Namenshumor ist meist einer von der schlechten Sorte. Aber was soll man machen, wenn man tatsächlich Marx heißt und etwas über den Kapitalismus sagen möchte? Man schreibt an den anderen Marx einen fiktiven Brief. So hat es der eine, Kardinal Reinhard, schon vor einiger Zeit in einem Buch getan, das natürlich „Das Kapital“ heißen musste. Zum Auftakt des 150. Jubiläumsjahres der „Kritik der politischen Ökonomie“ hat jetzt „The European“ diese Einbahnstraßenkorrespondenz als Teil einer „Debatte“ dokumentiert. Um es kurz zu machen: Marxens Brief an Marx sollte man gelesen haben. Denn was da an den „lieben Namensvetter“ aufgeschrieben ist, sagt eine Menge über das Denken der katholischen Soziallehre, über die neue Kapitalismus-Skepsis im Vatikan - vor allem aber darüber, wie mit und gegen Karl Marx hierzulande argumentiert wird.
Nach einem Präludium, in dem es Marx darum geht, dem anderen Marx seinen Atheismus und seine Kirchenkritik vorzuhalten, und in dem schon die ersten Pappkameraden aufgerichtet werden (die „kleinlichen Genossen“ von heute), auf dass sie der Kardinal dann mit Geste umstoßen kann, kommt der Brief zur Sache: Schon die sozial engagierten Christen zu Marx’ Lebzeiten hätten den „Kapitalismus scharf kritisiert und auf die Not der in den neuartigen Fabriken schuftenden Arbeiter aufmerksam gemacht“. Sie taten dies auch mit Kritik an der Eigentumsauffassung, etwa aus der Feder von Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der später als „Arbeiterbischof“ bekannt wurde - was auch Karl Marx seinerzeit nicht verborgen blieb. „Die Hunde kokettieren“, schrieb er Engels, „wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage“.
Nun, das ist nicht besonders höflich ausgedrückt. Und man kann lange darüber diskutieren, welchen Beitrag die Soziallehre der Kirchen zu jenem gesellschaftlichen Fortschritt hatte, die Jürgen Habermas als „sozialstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts“ bezeichnet hat - und ob das und wenn ja für wen historisch betrachtet nicht auch eine gute Sache war. Marx, Reinhard, geht es aber nicht um alte Debatten wie die um Revolution versus Reform. Er will auf anderes hinaus - und darin wird etwas erkennbar, das über den konkreten Brief hinausreicht. Sozusagen eine bestimmte aktuelle Weise, die Kritik der politischen Ökonomie feuilletonistisch zur privatisieren.
In der Regel geht das so: Jaja, müsste man nicht eigentlich Abbitte leisten, weil Karl Marx ja doch irgendwie recht gehabt haben könnte? (Wir kennen das von der von Frank Schirrmacher 2011 hierzulande ausgelösten Feuilletondebatte unter Bürgerlich-Konservativen). Um dann, nach gelegentlichem Einverständnis was die Analyse angeht, sich auch gleich und laut von den zeitgenössischen oder überhaupt von radikalen Schlussfolgerungen daraus abzugrenzen: Nein, nein, „die Folgen Ihres Denkens waren letztendlich verheerend“, schreibt Reinhard Marx. Denn der Sowjetkommunismus, die Zentralverwaltungswirtschaft und so fort. „Wird der Kapitalismus letztlich doch an sich selbst zugrunde gehen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich hoffe das nicht.“ Dann weiter: „Insofern bleibe ich – trotz allen Respekts für Ihre scharfsinnigen Beobachtungen und Gedanken – ein entschiedener Gegner Ihrer Theorien.“
Hier liegt „der Hund“ begraben, und das nicht deshalb, weil Kardinal Marx politisch und theoretisch nicht auf der Seite von Karl Marx steht. Sondern weil das nicht besonders logisch ist. Der Kirchenmann, der irgendwo in dem Brief sagt, „Nachtreten“ entspräche nicht seinem Charakter, nachdem er ein bisschen nachgetreten hat, pocht auf seine „Soziale Marktwirtschaft“, von der er gerade noch und unter einer gewissen Ehrbezeugung für Marxens sehr frühe Einsichten darüber, erklärt hat, ihr fehlten heute die Grundlagen.
Wenn es denn nämlich stimmte, dass, wie Kardinal Marx schreibt, wir inzwischen ständig und zu recht darüber belehrt würden, dass das gute alte Wirtschaftswunderland mit immer mehr Umverteilung, immer mehr Rechten, immer mehr Verbesserung und allem Pipapo, wenn also „diese integrierte Erwerbsbürgergesellschaft des 20. Jahrhunderts der historische Ausnahmefall gewesen sei, von dem wir Abschied nehmen müssten“, dann macht es keinen Sinn, „sich zu überlegen“, ob man „nicht wenigstens aus Klugheitserwägungen eine Soziale Marktwirtschaft einem grenzenlosen Kapitalismus vorziehen“ wolle. Nicht, weil die „grenzenlose“ Variante so toll ist. Sondern weil der „sozialen“ Alternative dazu eben die Grundlage fehlen.
Wie dem auch sei. Marxens Brief kennt fast alle Standards, die der Kultur der Ja-aber-Marxkritik heute eigen sind: Erstens, Respekt und teils auch Zustimmung zu jenen Aspekten des theoretischen vor allem ökonomiekritischen Werkes, die wie die Faust aufs Auge der heutigen Verhältnisse passen und deshalb auch kaum zurückweisbar wären - „Ich habe überrascht festgestellt, dass Sie, Herr Marx, bereits vor 150 Jahren vorhergesagt haben …“. Zweitens, Inhaftnahme von Marx für das, was dann jene aus ihm machten, die sich seiner unter roten Fahnen bemächtigten - „… daran sind Sie mit Ihren Schriften keineswegs unschuldig“. Für Linke ist das immer schmerzhaft, weil darin eine sehr kritische Wahrheit über unsere eigene Geschichte liegt, die man nicht wegreden möchte, indem man Marx vor solcherlei Urteilen verteidigt. Und schließlich drittens, auch das gehört zur Ja-aber-Marxkritik unserer Zeit, die mehr oder wenig stolz-forsch vorgetragene Erklärung, dass es sich bei der sozialen Markwirtschaft um eine moralisch oder sonstwie bessere Alternative handele, die zudem noch alternativlos ist. Auch wenn das mit dem zuvor Gesagten gar nicht recht zusammenpassen will.
Lesenswert bleibt der Brief des Kardinals an den Kritiker dennoch. Denn man lernt daraus - unter anderem über die wahrscheinlich unbewusste Selbstherrlichkeit, die da zum Ausdruck kommt, wo der Kirchenmann über einen richtigen Gedanken schreibt: „Und das sagen uns nicht etwa die Ihnen und Ihren Theorien verbliebenen Anhänger, sondern das sagen uns manche Wirtschaftsexperten und Politiker.“ Weil natürlich die an Marx weiterhin irgendwie orientierten „Anhänger“ alles mögliche sein können, nur keine „Wirtschaftsexperten und Politiker“, nicht wahr? Amen.