Wie typisch ist das atypische Arbeitsverhältnis?

Warum die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in Europa und Nordamerika neu interpretiert werden muss

Marcel van der Linden

ist Senior Fellow (und ehemaliger Forschungsdirektor) des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte und Professor für die Geschichte der Sozialbewegungen an der Universität von Amsterdam. In deutscher Sprache erschien zuletzt von ihm: Workers of the World. Eine Globalgeschichte der Arbeit (Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2016).

PolitikerInnen, VolkswirtschaftlicherInnen, SoziologInnen – alle gingen sie bis vor kurzem davon aus, dass der Kapitalismus auf längere Sicht bestimmte "typische" Arbeitsverhältnisse hervorbringt, die sich am besten mit Profitabilität und Kapitalakkumulation vertragen. Die Wirklichkeit ist jedoch bedeutend komplizierter. Der Kapitalismus ist Erzeuger und Fortsetzer von vielen verschiedenen Ausbeutungsformen. Sklaverei gab es nicht nur im frühen Kolonialismus, sondern auch heutzutage wieder in mehreren Regionen (Amazonien, Südasien, usw.).

Das Verlagssystem, in dem Familien im Auftrag eines Unternehmers zu Hause Waren ganz oder teilweise anfertigen, ist keineswegs nur eine vorindustrielle Erscheinung (wie der Begriff "Proto-Industrie" suggeriert), sondern kommt auch jetzt wieder häufig vor und scheint an Bedeutung zuzunehmen. Und im landwirtschaftlichen Bereich taucht die schon öfter totgewähnte Teil- und Halbpacht regelmäßig und an vielen Stellen wieder auf, z.B. seit den siebziger Jahren in Kalifornien.

Der Gedanke, dass es im Kapitalismus so etwas wie ein typisches oder Normalarbeitsverhältnis gibt, lebt nicht nur bei den VerteidigerInnen der „sozialen Marktwirtschaft“, sondern auch bei radikalen GesellschaftskritikerInnen. Der Begriff geht aus von einer Lohnarbeitsform mit den folgenden zentralen Aspekten:

* Kontinuität und Stabilität der Beschäftigung;

* Vollzeitbeschäftigung bei nur einem Beschäftiger in dessen Betrieb und nicht zu Hause;

* Ein nach unten fixiertes Lohnniveau, das es einem Arbeitnehmer (m/w) erlaubt, den Lebensunterhalt einer Kleinfamilie zu decken;

* Gesetzliche Schutz- und Teilhaberechte;

* Eine an die Dauer der Beschäftigung und das Niveau des vorher erzielten Einkommens gekoppelte Sozialversicherung.

Die Sozialpolitik ist lange Zeit davon ausgegangen, dass die "Normalarbeit" das logische Endresultat der kapitalistischen Entwicklung war und dass alle anderen abhängigen Arbeitsverhältnisse allmählich verschwinden würden. Diese Auffassung ist jedoch spätestens seit den siebziger Jahren untergraben worden. In den hochentwickelten Ländern wurde ein Trend zur Spaltung der Arbeiterschaft in zwei Sektoren sichtbar: ein relativ kleiner Sektor von festangestellten Beschäftigten, deren Arbeitsprozesse über just-in-time Produktion, job rotation, Qualitätszirkel, usw. "flexibilisiert" werden, und einen wachsenden prekären Sektor von Scheinselbständigen, TeilzeitarbeiterInnen, Aushilfskräften, usw. Im Globalen Süden ist das Normalarbeitsverhältnis von jeher eher eine marginale Ausnahme als die Regel. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Unterbeschäftigung und Langzeitarbeitslosigkeit herrschen dort vor.

Im Globalen Süden war bereits in den sechziger Jahren die Einsicht gewachsen, dass reguläre Lohnarbeit trotz aller "Entwicklung" nirgends vorherrschend geworden war. Im Gegenteil, die Haushalte der Armen in den rasant wachsenden Städten und auf dem Lande sahen sich zunehmend genötigt zur Verknüpfung einer Vielzahl von Überlebensstrategien, die trotz ihrer großen Mannigfaltigkeit auf jeden Fall gemeinsam haben, dass sie in keiner Weise auf den Nenner des Normalarbeitsverhältnisses gebracht werden konnten. Wichtigster Ausdruck dieser neuen Einsicht war die zunehmende Beliebtheit des Begriffs "Informeller Sektor", der Anfang der siebziger Jahre sein Debut machte. Seitdem wurde der Begriff unzählbare Male kritisiert, aber da bisher keine überzeugend bessere Alternative gefunden wurde, bleibt er weit verbreitet.

Es entstehen Konturen einer neuen Interpretation

Der Feminismus machte außerdem deutlich, dass die überlieferten historischen und sozialwissenschaftlichen Theorien meistens von einer impliziten und unhaltbaren Annahme ausgegangen waren: dem Gedanke nämlich, dass LohnarbeiterInnen nur als Individuen studiert und verstanden werden können – während sie in Wirklichkeit fast immer Teil eines Familienhaushalts sind. Die Arbeit von LohnarbeiterInnen ist deshalb immer nur ein Teil der Gesamtarbeit, die in einem Haushalt geleistet wird. In letzter Zeit werden die gegenseitigen Verbindungen zwischen den verschiedenen Kritiken am alten Paradigma des Normalarbeitsverhältnisses deutlicher. Es entstehen die (zum Teil noch etwas vagen) Konturen einer neuen Interpretation. Wenig umstritten ist inzwischen, dass es auch in den Metropolen einen informellen Sektor gibt, der überdies in manchen Ländern zunimmt, und auch der Gedanke, dass Haushalte mehrere Überlebensstrategien kombinieren, findet Eingang in breitere Kreise.

Eine Betrachtung der weltweiten Arbeitsproblematik während der letzten zwei oder drei Jahrhunderte lehrt, dass das Normalarbeitsverhältnis historisch und räumlich eher "atypisch" ist. In der so genannten Dritten Welt gibt es kaum sozial gesicherte, vollbeschäftigte und festangestellte Arbeitskräfte. Die wenigen ArbeiterInnen mit relativ geschützten Stellungen werden deshalb oft als zu einer Arbeiteraristokratie gehörend betrachtet – eine Umschreibung, die wohl deshalb nicht ganz zutreffend ist, weil die relativ privilegierten ArbeiterInnen oft enge Beziehungen zu ihren Herkunftsdörfern unterhalten und sie dahin einen großen Teil ihrer Einkünfte übertragen.

Auch wird immer deutlicher, dass die Arbeiterhaushalte in den Metropolen ebenfalls nur selten vollständig von Lohnarbeit abhängig waren oder sind (natürlich kombiniert mit häuslicher Arbeit, insbesondere, aber nicht ausschließlich, der Frauen). Das Lohneinkommen wurde und wird meistens ergänzt durch Nebenverdienste von verschiedenen Familienmitgliedern. Diese beziehen sich u.a. auf folgende Einkommensformen:

* Produktion von Konsumgütern für den eigen Gebrauch (Subsistenzarbeit). Dazu gehören unter anderem das Anfertigen von Kleidung, das Halten von Schweinen, Hühnern und dergleichen, und auch das das Sammeln von Abfällen.

* Kleine Warenproduktion und kleiner Warenhandel, wie Schneiderei, Viehhaltung oder Lumpensammeln für den Verkauf, Hausierhandel, usw.

* Vermietung von Land, Arbeitsmitteln, Wohnräume, usw., inklusive das Vermieten von einem Bett oder Zimmer an einen Schlafgänger oder Untermieter.

* Gelder, Güter oder Dienstleistungen, die erhalten werden ohne sofortige Gegenleistung. Hierzu gehören u.a. die Unterstützung durch Freunde und Bekannte in Zeiten der Not, Wohltätigkeit und Sozialhilfe.

* Entfremdung von Eigentum: Mauserei am Arbeitsplatz, Diebstahl und Unterschlagung.

* Kredite, erhalten durch phasierte Abzahlung von Schulden, Verpfändung, usw.

Die neuere historische Forschung legt überdies nahe, dass die Anzahl der Arbeiterfamilien in Europa und Nordamerika, die ausschließlich von einem Lohneinkommen leben konnten, immer ziemlich gering gewesen ist. Die Bedeutung der männlichen Versorgerehe muss historisch stark relativiert werden. Nicht nur waren oft mehrere Familienmitglieder gleichzeitig lohnabhängig, Auch kam es (genauso wie jetzt in der so genannten Dritten Welt) vor, dass eine Person mehrere Beschäftigungen zur gleichen Zeit hatte.

Vor diesem Hintergrund muss die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses in Europa und Nordamerika neu interpretiert werden als eine Rückkehr zu dem im Weltkapitalismus "normalen" Zustand von irregulären Beschäftigungsverhältnissen. Die neuen Einsichten haben weitreichende Folgen. Erstens gilt es von nun an den Gegensatz zwischen den Unterklassen der "Ersten" und "Dritten" Welt einigermaßen zu relativieren -- obwohl es selbstredend nach wie vor gravierende Unterschiede gibt. In den Städten der "Ersten" Welt entstehen soziale Schichten, deren Arbeitsverhältnisse trotz der großen Wohlstandslücke in manchen Aspekten denen der urban poor in den Slums der "Dritten" Welt zu ähneln anfangen.

Die Trennungslinie zwischen Lohnarbeit und kleinem Unternehmertum ist viel unschärfer als bisher gedacht

Zweitens sind die Trennungslinien zwischen Lohnarbeit und kleinem Unternehmertum viel unschärfer als bisher gedacht wurde. In der "Dritten" und in der "Ersten" Welt gibt es umfangreiche Grauzonen der (Schein-)Selbständigkeit, wo Personen formal auf eigene Rechnung selbständig arbeiten, aber in Wirklichkeit von einem oder von zwei Auftraggebern abhängig sind. Diese Art von self-employment ist im peripheren Kapitalismus bereits seit Jahrzehnten weit verbreitet, nimmt aber in letzter Zeit auch in den Metropolen stark zu, z.B. im Baugewerbe. Allgemein scheint es im hochentwickelten Kapitalismus einen historischen Zusammenhang zu geben zwischen Phasen steigender Arbeitslosigkeit einerseits und Stagnation oder Anstieg der "kleinen" Selbständigkeit andererseits.

Drittens ist auch die Grenze zwischen LohnarbeiterInnen und "Lumpenproletariern" keineswegs so eindeutig wie ältere Theorien nahelegen. Einerseits gibt es auch bei regulären LohnarbeiterInnen "lumpenproletarisches" Verhalten vieler Art, z.B. Betteln und Prostitution als Überlebensstrategien in Notlagen, oder auch Diebereien am Arbeitsplatz, die vom Unternehmerstandpunkt aus durchaus kriminelles Verhalten verkörpern. Andererseits richten die Erfahrungen im Globalen Süden unsere Aufmerksamkeit auf eine soziale Unterschicht, die nicht als industrielle Reservearmee im Marx‘schen Sinne charakterisiert werden kann und genauso wenig als klassisches Lumpenproletariat. In dieser Hinsicht machen prekäre Arbeitsverhältnisse auch neue Begriffsbildungen unvermeidlich.

Viertens ist auch der Begriff der "freien" Lohnarbeit weniger eindeutig als meistens angenommen wird. Der klassischen Definition zufolge verfügt die doppelt-freie LohnarbeiterIn "als freie Person" über die eigene Arbeitskraft als Ware, und hat "andre Waren nicht zu verkaufen". In vielen Fällen ist die Lage von LohnarbeiterInnen jedoch komplizierter. Auch als formal freie Personen können sie an einen Unternehmer gebunden sein, zum Beispiel durch Schulden (Vorschüsse, die es gilt zurückzuzahlen), durch Unterkunft (Betriebswohnungen, usw.), oder über Ruhegehaltsansprüche.

Die Unterscheidung von Stadt und Land muss relativiert werden

Fünftens und letztens muss auch die in Europa übliche strikte Unterscheidung von Stadt und Land relativiert werden. Anders als die Modernisierungstheorie uns möchte glauben lassen, werden oft die Beziehungen zwischen Migranten in den Städten und ihren Herkunftsdörfern im Laufe der Zeit nicht schwächer, sondern gerade stärker. Die Ursache diese Sachverhalts liegt wahrscheinlich im Fehlen eines Systems der sozialen Sicherung, sodass die Dörfer in Zeiten der ökonomischen Krise als soziales Fangnetz fungieren. Übrigens stellt sich in letzter Zeit heraus, dass viele Dörfer (z.B. während der jetzigen Krise in Indonesien) diese Aufgabe nicht mehr erfüllen können, da der Aufstieg der Warenökonomie ihre Subsistenzkapazität erschöpft hat.

Dies alles bedeutet, dass die Kategorie der Arbeiterklasse eine etwas andere Bedeutung bekommt und vor allem auch buntscheckiger wird. Das Normalarbeitsverhältnis ist weit weniger "normal" als bisher gedacht wurde. Unsere Aufgabe ist deshalb nicht primär die Erklärung des Abbruchs von sozial gesicherten Lohnarbeitsverhältnissen, sondern umgekehrt die Beantwortung der Frage, weshalb es punktuell in der Geschichte Normalarbeitsverhältnisse gegeben hat.