Internationales Forum Marx-XXI

Internationales Forum Marx-XXI

Einen Beitrag über eine Marx-Konferenz in Russland zu schreiben, ist schwierig. In der Vorstellungswelt der meisten westlichen MarxistInnen wird der Marxismus in den realsozialistischen Ländern auf seine Rolle als Legitimationsideologie reduziert. Interessant wird er dann, wenn WissenschaftlerInnen Repressionen erfahren haben. Legitimationsideologie war diese Linie des Marxismus sicher auch, aber gleichzeitig war er auch immer ein Versuch, mit Widersprüchen zurecht zu kommen, die für Marx in dieser Form noch gar nicht relevant sein konnten und die für westliche Linke bis heute nur schwer zu verstehen sind.

Anders als auf der Marx-Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin ist hier die Kontinuität aus dem Realsozialismus heraus nicht zu übergehen, vielmehr ist sie für die heutige Marx-Rezeption konstituierend. Dies nicht nur wegen der personellen Kontinuitäten, sondern auch aus den ganz eigenen Bedingungen heraus, unter denen der neue russische Kapitalismus und die sozialen Strukturen der heutigen russischen Gesellschaft entstanden sind. Damit sind die Erklärungsmuster, die das heutige westliche Denken in marxscher Tradition anbietet, nur bedingt passfähig: es steht in der Tradition einer starken Arbeiterbewegung, durch die der sozialstaatliche Kompromiss möglich wurde. Davon kann hier in Russland gar keine Rede sein.
Über viele Jahre führten marxistische Strömungen in Russland ein Schattendasein. Auf Forderung der Studenten hin wurden 1990/1991 die Marx-Kurse abgeschafft und durch solche zu Keynes usw. ersetzt. Die einzige einigermaßen organisierte marxistische Strömung war der maßgeblich von Alexander Buzgalin und der Zeitschrift Alternativy vertretene „postsowjetische kritische Marxismus“. Soweit Denken in marxscher Tradition in Russland existiert, existiert es also weitgehend als akademischer Diskurs. Daneben besteht eine Unzahl von sich kommunistisch (es bestehen mindestens fünf kommunistische Parteien), marxistisch oder anarchistisch verstehenden Projekten und Gruppen. Die Gewerkschaftsbewegung ist relativ schwach und selten militant. Eine relevante linke Partei gibt es in Russland nicht und selbst die Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaften und Parteien mit sozialer Orientierung ist wenig entwickelt. Soziale Proteste entzündeten sich jüngst vor allem an der Frage „Wohin mit dem Müll“ und anderen lokalen umweltpolitischen Problemen. Immerhin geht aber auch ein wesentlicher, wenn nicht DER wesentliche Teil der Erschließung des Marxschen Werkes auf die Arbeiten in der Sowjetunion zurück und diese Arbeit wird bis heute hier im Zusammenhang mit der MEGA (Marx-Engels-Gesamtausgabe) geleistet.

Was also kann Marx in Russland hier bedeuten?

Erst einmal ist festzuhalten, dass die Diskussionen im Umfeld der Revolution 1917 wenigstens unter den Intellektuellen bedeutend intensiver waren, als dies gemeinhin wahrgenommen wird. In einem Teil der russischen Gesellschaft ist das Bewußtsein für die Geschichte und für die Bedeutung der linken einschließlich der kommunistischen Strömung vielleicht stärker präsent, als dies für Deutschland mit Blick auf die Rezeption der Novemberrevolution gesagt werden kann. Nun ist die Sache mit Marx allerdings komplizierter – er ist kein Russe, er ist Exponent einer Arbeiterbewegung, die so in Russland nur sehr kurz und ansatzweise bestand und er wird mit allen tatsächlichen und vermeintlichen Problemen des Realsozialismus verknüpft. Die heutige Führungsschicht kennt Marx recht gut – oder könnte es ihrer Ausbildung nach wenigstens. Das macht ihn auch zum „schlechten Gewissen“ wenigstens eines Teils der russländischen Elite. Im Unterschied zu Deutschland fehlt hier auch der Aspekt des „Kulturerbes“ (oder des Standortmarketings).
Um so bemerkenswerter ist die von Alexander Buzgalin initiierte Konferenz, die vom 17. bis 19. Mai 2018 stattfand. Er ist Professor an der Moskauer Lomonossow-Universität (MGU) und leitet das gerade gegründete Zentrum für gegenwartsbezogene marxistische Forschungen der philosophischen Fakultät. Das Organisationskomitee umfaßt VertreterInnen verschiedener Fakultäten der MGU und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen. Hier wie auch im Programmkomitee finden sich außerdem Mitglieder der Russländischen Akademie der Wissenschaften und MitarbeiterInnen von Akademie-Instituten. Interessant ist auch die Breite an Institutionen, die als Mitveranstalter aufgeführt sind: die Institute für Ökonomie und für Philosophie der Akademie der Wissenschaften, die Freie Russische Ökonomische Gesellschaft, das Institut für eine neue industrielle Entwicklung S. Ju. Vitte, das Russländische staatliche Archiv für gesellschaftspolitische Geschichte und die Moskauer Universität für Finanzen und Recht.
Das Programm war ähnlich bunt wie das der Konferenz in Berlin oder der regelmäßig stattfindenden Kongresse des Historical Materialism. Die Liste der ReferentInnen umfasst 384 Namen, mehr als 900 TeilnehmerInnen hatten sich angemeldet. Das hielt natürlich Rede- und Diskussionszeiten kurz. Es ging vor allem um eine Präsentation des Standes von an Marx anknüpfenden Diskussionen in Russland. Unter den ausländischen Gästen spielten vor allem chinesische WissenschaftlerInnen eine große Rolle; eine der Veranstaltungen war speziell dem Verhältnis Russland-China gewidmet.
Überraschend für den Beobachter ist, dass die Breite der einladenden Institutionen nicht nur Deklaration ist – der Rektor der MGU, der sich in seiner Jugend mit den ökonomischen Manuskripten Marx’ beschäftigt hatte, Vertreter (ja, nur Vertreter) der beteiligten Fakultäten der MGU und des Institutes für Ökonomie der Russländischen Akademie der Wissenschaften traten tatsächlich nicht einfach mit inhaltslosen Grußworten auf, sondern setzten sich mit der Bedeutung Marx‘ für die Lösung heutiger Probleme auseinander. Für den akademischen Raum ist diese Konferenz damit ein entscheidender Umbruch im Verhältnis zum Marxismus. Zeitgleich mit der Konferenz wurde im Historischen Museum Moskaus (dem früheren Revolutionsmuseum) eine Ausstellung zu Marx und seinen Wirkungen bis in die heutige Zeit eröffnet.

Internationales Forum Marx-XXI

Die so nicht unbedingt zu erwartende Marx-Renaissance bestätigte sich am Abend des ersten Konferenztages bei einem Empfang in der Freien Ökonomischen Gesellschaft. Diese Vereinigung von etwa 300 Tsd. ÖkonomInnen umfasst VertreterInnen der verschiedensten Denk- und politischen Richtungen. Deren Vorsitzender Sergej Bodrunov betonte, dass das marxsche Erbe selbstverständlich zu den Quellen auch des ökonomischen Denkens in Russland gehöre. Die aktuelle Ausgabe ihrer Zeitschrift „Freie Wirtschaftswissenschaft“ stellt dieses Thema in ihren Mittelpunkt.
Unter den TeilnehmerInnen (allerdings überwogen Männer deutlich) dominierte die Gruppe der 50-70-jährigen. Allerdings waren auch viele jüngere Gesichter – Studierende und Promovierende – zu sehen, die ihre Arbeitsergebnisse vorstellten. Auch das Organisationsteam bestand vor allem aus jüngeren WissenschaftlerInnen. AktivistInnen aus den sozialen Bewegungen waren weniger stark vertreten. Das hat auch damit zu tun, dass die Spielräume für eine Politik in marxscher Tradition eher enger werden. In Gesprächen wurde deutlich gemacht, dass jüngere marxistisch gebildete AktivistInnen das Land verlassen.
Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum Fragen der marxschen Methode einen großen Stellenwert in den Diskussionen der Konferenz hatten. Die Devise „Alles ist in Zweifel zu ziehen“ war eine der Drehachsen. Die Mehrheit der Vortragenden betonten die Produktivität des marxschen Ansatzes für das Verständnis der heutigen Zeit. Positionen, dass Marx nur als wesentliches ideengeschichtliches Phänomen zu behandeln sei, sein Schaffen aber ansonsten Maßstäben wissenschaftlichen Arbeitens nicht standhalte, waren nur vereinzelt zu hören. Mehrfach wurde betont, dass in den modernen Lesarten Marx‘ Philosophie und Ökonomie voneinander getrennt würden. Das sei eine wesentliche Ursache des Niedergangs des Marxismus. Es müsse der ganzheitliche Ansatz wiederhergestellt werden. Die vorherrschende antihistorische Marx-Rezeption verstelle den Weg zur Erkenntnis dessen, worum es Marx ging, die Bewegungsgesetze der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Man müsse verstehen, dass er im ersten Band des Kapital, in den Grundrissen und im dritten Band des Kapital unterschiedliche Varianten einer solchen Antwort anbiete.
Einen breiten Raum nahmen die Probleme der Entfremdung und des Fetischismus ein. Das ist verständlich, da in der Strömung des postsowjetischen kritischen Marxismus diese Kategorien eine zentrale Rolle spielen.
Interessant war auch ein Rundtischgespräch, in dessen Verlauf Professoren verschiedener akademischer Einrichtungen ihre Begegnung mit Marx in den Spezialseminaren an der Moskauer Universität reflektierten. Bemerkenswert war die mit Zustimmung aufgenommene Feststellung, dass unabhängig von den heutigen politischen und wissenschaftlichen Präferenzen die Kultur der Diskussion für alle prägend gewesen sei. Hervorgehoben wurde weiter die Rolle Marx‘ als Vorreiter der qualitativen Analyse sozialer Prozesse.
In den Zusammenfassungen der Arbeit der verschiedenen Themenlinien am letzten Tag der Konferenz wurden Punkte hervorgehoben, wie die Aktualität der dialektischen Methode, des marxschen Menschenbildes und der Konzeption der Entfremdung. Herausforderungen seien die Aktualisierung der Eigentumsfrage sowie die Analyse der eurasischen Integrationsprozesse, vor allem mit Blick auf China. In der Praxis sei die Frage zu beantworten, wie und wo MarxistInnen wirksam werden müßten und welche Aufgaben sich damit verbinden würden – in Gewerkschaften, in den Betrieben oder auch in linken Regierungen. Die theoretische Dimension dieser Aufgabenstellung blieb allerdings offen. Das verweist auf einen Schwachpunkt des postsowjetischen kritischen Marxismus, nämlich die nicht klar beantwortete Frage der Verflechtung von Theorie und Praxis sowie der Umgang mit den Übergängen zwischen Qualitäten gesellschaftlicher Entwicklung. Das erklärt vielleicht auch, warum z.B. feministische Diskurse, die durchaus auch in Russland geführt werden, auf der Konferenz weitgehend unsichtbar blieben.
Die Konferenz markierte durchaus einen Neuanfang in der Marx-Rezeption an den akademischen Bildungseinrichtungen in Russland. Von TeilnehmerInnen wurde betont, dass die Gründung des erwähnten Forschungszentrums unter Leitung A. Buzgalins und das Auftretens des Rektors der MGU zur Eröffnung auch in den Hochschulen der russischen „Provinz“ die Etablierung von offiziellen Marx-Kursen legitimieren würde. Es ist zu hoffen, dass auf dieser Grundlage auch die Debatten zwischen westeuropäischen und russischen MarxistInnen, wenigstens im akademischen Raum, einen neuen Impuls erhalten.

 

Der Autor im Gesprächskreis (auf Russisch): The Observer. Karl Marx. International Forum "MARX XXI"
Sowie in kurzer Marx-Film auf Russisch (englische Untertitel)