Vor einigen Wochen war im Karl Dietz Verlag Berlin ein Band mit Beiträgen zur nichtbolschewistischen linken Diskussion nach dem Februar 1917 erschienen. Damit wurde für das deutschsprachige Publikum eine wichtige Lücke hinsichtlich der Darstellung der Entwicklungen, die schließlich zur Oktoberrevolution führten, geschlossen.
Der Herausgeber des Bandes W. Hedeler hatte kurz zuvor eine Neuauflage der Beiträge Plechanows aus den Jahren 1917-1918 bei BasisDruck veröffentlicht. Nun legt der Karl Dietz Verlag unter dem Titel „Diktatur statt Sozialismus“ eine Übersicht über die Diskussionen zur Oktoberrevolution vor, die in der damaligen USPD und im Spartakusbund, also auf dem linken Flügel der deutschen Sozialdemokratie, geführt wurden. Er schließt damit eine weitere Lücke, diesmal in den Überlieferungen zur Geschichte der deutschen linken Sozialdemokratie. Den spektakulärsten Beitrag zu dieser Diskussion leistete aus der Sicht späterer Generationen zweifelsfrei Rosa Luxemburg mit ihrem Manuskript „Zur russischen Revolution“, das erst Ende 1921 veröffentlicht wurde.
Die Beiträge in diesem Band sind größtenteils vor dem luxemburgschen Manuskript entstanden. Sie zeigen aber in ihrer Vielfalt und Ernsthaftigkeit, dass das Bild der isolierten Rosa L., die in Unkenntnis der Prozesse in Russland ihr Manuskript verfasste, ein Mythos ist. Es ist hilfreich, dass der Herausgeber Jörn Schütrumpf den Band mit einer „Vorblende ins Jahr 1921“ einleitet, in der die Reaktionen auf die Veröffentlichung des erwähnten Manuskriptes dokumentiert sind. Die anschließende Wiedergabe der Diskussionen 1917-1918 ist eine schlagende Widerlegung des 1921/22 begründeten Mythos. Luxemburg kannte die Diskussion, die sich auf russische Quellen stützen konnte.
Schütrumpf hat für diesen Band bisher unbekannte und verloren geglaubte bzw. gemachte Quellen herangezogen. Schon allein dieser Fakt ist bemerkenswert: Weder in der BRD noch in der DDR ist die Breite der wiedergegebenen Diskussion bekannt gewesen, obwohl die GründerInnengenerationen aus den Reihen von SPD, KPD und weiterer mehr oder weniger linker Organisationen beider Staaten sie gekannt haben müssen. Die weitgehend kritisch-konstruktive und problemorientierte Natur der Debatte passte nicht in die Zeit des ausbrechenden Kalten Krieges. Die Mappe, in der die Beiträge aufgefunden wurden, war als „nicht zu entleihen“ beschriftet und außerdem auch noch unter einem nicht ganz zutreffenden Namen deklariert. Allein dies ist schon eine eigene Geschichte.
Neben dem bemerkenswerten Stil der Diskussion ist natürlich auch ihr Gegenstand bis heute von hoher Brisanz: das Verhältnis von Demokratie und Diktatur (des Proletariats – oder einer Partei). Die TeilnehmerInnen ringen mit dem Dilemma, in das die russische Bewegung geraten war, weil, wie Rosa Luxemburg immer wieder betonte, die deutsche Sozialdemokratie sich als zur Revolution unfähig erwiesen hatte. Angesichts der Krisen der heutigen linken Bewegungen erweist sich dieser Blick in die Geschichte als außerordentlich lehrreich. Das 500 Seiten starke Buch, ursprünglich als Büchlein von nicht einmal halbem Umfang geplant kann man getrost dabei als Lehrbuch betrachten.