Lektüren über die Mauer, Parteibeschlüsse als Wissenschaft und die 1983er Erinnerungslandschaft im Westen - Teil IV der Serie Marx in der DDR
Karl Marx tauchte in dem Dialog-Papier von SED und SPD, für das der rote Teppich nicht zuletzt mit der Berliner Marx-Konferenz ausgerollt worden war, übrigens nur in der formelhaften Selbstbeschreibung der SED als »Marxisten-Leninisten« auf, aber eben nicht als »der Marx«, obwohl sich sowohl Sozialdemokraten im Westen als auch Staatssozialisten im Osten auf ihn beriefen. Natürlich mit unterschiedlicher Akzentuierung und unter ziemlich verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen. Nur war das ein ganz anderer Karl Marx, nicht der der großen Propagandaplakate der SED, der als sein »größter Sohn« gleich dem ganzen »deutschen Volk« ins Familienbuch geschrieben wurde.
Teil III der Serie über Marx in der DDR:
Die Berliner Konferenz von 1983, öde Sprechrituale und der Auftakt zu einem systemübergreifenden Dialog.
In der DDR wurde ebenso wie in der Bundesrepublik eine umfangreiche Marxforschung betrieben, Anfang der 1980er Jahre liefen die Arbeiten an der MEGA, die in den 1970er Jahren in Berlin und Moskau begonnen worden war und international fachliche Anerkennung erhielt. Ungezählte Gesellschaftswissenschaftler der DDR spürten biografischen Details des Lebens von Karl Marx nach, es wurde nach den Wirkungen der politischen Interventionen von Marx zu seiner Zeit gefragt, theoretische Probleme wie die der Wertform oder der Grundrente wurden seziert. All das geschah nicht im luftleeren Raum, in der Scientific Community wirkten zwar die ideologischen Prämissen, schnürte der politische Wille auch Spielräume ein - aber dennoch gab es ein wissenschaftliches Wechselverhältnis zur vielfältigen Befassung mit Marx im Westen.
Es war also keine Besonderheit, dass in den »Beiträgen zur Marx-Engels-Forschung«, die von der Marx-Engels-Abteilung im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED herausgegeben wurden, Forschungsarbeiten und Positionen aus dem Westen diskutiert wurden. Das auch, wenn diese sich zum Beispiel Gedanken über die Reproduktionsschemata, die Wirtschaftstheorie und die »Anwendung« von Marx etwa in der Sowjetunion machten, wie der seinerzeit am Osteuropa-Institut an der Freien Universität Westberlin wirkende Ökonom Manfred Turban.
Natürlich unterlag dieser Wissenstransfer bestimmten, politisch und zeitgenössisch geprägten Imperativen - die Rezension des Turban-Buches von Wolfgang Müller stellt diesen nicht nur ausführlich dar und nennt das Werk »informativ«, sondern gibt auch einen Kommentar dazu ab, der wie ein Disclaimer anmutet: Es musste eben noch gesagt werden, »daß er nicht zu der Frage vorstößt, welche objektiven Gesetzmäßigkeiten und Zusammenhänge die kapitalistische und die sozialistische Wirtschaft prägen und in ihrer Entwicklung bestimmen, durch welche sozialökonomische Qualität sich Kapitalismus und Sozialismus voneinander unterscheiden und welche historische Bedeutung dieser Unterschied hat.«
Marx als D-Mark
Der 100. Todestag von Karl Marx im Jahr 1983 schuf freilich nicht nur in der DDR diverse Anlässe zur Ehrung, Erinnerung und Auseinandersetzung. Die Bundesbank brachte eine offizielle Fünf-D-Mark-Gedenkmünze heraus. In Trier wurde das in Regie der Friedrich-Ebert-Stiftung geführte und umfassend neu gestaltete Karl-Marx-Haus mit erweiterter Ausstellungsfläche wiedereröffnet. In der sozialdemokratischen Zeitschrift »L’80« schrieb Thomas Meyer 1983, »die Zeit ist reif für eine Erneuerung des Godesberger Programms«. Jenes war 1959 beschlossen worden und galt als Abkehr der SPD vom Marxismus, der, so formulierte es seinerzeit Herbert Wehner, »als eine Doktrin weder Partei bildend noch im Sinne dessen was wir als soziale Demokratie und als demokratischen Sozialismus wollen müssen, fördernd sein kann«.
Meyer wollte nun nicht einfach den Marxismus als Erbe wieder ins Programm zurückbeordern, verwies aber auf neue Fragen etwa zu den Ressourcen, technologischen Risiken und Umweltproblemen, die mit dem alten Papier nicht mehr beantwortbar seien. Die Sozialdemokraten hatten von der »originär marxistischen Erwartung gelebt, dass die Vollendung des technisch-industriellen Fortschritts die Voraussetzung für die Vollendung der Humanisierung der Gesellschaft sei«. Das war zwar eine andere Betonung als die in der SED gültige Idee vom gesetzmäßigen Ende des Kapitalismus. Aber es war eben gleichermaßen eine »Enderwartung«.
Auch im Umfeld der DKP ließ man den Jahrestag selbstverständlich nicht aus. In Trier nahm sich eine vom Institut für Marxistische Studien und Forschungen IMSF in Frankfurt am Main und der Wuppertaler Marx-Engels-Stiftung organisierte Konferenz das Thema »Karl Marx und das revolutionäre Subjekt in der Welt von heute« vor. An den Universitäten und in der linken Szene hatte Marx seit den 1960er Jahren eine zunehmende Rolle gespielt, mitunter wurde eine »Erbe-Politik« betrieben, die sich zur selbstlegitimierenden Bilderproduktion der SED wie eine Farce verhielt. Und doch hatte sich etwas verändert, man konnte es schon allein an der Zahl der Publikation zu, über, im Anschluss an Marx ablesen.
In Westberlin erschien 1983 der erste Band der deutschen Ausgabe des »Kritischen Wörterbuch des Marxismus«. Wolfgang Fritz Haug, der das Projekt mit vorangetrieben hatte, schrieb: »Nach einer kurzen Inflation marxisierender Veröffentlichungen setzte zwar der Rückschlag ein, die meisten Verlage reduzierten entsprechende Programme drastisch oder stellten sie ein. Dieser Rückschlag ist aber zugleich eine Probe auf den Bestand. Er wird die neuen Traditionen marxistischer Forschungen keineswegs abbrechen können.« In der sich den Grünen annähernden Zeitschrift »Moderne Zeiten«, in der auch frühere Protagonisten des Kommunistischen Bundes wirkten, jubelte Frieder Otto Wolf über den »unentbehrlichen Instrumentenkasten«.
Dieser hätte sicherlich auch in der DDR gebraucht werde können. Im fünften Band, der ein paar Jahre später erschien, tauchte zum Beispiel das Stichwort »Marxismus-Leninismus« auf. Georges Labica selbst, der treibende Faktor hinter der französischen Originalausgabe, hatte es beigetragen. Und damit ein Autor also, der bald »Der Marxismus-Leninismus. Elemente einer Kritik« veröffentlichte - ein Buch, das einen Beitrag zu einer Debatte beisteuerte, die in der DDR weitgehend ausbleiben musste. In der Westlinken, die in den K-Gruppen und den vom Osten in jeder Beziehung abhängigen »Parteien der Systemauseinandersetzung« (Georg Fülberth) selbst viel ML-Huberei betrieben hatte, wurde Labicas Polemik indes zu einem Etappenstein antistalinistischer (Selbst-)Kritik. Für ihn, Labica, habe »der Stalinismus nicht mit der offiziellen Entstalinisierung nach dem XX. Parteitag geendet, sondern besteht fort, solange von einer Philosophie des Marxismus-Leninismus die Rede ist«, schrieb damals die »Frankfurter Allgemeine« - der Rezensent: Herfried Münkler.
Mit dem Sammelband »Aktualisierung Marx’« legten 1983 zudem drei marxistische Zeitschriften - die Prokla, die SPW und Das Argument - ein Gemeinschaftsprojekt vor, um »ein Zeichen« zu setzen: Immerhin seien die differierenden Auffassungen »Unterschiede innerhalb des Marxismus. Das Werk von Karl Marx bringt uns zusammen.« Aber auch grenzüberschreitend? Einzige DDR-Stimme in dem Bändchen: jene des Schriftstellers Volker Braun. Der hatte 1982, also im Jahr zuvor, den dortigen Schriftstellerverband verlassen, seine Arbeiten spiegelten mehr und mehr eine gewisse Resignation der Linken in der DDR, also von Leuten, die Kritik am real existierenden System genauso hatten, wie sie an einem anderen Sozialismus als Idee, als Weg, als Hoffnung festhielten.
»Und wie ausgeschlossen, unter uns / Nicht an allem zu zweifeln. Seither« schreibt Braun da über Marx. Das »unter uns« lässt sich heute gleichsam wie eine doppelte Einschränkung lesen - einmal darauf verweisend, dass der produktive Zweifel eben nur eine Sache eines kleineren Kreises ist, das galt für die an Marx sich orientierenden im Westen. Und zugleich beschreibt das »unter uns« auch die in der DDR obwaltende Realität der Anpassung des Sprechens, man konnte in bestimmten Kreisen den Zweifel in Gesprächen produktiv machen, man konnte darüber aber nicht mit jedem reden.
Und so wurde denn natürlich in der DDR nicht offiziell gesprochen über die Frage, die Karl-Ernst Lohmann in dem Argument-Band aufwirft: »Was hat eine marxistische Theorie des Staatssozialismus zu erklären?« Denn die Antwort, das war klar, musste auf eine Kritik auch der SED-Herrschaft hinauslaufen. Freilich, und vielleicht war das ja auch ein Ergebnis der vorhersehbaren Nicht-Rezeption, Nicht-Reaktion, zielte die Marx-Debatte anlässlich des 100. Todestags nicht auf eine Befassung mit dem Teil der Welt, in dem nun die großen Ehrehrbietungen zwecks Machtlegitimation stattfanden. Der Band sollte vielmehr beitragen »zu einem Überblick über Positionen und Problembewusstsein« im Westen, man wolle etwas von der »Breite und Vielfalt marxistischer Schreib- und Denkweise« zeigen. Und, das ganz sicher auch eine Abgrenzung zu den Marx-Feierlichkeiten in der DDR: »Wir wollen keine Gedenk- oder Festschrift, auch keine bloßen Versicherungen, dass Marx aktuell sei.«
Marx und das Echo der Affäre Ruben
Das »Zeichen«, dass da im Westen gesetzt werden sollte, konnte aber, so undurchdringlich die Vorhänge mitunter auch erschienen, vom Osten aus ebenfalls gesehen werden. In der DDR, wenigstens in den Kreisen, die Zugang zu solcher Literatur hatte, blieb diese ganz andere Befassung mit Marx jedenfalls nicht unbemerkt. Es existierten ja grenzüberschreitende offizielle Arbeitskontakte; es gab dissidente Gruppen, die neueren Debatten wenigstens in Promilleumfang in jenes Land transformierten, in dem angeblich die Lehre von Marx »verwirklicht« wurde. Jedenfalls war da neben dem Nicht-Marx des Alltags, dem Bilder-Marx, der die SED-Macht legitimierte, und dem quasireligiösen Marx der Partei, auch ein akademischer Marx der DDR.
Auch wenn das durch die heute gültigen Brillen des Rückblicks nicht gleich zu erkennen ist, weil die Betonung auf die »SED-Herrschaftsideologie Marxismus« üblich ist und sich eine entsprechende Beweisführung unzähliger Belege versichern kann, in denen Marx in ungelenker Sprache zum unangreifbaren Bezugspunkt für alles Mögliche erklärt wurde. Wer wollte, konnte aber selbst aus den gestelzten offiziösen Elaboraten über die »Tendenzen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Marxismus-Kritik« erfahren, worin diese Kritik bestand, worauf sie hinauswollte, was ihre Argumente waren.
Das wiederum hinterließ auch im Osten in den Köpfen der Menschen Spuren - und fand über Umwege sogar Eingang in den offiziellen Raum. Natürlich nicht ohne Widersprüche, und oft einhergehend mit jener politischen »Geschmeidigkeit«, bei der »nach oben«, also gegenüber der SED, anders gesprochen wurde als untereinander, schon allein, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, aus Gründen, die mit inhaltlichen Differenzen nicht viel zu tun hatten, mit dem »Revisionismus«-Vorwurf belegt zu werden, was das Ende einer wissenschaftlichen Karriere bedeuten konnte, mindestens aber einen Verlust an Ressourcen für solche Betätigung.
1983 war die Erinnerung an den »Fall Ruben«, der in Wahrheit einer der ideologischen Zurichtung der Philosophie durch die SED zu Zwecken war, die außerhalb wissenschaftlichen Meinungsstreits lagen, noch sehr lebendig. Gegen Peter Ruben und andere war eine inszenierte Kampagne geführt worden, die mit Parteiausschluss, Lehrverbot und Publikationsblockaden 1981 ihren beschämenden Höhepunkt gefunden hatte. Ruben hatte mit einer eigenständigen Theorie des dialektischen Widerspruchs für Beachtung auch im Westen gesorgt, der Vorwurf des Revisionismus wurde dann an einem 1980 erschienenen und gemeinsam mit Hans Wagner veröffentlichten Text über »Sozialistische Wertform und dialektischer Widerspruch« festgemacht.
»Nichts spricht dafür, dass Ruben ›Dissident‹ wäre«, hat seinerzeit Wolfgang Fritz Haug in der westdeutschen »Tageszeitung« die Angelegenheit beklagt. »Andererseits wissen wir, aus der Kirchen- wie Parteigeschichte, dass man Ketzer machen kann durch Verketzerung.« Der Fall ist exemplarisch, setzt aber eine schon länger wirkende Funktion voraus: das instrumentelle Verhältnis zwischen Parteiideologie und Marx, wofür letzterer nichts konnte.
Ruben selbst erinnerte später einmal daran, dass in einer Zwischenüberschrift eines 1958 gehaltenen Vortrags von Gerhard Harig über »Wesen und Entstehung der marxistischen Philosophie« eine Dimension dieses Verhältnisses in die Worte »Parteibeschlüsse sind Wissenschaft« gebracht worden war. »Die Geschichte der DDR-Philosophie ist in einem die der Lobreden auf die Weisheit der Parteiführung und die der Verurteilung von ›Revisionisten‹ und sonst in Ungnade Geratenen«, so Ruben nach der Wende. Man könne die DDR-Philosophie »ohne die Wahrnehmung dieses beständigen Konflikts nicht angemessen verstehen«.
Nun war dieser Konflikt nicht auf den Umgang mit Karl Marx begrenzt, fand aber angesichts der für die SED im wahrsten Sinne des Wortes überragenden Bedeutung seiner »unsterblichen Ideen« einen entsprechenden Ausdruck. Er betraf im Übrigen nicht nur DDR-Wissenschaftler und Politiker, sondern hatte mindestens im Umfeld der DKP und zuvor in den K-Gruppen im Westen ein Spiegelbild. Auch hier konnte man durch das Einnehmen einer jeweils bestimmten Position zu Marx schnell zum »Revisionisten« werden.
Wie es weitergeht? Lesen Sie in Teil V der Serie über Karl Marx und die DDR wie nach deren Ende mit Sündenstolz und selbstkritischem Blick zurückgeschaut wurde und was das mit den ZK-Thesen des Jahres 1983 zu tun hat.