April 1917 – Lenin: „Fehdehandschuh“ und „Fieberphantasien“

Lenin im Park der gestürzten Denkmäler, Moskau Foto: Privat Public Domain

Mit der Ankunft Lenins in Petrograd veränderte sich die Konstellation im revolutionären Russland radikal. Er bringt mit seinen April-Thesen eine neue Sicht auf Dynamik und Perspektiven der Revolution, die auch ihn überraschte, in die Auseinandersetzungen. (Lenin 1959 [1917])

Sie stellen ein Ergebnis seiner Studien in der Schweiz dar, wie Michael Brie an dieser Stelle schon dargestellt hat. Nicht die Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung, sondern ihr Sturz und die Durchsetzung der Macht der Sowjets werden auf die Tagesordnung gesetzt. Es zeigen sich hier schon, kurz nach dem Sturz des Zarismus, grundlegende Meinungsverschiedenheiten zur Frage Krieg-Frieden und zum Charakter der Revolution und ihren Perspektiven. Letztlich geht es um die Frage, die auch in der deutschen Linken in den Jahren 1917/1918, vor allem nach der Oktoberrevolution, heiß diskutierte werden wird: sind die Verhältnisse reif für eine nachkapitalistische Ordnung? Die erste „Gesamtrussische Beratung der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten“ hatte Mitte April sich im Kern darauf festgelegt, dass die bürgerlich-demokratische Revolution auf der Tagesordnung stünde. Man würde die Regierung zwar kontrollieren, aber nicht in Frage stellen. Die Beschlüsse zum Krieg, zum Verhältnis zur Regierung, zur „Arbeiterfrage“ usw. sind davon geprägt. (dokumentiert in Hedeler, Schützler, und Striegnitz 1997, 219-231)

Lenin stellt sich mit seinen Thesen gegen die Beschlüsse des gerade zu Ende gehenden Sowjetkongresses. (vgl. dazu ausführlich der angegebene Artikel von Bock)

Die Radikalität und, wie sich zeigen wird, strategische Wirksamkeit der Positionen Lenins fordern Reaktionen heraus: Der Begründer der marxistischen Richtung in Russland Georgi Plechanow reagiert mit Ablehnung. Er sah darin eine Hinwendung zum Anarchismus und stimmte ihrer Charakteristik als „Fieberphantasien“ durch einen Journalisten der „Jedinstwo“ zu. (Plechanow 2016 [1917], 20) Auch führende Bolschewiki lehnten vorerst die leninschen Positionen ab. Marot verweist allerdings auch darauf, dass Lenin mit seiner radikalen Position durchaus die Meinung einer Minderheit der Arbeiterschaft in Petrograd zum Ausdruck brachte: eine Synthese von „Anti-Kadettismus“ (also Absage an ein Bündnis mit der liberalen Bourgeoisie) und der Forderung „Alle Macht den Räten“. (vgl. Marot 2012, 156f.) Dabei verweist Suchanov, Chronist der Ereignisse, darauf, dass das bürgerliche Lager außerdem die Kriegspropaganda mit einer intensiven Agitation gegen die Sowjets und gegen die Forderungen der Arbeiter nach dem Achtstundentag verband. Diese würden den Interessen der Deutschen Vorschub leisten. Unter den weitgehend bäuerlichen Soldaten hatte diese Propaganda durchaus Erfolg. (vgl. Suchanov 1967, 241ff.) Auf dem Sowjetkongress selbst, so Suchanov weiter, standen sich dann eine zahlenmäßig und qualitativ schwache Linke und eine gut organisierte, von Offizieren geführte Rechte gegenüber. (vgl. ebd., 265)

Helmut Bock charakterisierte 1997 die Aprilthesen als „Fehdehandschuh, den Lenin gegen die sozialdemokratischen »Vaterlandsverteidiger« schleuderte“. Dies war vielleicht der wesentlichste Aspekt, weil die fehlende Fähigkeit und in Teilen der fehlende Willen, den Krieg zu beenden, neben der ungelösten Agrarfrage, der entscheidende Faktor des Sturzes der Provisorischen Regierung und des Verfalls des Einflusses der sie stützenden rechten und linken Parteien werden sollte. Bezeichnenderweise ist der Ausgangspunkt der Polemik Plechanows gegen Lenin die Frage nach der Verantwortung für und den Charakter des Krieges. Er bezeichnet Lenin als einen der Menschen, „denen die Liebe zur Internationale den Horizont so stark vernebelt hat, dass sie nicht in der Lage sind und auch nicht den Wunsch haben, sie Klarheit zu verschaffen, wer den eigentlich die Verantwortung für den gegenwärtigen Krieg zu tragen hat.“ (Plechanow 2016 [1917], 21)

Bock schreibt weiter:

„Diese »April-Thesen« waren eine radikale Alternative zu den Beschlüssen der vortägigen Sowjetberatung. Der Redner bezeichnete den Klassencharakter der Provisorischen Regierung als »kapitalistisch«, ihre äußere und kriegsstrategische Politik schlechthin als »räuberisch« und »imperialistisch«. Deshalb sei »revolutionäre Vaterlandsverteidigung« nichts anderes als eine opportunistische Phrase und mit Entschiedenheit abzulehnen. Er sprach von Bedingungen, unter denen die Landesverteidigung allein zu rechtfertigen und als »revolutionär« zu bezeichnen wäre: »a) Übergang der Macht in die Hände des Proletariats und der sich ihm anschließenden ärmsten Teile der Bauernschaft; b) Verzicht auf alle Annexionen in der Tat und nicht nur in Worten; c) tatsächlicher und völliger Bruch mit allen Interessen des Kapitals.« Den Krieg mit einem wahrhaft demokratischen Frieden zu beenden, sei ohne den »Sturz des Kapitals« ganz unmöglich. Wer von den Zuhörern glaubte, hier werde über eine proletarische Revolution der Zukunft gesprochen, wofür die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands vorerst noch reifen müssten, wurde eines anderen belehrt. Lenin verwarf die Strategie, die von den Deputierten der Arbeiter- und Soldatensowjets beschlossen war. Anstatt die Provisorische Regierung nur »kontrollieren« und im Verlauf der bürgerlichen Revolution für »möglichst viel Demokratie des Volkes« streiten zu wollen, müsse die »gegenwärtige Lage« ganz anders und richtiger beurteilt werden: Die bürgerliche Revolution sei bereits an ihr Ende gekommen! Jetzt müsse ein »Übergang von der ersten Etappe«, in der die Bourgeoisie an die Macht gelangte, zur »zweiten Etappe der Revolution« erfolgen. Die kapitalistische Regierung müsse bekämpft und sobald wie möglich gestürzt werden. Die Bolschewiken, obwohl noch in der Minderheit, müssten die Massen darüber aufklären, dass »die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung« seien.“ (Bock 2007, 303f.)

Damit hatte Lenin die in der Revolution präsenten Interessenwidersprüche deutlich auf den Punkt gebracht. Die Thesen stehen am Anfang eines Prozesses, in dem es Lenin gelingt, erst in der eigenen Partei, dann in wesentlichen Teilen der revolutionären Massen Mehrheiten zu erringen. Freilich sagen momentane Interessenwidersprüche noch nichts über langfristig wirkende Konstellationen. Thesen, Parteibeschlüsse und revolutionärer Elan veränderten auch nichts an dem Fakt, dass das Proletariat nur 3-4 Prozent der Bevölkerung ausmachte. Die Beschlüsse des Sowjetkongresses auf der einen und die Aprilthesen auf der anderen Seite leiten eine neue Phase der Revolution ein – die Phase, in der diese über das momentan Machbare hinausschießt – oder hinauszuschießen scheint.

Quellen und zum Weiterlesen

 

Bock, Helmut. 2007. "Was tun? Russlands Februarrevolution und Lenins »April-Thesen« " Utopie kreativ (Heft 198):297-308. Im Netz hier

Hedeler, Wladislaw, Horst Schützler, und Sonja Striegnitz, (Hrsg.) 1997. Die russische Revolution 1917 : Wegweiser oder Sackgasse? Berlin: Dietz Verlag.

Lenin, W.I. 1959 [1917]. "Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution (Aprilthesen)." In Lenin Werke Bd. 24, 1-8. Berlin: Dietz Verlag. Im Netz auch hier

Marot, John Eric. 2012. The October Revolution in prospect and retrospect : interventions in Russian and Soviet history, Historical materialism book series ; 37. Leiden [u.a.]: Brill.

Plechanow, G.W. 2016 [1917]. "Über Lenins Thesen und warum Fieberphantasien bisweilen interessant sind." In Plechnow. Zwischen Revolution und Demokratie. Artikel und Reden 1917-1918, hrsg. von Wladislaw Hedeler und Ruth Stoljarowa, 18-29. Berlin: Basisdruck Verlag. Auszüge im Netz auch hier

Suchanov, Nikolaj Nikolaevič. 1967. 1917: Tagebuch der Russischen Revolution. München: Piper.