Wie kommen Marxʼ Thesen und Erkenntnisse zustande? Dass sie Ergebnis sorgfältiger Forschung sind, ist offenkundig. Bevor Marx zur Feder greift, hat er empirisches Material gesammelt, sich Geschichte und Theorie seines Gegenstands erschlossen, und ist mit dessen kontroversen Beurteilungen vertraut. Von der Sättigung mit solchem Faktenwissen erhalten seine Texte einen Teil ihrer Wucht. Weiteren Schwung steuern strenge Beweisführungen und eine bezwingende Argumentationsweise bei (etwa: „Umgekehrt.“). Doch haben Marxʼ Texte nicht nur deshalb so eine eindringliche Wirkung, weil es ihm darum geht, seine Leserinnen und Leser sachlich korrekt zu informieren oder an ihr logisches Denken zu appellieren. Dass sie überhaupt so eindringlich werden, liegt an der Herkunft dieser Texte aus einem politischen Erfahrungsraum. Sie entstehen im Konflikt mit anderen Positionen und sind, wenn sie sich erklärtermaßen von diesen abgrenzen, zugleich als Waffen zum Einsatz gegen diese geschmiedet. Der politische Erfahrungsraum ist also zugleich auch ihr Bestimmungsort.
Von der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 bis zur Kritik des Gothaer Programms von 1875 sind fast alle wichtigen Texte von Marx in ihrer Selbstbezeichnung und ihrem Selbstverständnis nach „Kritiken“. Es sind Kritiken, Infragestellungen, Problematisierungen von gesellschaftlichen Verhältnissen und Zuständen, die es umzuwälzen und zu revolutionieren gelte. Deshalb erschöpft sich ihre Funktion, bei aller Wissenschaftlichkeit, nicht in gründlicher und verständlicher Darstellung eines Gegenstands. Sie wollen von dessen engster Beziehung mit den falschen Zuständen überzeugen. Von Beginn an sind die Marxʼschen Texte als Kritiken eine radikale und performative Praxis; spätestens ab 1845/46 sollen sie zudem eine ganz bestimmte Sprechposition etablieren: die kommunistische ‚Partei‘, beziehungsweise eine kommunistische Perspektive. Wer sich selbst Kommunist nennt, wird nun von Marx über das vermeintlich einzig wahre Verständnis dieser Bezeichnung belehrt; alle anderen sollen die analytische Überlegenheit und historische Notwendigkeit des Kommunismus kennenlernen. Marxʼ Kritik will also noch mehr bewirken als bloß zu überzeugen. Sie will eingreifen und auftrumpfen, nicht selten auch niederringen.
In der Forschung der letzten fünfzig Jahre zu Marxʼ Kritikbegriff begegnet uns wenig von dieser dringlichen und rücksichtslosen Stimme. Stattdessen werden für gewöhnlich entweder Marxʼ frühe oder seine späten Schriften besonders hervorgehoben, um dann deren jeweilige theoretische Herangehensweisen die darin verhandelten Themen und zum Inbegriff seiner Kritik zu erklären.
So stellen einige Autorinnen und Autoren Marxʼ Thesen und Erkenntnisse vornehmlich als Resultat eines kontinuierlichen Wissenszuwachses dar. Was Kritik bei Marx bedeutet, wird von deren spätem Zentrum aus begriffen, von der Kritik der politischen Ökonomie, vornehmlich im Kapital, das heißt von einer wissenschaftlichen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise, deren Geheimnisse, Gesetzmäßigkeiten und Widersprüche er enthüllt habe. Die Kritik, so heißt es, komme hier zu ihrer vollen Entfaltung, weil sie in ihrer wissenschaftlichen Darstellung und methodologischen Reflexivität erstmals in der Lage sei, die Verhältnisse adäquat auf ihren Begriff zu bringen. Einer solchen Lesart gelten Marxʼ angriffslustige Argumentationsweise und sein revolutionärer Eifer als der Wissenschaft äußerliche Akzidentien, die zwar zur historischen Person Marx gehören, zum Verständnis seines Werkes jedoch wenig beitragen. So wird suggeriert, diese Vereinseitigung wäre nötig, um auch heute noch auf die Marxsche Theorie – wie auf ein zeitloses Nachschlagewerk – zurückgreifen zu können.
Demgegenüber sehen Vertreterinnen und Vertreter einer anderen einflussreichen Rezeptionslinie insbesondere im jungen Marx den Sozialphilosophen einer entfremdeten, nicht nur kapitalistisch vergesellschafteten Lebensweise, dessen Kritik sich in einer raffinierten Verknüpfung von Philosophie und Politik artikuliert habe. Auch wenn er sich damit von vielen seiner sozialistischen Zeitgenossen im Detail unterscheide, habe er dennoch an ihre Lehren und Traditionen wertschätzend angeschlossen. Diesem harmonischen Bild setzt die Marx-Rezeption in der DDR noch hinzu, dass die Geburtsstunde des Kommunismus nur deshalb auf Marxʼ Konto gehe, weil er dem Wunsch anderer Sozialisten nach politischer und intellektueller Führung entgegengekommen sei. In solche Darstellungen von Marx als einem Entfremdungskritiker und Bewegungsintellektuellen fügt sich dann auch die Erzählung, die erschütternden Erfahrungen während und nach den Revolutionen von 1848/49 hätten ihn zusehends in ein ökonomieimmanentes Denken ohne eingreifenden Anspruch getrieben. Sein kritischer Impuls sei, zugunsten einer szientistisch und funktionalistisch verformten Theoriebildung, allmählich schwächer geworden.
Ohne Zweifel sind die Wissenschaft einer Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft auf der einen und die sozialphilosophische Reflexivität gesellschaftlicher Pathologien auf der anderen Seite zwei wesentliche Themen der Marxʼschen Kritik. Doch wenn in geordneten Bildern rekonstruiert wird, wann und woran Marx Kritik übt, wenn einzelne Schaffensphasen und Textgattungen zu Typen zusammengefasst und einander gegenübergestellt werden, dann bleibt etwas unsichtbar, das erst auf dem Weg einer genealogischen Freilegung in den Blick rückt: dass nämlich diese Kritik in einem spezifischen Modus vollzogen wird, der über all die ganz unterschiedlichen Formate und Zeiträume des kritischen Einsatzes Marxens hinweg anzutreffen ist. Dieser Modus besteht in immer neuen Abgrenzungsbewegungen, in der Identifikation von Gegnern und Frontstellungen. Schon früh, in Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, hat Marx selbst dafür ein prägnantes Bild gefunden: „Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befaßt, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen.“
Die Marxʼsche Kritik ist also immer auch eine parteiliche und konfrontative Praxis. Sie versteht sich wesentlich als einen politischen Einsatz vor dem Hintergrund sozialer Kämpfe und innerhalb von Macht- und Kräfteverhältnissen. Wo sich verschiedene sozialreformerische Bewegungen gegen Ausbeutung und Unterdrückung formieren, dort kursieren zwangsläufig auch unterschiedliche Vorstellungen von der Überwindung gesellschaftlicher Herrschaft. Die Marxʼsche Kritik beansprucht, in diesem Gemenge die falschen von den richtigen Kritiken unterscheiden zu können, ja zu dieser Aufgabe der Sichtung und Einordnung geradezu berufen zu sein. Ihre Wissenschaftlichkeit ist immer auch eine Waffe zur Delegitimierung anderer Positionen und damit ein taktisches Mittel, um nach ihrem eigenen Maßstab Gegner zu identifizieren und Feinderklärungen auszurufen. Die behauptete Unzulänglichkeit anderer Kritiken ist ihre Existenzberechtigung. Schließlich zielt sie darauf, eine Position einzunehmen, von der aus sie allein für die gesamte Arbeiterklasse sprechen kann.
Vielleicht hat man diese Stimme Marxens allzu gerne überhört und vergessen, weil sie etwas Gewalttätiges und Rücksichtsloses transportiert, weil sie eine Dringlichkeit besitzt und eine Beunruhigung hervorruft, die dem wissenschaftlichen und sozialphilosophischen Diskurs nicht angemessen erscheinen. Vielleicht auch ist sie eine zu gefährliche Stimme, die sich der zunehmenden Akademisierung und Kanonisierung von Marx versperrt. Wenn das Spezifische der Marxʼschen Kritik sich immer auch aus dem Kontext der sozialen und politischen Kämpfe ergibt, an denen sie sich entzündet hat und auf die sie einwirken wollte, wie schlagen sich dann die realhistorischen politischen Niederlagen, Brüche und Infragestellungen, generell die veränderte politische Praxis der letzten 150 Jahre auf den Geltungsanspruch der Marxʼschen Theorie ebenso wie auf unser Verständnis von ihr nieder? Ist nicht die teilweise archivarische Ruhigstellung seiner Texte, aber auch der Versuch, ihnen eine von den konkreten politischen Umständen losgelöste zeitlose Autorität zuzusprechen, auch Ausdruck einer Verdrängung dieser veränderten historischen Wirklichkeit, womit eine Abspaltung auch der gewalttätigen und rücksichtslosen Kritikstimme Marxens dann fast schon notwendig einhergeht? Müsste man sie aber nicht gerade deshalb zu Gehör bringen? Müsste man sie nicht, statt sie als theoretisch unzulänglich abzuweisen oder als moralisch unerhört zu ignorieren, vielmehr aufgrund ihrer Gefährlichkeit erneut befragen?
An der Universität Osnabrück will sich das Forschungsprojekt mit dem Titel „Marx und die ‚Kritik im Handgemenge‘. Zu einer Genealogie moderner Gesellschaftskritik“ den Marxʼschen Texten von dieser Seite nähern. Drei Themenbereiche stehen dabei besonders im Fokus: Zunächst die Geburt des (‚marxistischen‘) Kommunismus aus Marxʼ Auseinandersetzungen mit organisierten Arbeiter-Handwerkern. In dieser frühen Phase will die Marxʼsche Kritik nichts Geringeres als einen Parteibildungsprozess vorantreiben. Dafür geht sie in Frontstellung zu anderen Sozialismen und Kommunismen; sie beansprucht, das diskursive Feld zu ordnen und die Grenzen des kommunistisch Sagbaren zu bestimmen. Ein weiterer Themenbereich ist Marxʼ journalistische Kritik der Finanz-, Wirtschafts- und Außenpolitik der europäischen Regierungen in Folge der Revolutionen der Jahrhundertmitte. In Phasen der politischen Restauration weiß die Kritik selbst die desolate Lage emanzipativer Bewegungen noch als notwendigen Vorläufer eines erneuten revolutionären Aufschwungs zu deuten. Mit dieser Botschaft will sie sowohl die Erfolgs- und Selbstgewissheit der Bourgeoisie erschüttern als auch dem Proletariat die Bedingungen seiner kommenden revolutionären Aktion vor Augen führen. Schließlich widmet sich das Forschungsprojekt auch dem theoretischen und politischen Handgemenge, das in der Marxʼschen Kritik der politischen Ökonomie präsent ist. Hier führt Marx nicht nur einen Kampf gegen die bürgerlichen politischen Ökonomen, sondern zentral auch gegen die in den sozialistischen Bewegungen populären Analysen und Rezepte, etwa in Form von Geldkritik und ‚alternativen‘ Tauschkonzepten. Marxʼ philosophisch-kommunistische Annahmen hinterlassen ihre Spuren selbst in den Begriffen und der Architektur des Kapital, das so nicht nur die kapitalistische Produktionsweise darzustellen, sondern zugleich den Kommunismus wissenschaftlich zu begründen beansprucht.
Allen drei Themenbereichen ist gemein, dass die Konstellation des Handgemenges wesentlich die Herausbildung einer spezifischen Wissensform bedingt, die sich von anderen für affirmativ erklärten Theorien abhebt und immer auch eine ‚Wahrheitspolitik‘ ist. Mit den Schlussfolgerungen aus einem Arsenal von akribisch zusammengetragenen Fakten zieht die Marxʼsche Kritik als historische, materialistische Wissenschaft ins Feld.
Einige Dimensionen und Episoden, in denen die Marxʼsche ‚Kritik im Handgemenge‘ deutliche Konturen gewinnt, sind nun in einem neu erschienenen Buch des Osnabrücker Forschungsprojekts versammelt. Der Band „Kritik im Handgemenge“. Die Marxʼsche Gesellschaftskritik als politischer Einsatz dokumentiert die Beiträge einer Tagung, die zu diesem Thema im März 2017 an der Universität Osnabrück stattgefunden hat. Mehr Informationen über das Forschungsprojekt und seine MitarbeiterInnen Prof. Dr. Matthias Bohlender, Anna-Sophie Schönfelder und Matthias Spekker sind auf der Webseite des Projekts zu finden.