Deutschland, Russland und die Revolution

Das Verhältnis von Deutschland und Russland war immer ein eigentümliches. Für Russland war Deutschland seit Kriegsbeginn der Feind schlechthin.

Es wurde zu einem beliebten Verfahren, alle Probleme dem Wirken deutscher Agenten, der deutschfreundlichen Fraktion am Zarenhofe und sonstigen Verschwörern und Verschwörerinnen aus dieser Richtung anzudichten. Auch die Bolschewiki und natürlich Lenin selbst wurde dann nach der Februarrevolution mit diesem Vorwurf bekämpft. Bis heute ist eine der Lesarten des Jahres 1917 die einer Kette von Verschwörung.

Auf der anderen Seite war die Entwicklung in Russland für die Herrschenden in Deutschland immer wichtig. Die zaristische Herrschaft war ihnen immer die letzte Rückversicherung gegen republikanische oder gar sozialistische Bestrebungen.

Die Veränderungen dieser Beziehungen waren für die linken SozialdemokratInnen in Deutschland natürlich wichtig und waren dementsprechend neben der Beobachtung der Ereignisse unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der deutschen Arbeiterbewegung ein wesentlicher Gegenstand ihrer Analyse. Auf beiden Seiten ging es um ein gemeinsames Problem – die Rolle der „VaterlandsverteidigerInnen“, die Frage von Krieg und Frieden.

Neben Franz Mehring und Rosa Luxemburg hat sich auch Karl Liebknecht diesen Themen gewidmet. Überliefert sind vor allem kürzere Texte, eher Notizen. Sie wurden im Zuchthaus geschrieben, nach der Absolvierung eines kompletten Arbeitstages. Die Arbeiten Mehrings und Luxemburgs sind daher sicher tiefgehender und umfassender als die Notizen Liebknechts. Aber auch diese zeigen, wie intensiv die deutsche Linke die Entwicklungen in Russland verfolgte.

Mitte Mai schreibt Karl Liebknecht:

„Deutschland und die russische Revolution

1904 schleuderte Fürst Bülow jenes „tua res agitur" [Es ist deine Sache!] (d. h. des Deutschen Reiches) gegen die aufdämmernde russische Revolution; und wie über ein Jahrhundert vorher, so war das Jahrzehnt bis zum Ausbruch des Weltkrieges eine dauernde borusso-zarische Allianz gegen die russische Revolution. Hat sich dies seit dem August 1914, in dem die Kriegsstimmung des deutschen Volkes mit der frechen Demagogie „Gegen den Zarismus!" aufgepeitscht wurde, und gar seit dem März 1917 in sein Gegenteil verkehrt? Natürlich nicht. Die Katzenfreundlichkeiten gegen das revolutionäre Russland sind ein integrierender Bestandteil, ja das Hauptingredienz der jetzigen deutschen Intrige gegen das revolutionäre Russland, das halb friedensreif geprügelt, halb friedensreif gestreichelt werden soll. Sicherlich ist der Bedarf der deutschen Reaktion nach einer Stütze außerhalb Deutschlands seit der Waffenstreckung der deutschen „Sozialdemokratie" und bei der traurigen Passivität der deutschen Arbeiterklasse ungemein verringert, wie andererseits die Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Zarismus oder eines politischen Gleichwerts dafür bei den deutschen Interessenten noch keineswegs aufgegeben ist. Doch lassen sich Wandlungen der offiziellen und auch der alldeutsch-junkerlichen Kriegszielpolitik gegenüber Russland erkennen, die auch vom Gesichtspunkt der inneren Politik Deutschlands betrachtet werden müssen: Das zarische Russland durfte für die preußisch-deutsche Reaktion stark sein, ja musste oder sollte es doch sein. Ein revolutionäres Russland darf für die preußisch-deutsche Reaktion auch heute so wenig stark sein wie eine revolutionäre Macht in Deutschland selbst: Es bedroht die innerpolitische und soziale Position der herrschenden Klassen des Deutschen Reichs. Tua res agitur – gilt ihnen trotz aller aus schlauer Sonderfriedens-Übertölpelungsabsichten geborener revolutionsfreundlicher Versicherungen auch heute, auch für die weitere Zukunft und für die kommende Friedenszeit – um so mehr, je radikaler und je machtvoller die russische Revolution ist. Auch hier liegt eines der Motive für die Operationen um Riga und die immer klarer hervortretenden Annexionspläne nicht nur in Bezug auf Polen, sondern auch in Bezug auf Litauen und die Ostseeprovinzen.“ (Liebknecht 1982 [1917]-a)

Mit dem letzten Satz meint Liebknecht die militärischen Operationen im Baltikum, die mit der Besetzung Rigas durch deutsche Truppen Anfang September endeten.

Wenig später unterstreicht er in einer Notiz diese internationale Bedeutung der russischen Revolution, ihre Bedeutung für die internationalen Beziehungen, die politischen Interessen der verschiedenen imperialistischen Mächte und für die Wiederbelebung der Arbeiterbewegung.

„Ungeheure Bedeutung der innerpolitischen Wirkungen/der inneren Veränderungen in Russland auf die übrigen Länder/ der Tatsache, dass Russland nicht mehr zaristisch ist, für die innerpolit. Lage auch aller andren europäischen Völker, bes. Deutschland. Um so umwälzender ist diese Bedeutung, je freier oder gar sozialistisch die Staatsform ist, je mehr Massenregierung. Über die „Randstaaten" als Puffer zum Schutze der Mittelmächte vor dem revol. Einfluss Russlands (wenigstens nach dem Plan u. Wunsch der Mittelmächte). Die Randstaaten nicht nur Eroberungen u. Wall, Puffer, Stoßkissen gegen Kriegsgefahr, sondern auch Deckung der inneren deutschen Reaktion durch eine Mauer monarchischer Gebilde oder doch aristokratischer! Deshalb so bes. Gewicht auf monarchische Verfassung in Polen usw. gelegt!“ (Liebknecht 1982 [1917]-c)

 

Schließlich leitet er daraus auch die „Aufgaben der deutschen Arbeiter nach dem Kriege“ ab:

"Die Aufgaben der Arbeiter nach dem Kriege

Beim Versagen des Proletariats, beim Ausbleiben der sozialen Revolution gegen den Krieg, bei deutschem Sieg vor allem, werde der ganze Krieg „umsonst" geführt, würden die ganzen Opfer „umsonst" gebracht sein – so hört man oft.

Ja, wenn das nur wäre! Wenn das internationale Proletariat seine Arbeit, seinen Kampf nach dem Kriege in der Machtstellung und in dem Punkte wiederaufnehmen und fortsetzen könnte, in denen es sich bei Kriegsausbruch befand!

Aber es ist in allen kriegführenden Ländern grauenhaft geschwächt – physisch und moralisch; die besitzenden Klassen der siegreichen Länder sind gewaltig gestärkt – politisch und wirtschaftlich. Die meisten Führer und ein großer Teil der arbeitenden Massen in den siegreichen Ländern bis ins Mark korrumpiert, betäubt, desorganisiert oder entmutigt; in den besiegten Ländern bis zur Raserei chauvinisiert oder verzweifelt; die besitzenden Klassen selbstbewusster und zielklarer als je. Das Proletariat aktionsunfähiger, die besitzenden Klassen aktionsfähiger als je. Die internationale Solidarität gewaltig gehemmt – die Völkerverhetzung gewaltig erleichtert, ja zum chronischen Zustand erhoben. Der Imperialismus triumphierend, der Sozialismus diskreditiert – selbst die Kommune von 1871 rückwirkend …: Ein Riesendefizit, nicht eine Null ist das Kriegsergebnis für das revolutionäre Proletariat!

Aus dem Deutsch-Französischen Kriege, aus allen Kriegen seitdem ging der Sozialismus rein und neu geheiligt, neu gestählt hervor – aus dem Weltkriege als ein Trümmerhaufen. Ein Trümmerhaufen seiner Ideologie, ein Trümmerhaufen seiner Organisationen – am meisten dort, wo sie sich äußerlich durch Unterwerfung unter die herrschenden Gewalten am besten erhalten haben, d. h., als Ganzes den Todfeinden des Proletariats in die Hand gespielt sind.

Die Arbeiterbewegung bis hinter das Jahr 1870 zurückgeworfen: Das ist das Fazit.

In jedem einzelnen Lande und in der Internationale muss von vorn angefangen werden – in der Aufklärungsarbeit, in der Organisation, in der Schulung zum Klassenkampf, in der Erziehung zur internationalen Solidarität.

Die Schöpfung einer aktionsfähigen internationalen Massenorganisation und -bewegung des Proletariats, diese grundlegende Aufgabe, hat von neuem zu beginnen; unter schwierigeren Bedingungen als je. Alle Hände ans Werk! Arbeiten – nicht verzweifeln!

Auch nach dem Kriege wird, wie während des Krieges, ja, in noch höherem Maße oder doch offensichtlicher, Deutschland der Schlüssel- und Angelpunkt der internationalen Lage sein; besonders für die revolutionäre Entwicklung. Und Pflicht des deutschen Proletariats ist höchste Aktivität – um so mehr, je mehr es während des Krieges versagt hat. So wird es seine historische Schuld zu büßen haben, nur so seine Schuld sühnen können. Vor den künftigen Geschlechtern aber wird der deutsche Arbeiter verflucht und verworfen sein, der diese Pflicht nicht erkennt und erfüllt.

Im Einzelnen wird unsere Aufgabe sein:

1. Unter Zugrundelegung der nach dem Kriege vorhandenen staatlichen Gestaltungen und ihren wirtschaftlichen, sozialen, politischen und historischen Bedingungen in jedem Lande die Anhänger zu sammeln, zu ordnen, im Geiste des revolutionären Internationalismus zu schulen und in diesem Geiste mit aller Kraft und den wirksamsten Mitteln (ohne Rücksicht auf Gesetzfreiheit? Natürlich!) Massenagitation und -organisation zu betreiben.

2. Vom Boden der nach dem Kriege vorhandenen staatlichen Gebilde, imperialistischen Komplexe, kapitalistischen Weltbeziehungen ausgehend, die proletarische Internationale als Zusammenfassung der vom Geiste des revolutionären Internationalismus erfüllten Proletarier aller einzelnen Länder als den Träger des internationalen Klassenkampfes wiederherzustellen.

3. Die nach dem Kriege vorhandenen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Massenerregungen für Organisation und Kampf in allen Ländern auszunutzen.

4. Die nach dem Kriege vorhandenen nationalen Gegensätze durch Umschmelzung möglichst auch in den Dienst des internationalen Klassenkampfes zu stellen oder doch für diesen Kampf möglichst unschädlich zu machen.

5. Den internationalen Klassenkampf in allen Ländern auf allen Gebieten mit aller Schärfe zu führen; dabei die spezielle antimilitaristische Arbeit (Agitation und Organisation!) in den militärischen und nichtmilitärischen Massen mit besonderem Eifer zu betreiben.

6. Bei alledem den Hauptnachdruck auf Deutschland zu legen: Die deutschen Massen müssen vor allem gewonnen und vorangetrieben werden.

7. Nach den Bedürfnissen, wie sie durch die Aufgaben zu 1-6 diktiert werden, die verräterischen, unzuverlässigen, falsch orientierten und schwächlichen (nicht aktionsfähigen) Strömungen im Proletariat zu bekämpfen.“ (Liebknecht 1982 [1917]-b)

 

Quellen und zum Weiterlesen

 

Liebknecht, Karl. 1982 [1917]-a. "Deutschland und die russische Revolution." In Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band IX, 339-340. Berlin: Dietz Verlag.

———. 1982 [1917]-b. "Die Aufgaben der deutschen Arbeiter nach dem Kriege." In Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band IX, 340-342. Berlin: Dietz Verlag.

———. 1982 [1917]-c. "[Notiz Sept. 1917]." In Karl Liebknecht Gesammelte Reden und Schriften Band IX, 358. Berlin: Dietz Verlag.

Im Netz sind die Schriften Karl Liebknechts hier zu finden.