauftragte alle Garnisonen unbewaffnet teilzunehmen. Mit mehr als vierhunderttausend Protestierenden machten die Bolschewiki das zu einer großen Demonstrationen gegen die Regierung. In seinem Augenzeugenbericht der Russischen Revolution schreibt Nikolai Suchanow:

„Alle Arbeiter und Soldaten in Petersburg nahmen daran teil. Aber was war das politische Charakter der Demonstration? ‚Wieder Bolschewiki‘, merkte ich an, als ich die Parolen ansah, ‚und da hinten ist noch eine Kolonne der Bolschewiki.‘ ‚Alle Macht den Sowjets!‘ ‚Nieder mit den zehn Minister-Kapitalisten!‘ ‚Friede den Hütten, Krieg den Palästen!‘ Auf diese kräftige und gewichtige Weise brachte Arbeiter-Bauer-Petersburg, die Vorhut der russischen- und Weltrevolution, seinen Wille zum Ausdruck.“

Die Bolschewiki hatten die ursprüngliche Demonstration mit der Petrograder Föderation der anarchistischen Kommunisten geplant, eine von zwei großen anarchistischen Gruppen, die zu diesem Zeitpunkt aktiv waren. Das anarchistische provisorische revolutionäre Komitee entschied, seine Verbündete zu übertreffen und befreite F.P. Chaustow, Redakteur der Frontzeitschrift der Militärischen Organisation der Bolschewiki, aus dem Wyborg-Gefängnis. Als Antwort darauf führte die Regierung eine Razzia im Hauptsitz der Anarchisten durch und tötete Schelda Asnin, einen ihrer Führer. Zusammen mit Kerenskis Juli-Offensive und den neuen Befehlen nach Waffen und Männern intensivierte Asnins Mord militärische Unruhen, insbesondere in der Ersten Maschinengewehr-Abteilung. Schon am 1. Juli fingen diese Soldaten mit der Unterstützung der anarchistischen Kommunisten an, einen sofortigen Aufstand zu planen.

Auf der Allrussischen Konferenz der Militärorganisationen der Bolschewiki wurden die Delegierten gewarnt, nicht mit einem unorganisierten und frühzeitigen Aufstand in die Hände der Regierung zu spielen. Lenins Rede am 20. Juni klang wie eine vorausahnende Warnung:

„Wir müssen besonders aufmerksam und vorsichtig sein, damit wir nicht in eine Provokation hineingezogen werden … Eine falsche Bewegung von uns kann alles zerstören … Wären wir jetzt in der Lage die Macht zu ergreifen wäre es naiv zu glauben, dass wir daran festhalten könnten.“

„Wir haben mehrmals gesagt, dass die einzig mögliche Form für eine revolutionäre Regierung ein Sowjet der Stellvertreter der Arbeiter, Soldaten und Bauern sei.“

„Was ist das genaue Gewicht unserer Fraktion im Sowjet? Sogar in den Sowjets der beiden Hauptstädte, ganz zu schweigen von den anderen, sind wir eine unbedeutende Minderheit. Und was zeigt diese Tatsache? Sie kann nicht ignoriert werden. Sie zeigt, dass die Mehrheit der Massen derzeit schwanken, aber noch an die Sozialrevolutionäre und Menschewiki glaubt.“

In einem Leitartikel in der Pravda kam Lenin noch einmal auf diese Idee zurück:

„Die Armee ging in den Tod, im Glauben, sich für die Freiheit, für die Revolution und für einen baldigen Frieden zu opfern.“

„Doch die Armee war dazu bereit, weil sie lediglich ein Teil des Volkes ist, der in dieser Etappe der Revolution den Parteien der Sozialrevolutionäre und Menschewiki folgte. Diese allgemeine und grundlegende Tatsache, das Vertrauen der Mehrheit zu der kleinbürgerlichen, von den Kapitalisten abhängigen Politik der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, ist bestimmend für die Stellung und das Verhalten unserer Partei.“

Aber nach Trotzkis Worten erinnerten sich die Arbeiter und Soldaten noch,

„dass im Februar ihre Führer just am Vorabend des Sieges daran gewesen waren, zum Rückzug zu blasen; dass im März der Achtstundentag auf Initiative von unten erobert wurde; dass im April eigenmächtig auf die Straße hinausgegangene Regimenter Miljukow gestürzt hatten. Die Erinnerung an diese Tatsachen kam den gespannten und ungeduldigen Massenstimmungen sehr entgegen.“

Anführer der Einheiten der Petrograder Militärorganisation unterstützten weitgehend sofortige direkte Aktionen gegen die provisorische Regierung, und viele Bolschewiki aus der Parteibasis hielten schon einen frühen Aufstand für unvermeidlich und sogar wünschenswert.

Gerade als die Offensive kurz vor dem Kollaps stand, geriet die Regierung allerdings in eine neue Krise. Vier Minister von den Kadetten verließen die Koalition aus Protest gegen Kerenskis Kompromiss mit dem Ukrainischen Parlament. Dieses kurzfristiges Überlaufen führte dazu, dass die jetzt aus sechs sozialistischen und nur fünf kapitalistischen Ministern bestehende Regierung unorganisiert und gefährdet war. Als die Juli-Tage begannen, gewannen die Bolschewiki eine Mehrheit in der Arbeitersektion des Petrograder Sowjets, was von ihrem wachsenden Einfluss unter den Massen zeugte.

Die bewaffnete Demonstration

Die Kette von Ereignissen, die als die Juli-Tage bekannt wurde, begann am 3. Juli, als die Erste Maschinengewehr-Abteilung mit Unterstützung mehrerer anderer Abteilungen einen Aufstand startete. Dessen Ausbruch fiel mit der zweiten Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki zusammen, die am 1. Juli eröffnet wurde.

Erst als klar wurde, dass mehrere der von den Arbeitermassen unterstützten Einheiten schon auf die Straßen gingen und Bolschewiki aus der Parteibasis daran teilnahmen, schloss sich das Zentralkomitee der Bewegung an und empfahl, dass am nächsten Tag die Demonstrationen unter der Schirmherrschaft der Bolschewiki weitergehen sollten. Obwohl das Zentralkomitee wusste, dass die Protestierenden Waffen tragen würden, sprach die Empfehlung nicht von einem bewaffneten Aufstand oder einer Übernahme der Regierungsinstitutionen. Stattdessen bekräftigte die offizielle Resolution die Forderung der Bolschewiki nach der „Machtübergabe an die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernsowjets.“

Somit übernahm die Militärische Organisation der Bolschewiki die Führung einer Straßenbewegung, die sich ursprünglich außerhalb ihres Einflusses entwickelt hatte. Der unerwartete Ausbruch versetzte die Partei in Verwirrung. Diejenigen, die dem Zentralkomitee gehorchten und sich für eine Verzögerung der Revolution einsetzten, befanden sich in Konflikt mit anderen, vor allem mit den Mitgliedern der Militärorganisation und des Petersburger-Komitees, die Sofortmaßnahmen bevorzugten.

Natürlich erfährt eine revolutionäre Partei exponentielles Wachstum während einer Revolution: wir haben schon gesehen, dass die Petrograder Partei der Bolschewiki innerhalb von fünf Monaten um 1.600 Prozent wuchs. Das setzt die Partei unter beispiellosen Druck, der sich innerhalb verschiedener Parteiorganen in unterschiedlichem Maße manifestieren und die Organisation selbst auseinanderreißen kann. Keine organisatorische Regelung kann das verhindern; neue Umstände, unter anderem das Vertrauen, das die Parteiführung gewonnen hat, beeinflussen, wie sich revolutionäre Ereignisse entfalten. Daher kann eine Partei nicht in der Hitze des Gefechts aufgebaut werden, wie die Deutsche Revolution zeigen würde.

Am 3. Juli versuchten die bewaffneten Demonstranten ohne Erfolg, Kerenski festzunehmen, bevor sie zum Taurischen Palais, den Sitz des Zentral-Exekutivkomitees des Sowjets, weitergingen. Sie planten, diese Gruppe dazu zu zwingen, die Macht von der provisorischen Regierung zu ergreifen. Die Massen – auf sechzig bis siebzig tausend Menschen geschätzt – überwältigten die Verteidigung des Palais und präsentierten ihre Forderung. Das Exekutivkomitee weigerte sich. Trotzki erfasste die Ironie des Moments, als er bemerkte, dass die Sowjetführer selbst, obwohl die hunderttausenden Protestierenden eine Machtergreifung von ihnen forderten, nach Streitkräfte suchten, gegen die Demonstranten einzusetzen. In der Zeit nach der Februarrevolution gaben die Arbeiter und Soldaten den Menschewiki und Sozialrevolutionären die Macht, aber diese Parteien versuchten, sie an die imperialistische Bürgerlichkeit zu übergeben, denn sie bevorzugten einen Krieg gegen das Volk gegenüber einer unblutigen Übergabe der Macht in die eigenen Hände. Als die Juli-Demonstranten erkannten, dass die Sowjetführung sich nicht von ihren kapitalistischen Verbündeten – von denen die meisten ohnehin schon von selbst die Regierung verlassen hatten – lossagen würde, geriet die Situation in einen Stillstand.

„Ergreife die Macht, du Hurensohn, wenn man sie dir gibt!“

Am nächsten Tag ging Lenin, der zur Zeit in Finnland war, sofort zum Hauptquartier der Bolschewiki, dem Haus Kschessinskaja. Bald kamen dort auch Matrosen vom Kronstadt-Marinestützpunkt an. Lenins letzte öffentliche Rede bis nach der Oktoberrevolution entsprach nicht den Erwartungen der Soldaten: er betonte die Notwendigkeit einer friedlichen Demonstration und äußerte seine Gewissheit, dass die Parole „Alle Macht den Sowjets“ letztlich siegen würde. Er schloss mit einem Plädoyer an die Matrosen für Selbstbeschränkung, Entschlossenheit und Wachsamkeit. Die Juli-Tage warfen ein sehr ungewöhnliches Licht auf das Zentralkomitee der Bolschewiki und insbesondere Lenin: sie verzögerten einen frühzeitigen Aufstand in der Hauptstadt, der, wäre er erfolgreich gewesen, die Bolschewiki hätte isolieren und die Revolution niederschlagen können, wie es 1871 im Falle der Pariser Kommune und 1919 im Falle des Spartakusauftands geschah.

Eine auf Sechzigtausend geschätzte Prozession ging zum Taurischen Palais, traf an der Ecke Liteinystraße/Pantelejmonowstraße aber auf Beschuss von Heckenschützen. Allerdings wurden die meisten Verluste in zwei Zusammenstößen mit Staffeln von Kosaken erlitten, die sogar Artilleriewaffen gegen die Demonstranten einsetzten. Nach diesen Straßenkämpfen erreichten die Kronstadt-Matrosen unter der Führung von Fjodor Raskolnikow den Palais, wo sie sich der Ersten Maschinengewehr-Abteilung anschlossen.

Als nächstes ereignete sich eines der dramatischsten und tragikomischsten Ereignisse des Tages: Wiktor Tschernow, der sogenannte Theoretiker der Sozialrevolutionäre, wurde ausgeschickt, um die Protestierenden zu beschwichtigen. Die Menge griff ihn auf, und ein faustschüttelnder Arbeiter sagte ihm: „Ergreife die Macht, du Hurensohn, wenn man sie dir gibt! Sie erklärten Tschernow als verhaftet und brachten ihn zu einem Auto in der Nähe. Trotzkis rechtzeitige Intervention rettete ihn. Suchanow beschrieb die bizarre Szene:

„Der Pöbel befand sich in Aufruhr, wohin man auch blickte … Ganz Kronstadt kannte Trotzki und, so dachte man, vertraute ihm. Doch er begann seine Rede, und die Menge wich nicht zurück. Wäre in diesem Moment ein Schuss gefallen, als Provokation, es hätte ein fürchterliches Gemetzel stattfinden können, und wir alle, Trotzki eingeschlossen, wären vielleicht zerfetzt worden. Trotzki, in großer Erregung und unfähig, in dieser aufgeheizten Atmosphäre die richtigen Worte zu finden, konnte kaum die Aufmerksamkeit derer gewinnen, die ihm am nächsten standen. Als er sich Tschernow selbst zuwandte, geriet die Menge, die um den Wagen herumstand, in Wut. ‚Ihr seid gekommen, euren Willen zu bekunden und dem Sowjet zu zeigen, dass die Arbeiterklasse die Bourgeoisie nicht länger an der Macht sehen will [sprach Trotzki]. Aber warum wollt ihr eurer Sache schaden mit kleinlichen Gewaltakten gegen zweitrangige Individuen?‘ Trotzki streckte seine Hand einem Matrosen entgegen, der besonders heftig protestierte… Mir schien, der Matrose, der Trotzki bestimmt mehr als einmal in Kronstadt hatte sprechen hören, hätte nun das bestimmte Gefühl, dass Trotzki ein Verräter sei. Er erinnerte sich an seine früheren Reden und war verwirrt… Unschlüssig, was zu tun sei, ließen die Kronstädter Tschernow gehen.“

Tschernow kam zum Taurischen Palast zurück und schrieb acht Leitartikel, die die Bolschewiki verurteilten. Delo nadora, die Zeitschrift der Sozialrevolutionäre, veröffentlichte letztendlich vier davon. Allerdings übte die provisorische Regierung als Ganzes Rache in viel perfiderer Form: am nächsten Tag startete sie eine Schmutzkampagne, die Lenin, der Russland über Deutschland in einem versiegelten Zug erreicht hatte, als Agent des Deutschen Generalstabs beschrieb.

Vorübergehender Triumph der Reaktion

Am 5. Juli führte das Zentral-Exekutivkomitee des Sowjets und der Petrograder Militärbezirk eine militärische Operation durch, um die Kontrolle über die Hauptstadt wieder zu übernehmen. Regierungstreue Truppen besetzten das Haus Kschessinskaja und zerstörten die Druckermaschinen der Pravda. Nur mit knapper Not entkam Lenin. Es ist müßig darüber zu spekulieren ob ihn, wäre er erwischt worden, ein ähnliches Schicksal ereilt hätte wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nach dem Spartakusaufstand. Allerdings können wir einen Hinweis in einer Karikatur finden, die die rechte Zeitschrift Petrogradskaja gaseta zwei Tage später veröffentlichte. Regierungstreue Truppen besetzten auch die Peter-und-Paul-Festung, die die Erste Maschinengewehr-Abteilung auf Veranlassung der Militärorganisation der Bolschewiki aufgab. Das Zentralkomitee beauftragte die Parteimitglieder die Straßendemonstrationen zu beenden, und forderte die Arbeiter und Soldaten dazu auf, zurück zu ihrer Arbeit bzw. zu ihren Kasernen zu gehen.

Inzwischen ordnete die Regierung die Festnahme der führenden Bolschewiki einschließlich Lenin, Kamenew und Grigori Sinowjew sowie Trotzki und Anatoli Lunacharski, die Leiter der Meschrajonzy, an. Obwohl einige dieser politischen Häftlinge, darunter auch Trotzki, während des Kornilow-Putsches aus dem Gefängnis kamen, um den Arbeiterwiderstand zu organisieren, blieben andere bis zur Oktoberrevolution in Haft.

Damit endeten die Juli-Tage, die in Lenins Worten „ deutlich mehr als eine Demonstration und weniger als eine Revolution“ waren.

Einige der wichtigsten Führer der Partei der Bolschewiki mussten untertauchen, und ihre Zeitschriften schlossen, aber dieser Rückschlag wurde bald überwunden. Die gescheiterte Offensive der Elften Armee gegen einen massiven deutsch-österreichischen Gegenangriff an der Südfront, zusammen mit der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage erneuerte die Gültigkeit der bolschewistischen Parolen. Tatsächlich erschienen die Zeitschriften der Bolschewiki mit leicht veränderten Namen wieder, und die Parteikomitees fanden sehr schnell neuen Halt. Die rebellischen Militäreinheiten zu entwaffnen, wie die Regierung befohlen hatte, war leichter gesagt als getan. Bald kehrte die Niederlage des Kornilow-Putsches im August 1917 die politische Lage um, und die Situation war endlich reif für die erfolgreiche Machtergreifung der Bolschewiki.

Daniel Gaido ist Mitarbeiter an der Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas (CONICET) in Argentinien. Dieser Essay erschien zuerst als Teil der Jacobin Magazine-Reihe zur Russischen Revolution. Der Beitrag erscheint in deutscher Sprache in Kooperation von Rosa-Luxemburg-Stiftung und Jacobin.

Übersetzung: Adam Baltner / Redaktion: Einde O'Callaghan / Korrektur: Jasper Stange