Noch näher an der Wahrheit

Wieso man mit Marx Keynes lesen sollte und dabei etwas lernen kann. Von Keynes. Eine Replik auf den Beitrag von Michael Roberts.

Ingo Stützle

war Teamer von Lesekreisen zu Karl Marx‘ „Das Kapital“ für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist geschäftsführender Redakteur bei PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften und arbeitet freischaffend an der Edition der Marx-Engels-Werke für den Karl Dietz Verlag. Zuletzt erschien eine kritische Einführung zu Thomas Piketty (Verso 2017, Bertz + Fischer 2014) und „Austerität als politisches Projekt. Von der monetären Integration Europas zur Eurokrise“ (Westfälisches Dampfboot 2014).

Der Ökonom John M. Keynes (1883-1946) ist für viele, die sich der marxschen Theorie und Kritik der politischen Ökonomie verschrieben haben, eine Provokation: Neben Marx hat kaum ein anderer Wissenschaftler die ökonomische Theorie, wie sie bis dato vorherrschend war, so grundlegend infrage gestellt.

Kein Wunder also, dass viele meinen, Keynes müsse sich entweder mit Marx messen oder ergänze ihn ganz gut. So kommen auch die zwei vorherrschenden Umgangsweisen zustande: Die einen wollen Keynes zusammen mit Marx im gleichen theoretischen Werkzeugkasten wissen. Andere sehen in Keynes hingegen nicht mehr als den Wolf im Schafspelz, einer, der nach der großen Krise von 1929 den Kapitalismus vor dem Untergang gerettet, die Arbeiterklasse und die Sozialdemokratie endgültig mit ihm versöhnt habe, aber diesen ebenso wenig grundsätzlich infrage stelle, wie er eindeutig auf der Seite der Bourgeoisie stehe. Marx sei näher an der Wahrheit, das zeige nicht zuletzt die Geschichte, denn der Kapitalismus habe sich eben nicht durch kluges Management stabilisieren lassen.

Wird die Diskussion entlang dieser Konfliktlinie ausgetragen, hat man sich bald nichts mehr zu sagen und ist kaum schlauer als zu vor – auch wenn viel Richtiges gesagt und geschrieben wurde. Denn ja, an Keynes gibt es so einiges zu kritisieren, der Keynesianismus ist nicht unbedingt links – und leider ist die Kritik all zu selten grundsätzlicher. Wie die ökonomische Klassik, an der sich Marx abarbeitet, reflektiert auch Keynes nicht die Voraussetzungen seiner Theorie – was nicht ohne Auswirkungen auf die theoretische Erfassung des Zusammenhangs der Kategorien bleibt.

Keynes stimmt mit Marx überein: Der „Grund“ des Werts ist die Arbeit.

Die Kategorien, die den Gegenstand der politischen Ökonomie konstituieren (etwa Geld, Kapital, Profit und Zins), greift Keynes nur äußerlich, als scheinbar überhistorische und natürliche Gegebenheiten auf, statt diese aus spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen zu begründen. Denn obwohl Keynes mit der Klassik zumindest darin übereinstimmt, dass der „Grund“ des Werts die Arbeit ist (und sich damit von der Neoklassik abgrenzt), stellt er – wie Marx es in „Das Kapital“ formuliert – nicht die Frage, warum sich die warenproduzierende Arbeit in den Formen Geld und Kapital ausdrücken muss. Eine Frage, die Marx‘ Forschungsprogramm und Perspektive radikal von der Klassik unterscheidet – und eben auch von Keynes. Eine Frage, die es Marx auch im Gegensatz zu Keynes ermöglicht, die konstitutive Relevanz des Geldes für den Kapitalismus nicht nur zu behaupten, sondern zu begründen.

Marx geht es nicht allein um die Darstellung des Arbeits- und Produktionsprozesses als Ausbeutungsprozess. Ihm geht es um die Darstellung der gesellschaftlich Formen, in denen dieser Prozess stattfindet. Marx unterscheidet die konkret-stoffliche Dimension des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses von der historischen Formbestimmtheit. Deshalb kann er auch zeigen, dass mit der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise das Geld die notwendige Vergesellschaftungsinstanz der privat verausgabten Arbeit wird. Erst durch das Geld werden Privatarbeiten Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit – diesen Status hatte das Geld nicht in jeder Gesellschaft. Die Dechiffrierung der fetischisierten und verkehrten Ausdrücke des gesellschaftlichen Stoffwechsels stellt die eigentliche Radikalität der Marx‘schen Theorie dar.

Eine umfassende Kritik an Keynes steht noch aus.

Für Keynes hätte Marx wahrscheinlich einiges Lob übrig gehabt. Aber: Gerade diejenigen, die Marx mit Lob adelte, kritisierte er zugleich scharf. Und dennoch: Eine umfassende und fundamentale Kritik an Keynes – im Marx’schen Sinne – steht bisher noch aus und kann auch hier nur kursorisch bleiben.

Marx‘ kritisiert, dass die Klassik den systematischen Zusammenhang von Warenproduktion und monetären Phänomenen (Geld) nicht begreift. Eine Kritik, die Keynes zwar auch formuliert, die aber dort ihre Grenzen findet, wo Keynes begründen müsste, warum es Geld neben den Waren geben muss, kapitalistische Wirtschaft nicht ohne es funktioniert. Wie die Klassik dringt auch Keynes nicht zu einer Unterscheidung durch, die für Marx den „Springpunkt“ seiner Kritik darstellt, die Formbestimmung der warenproduzierenden Arbeit als abstrakter Arbeit im Unterschied zur konkret-nützlichen, die Unterscheidung von gesellschaftlicher Formbestimmung und stofflicher Gestalt, auch wenn Keynes sie streift.

Dieser Mangel in der Theorie zieht sich durch Keynes‘ gesamtes Werk. So kann Keynes nicht erklären, warum die Akteure im Kapitalismus mit Unsicherheit geplagt sein müssen. Unternehmen können vorher nicht genau wissen, ob sich ihr eingesetztes Kapital auch verwertet oder ob die Pleite droht. Diese Unsicherheit aber ist kein Zustand, der eben der Wirtschaft gleichsam naturhaft zukommt. Keynes kann den spekulativen Charakter jeder Transaktion im Kapitalismus vor allem deshalb nicht erläutern, weil ihm verborgen bleibt, dass die kapitalistische Produktionsweise vor dem Hintergrund des Zwangs zu ständiger Produktivkraftsteigerung die ökonomischen Verhältnisse ständig revolutioniert - in oft nicht zu antizipierender Weise. Die Unsicherheit bei Investitionsentscheidungen und Verkauf von Waren ist also nichts Natürliches, mit dem man sich eben arrangieren muss – weshalb für Keynes Geld eine „scharfsinnige Einrichtung“ ist, – sie ist vielmehr in den spezifisch kapitalistischen Verhältnissen begründet.

Ähnliches gilt für die Kategorie Zins. Keynes kann nicht erklären, wie es überhaupt möglich ist, dass einer bestimmten Summe Geld die Eigenschaft zukommt, einen Zins abzuwerfen. Eine Aufgabe, die sich Marx im dritten Band des „Kapitals“ stellt. Keynes sieht im Kreditverhältnis das dominierende ökonomische Verhältnis. Die Produktion beginnt mit einem Geldvorschuss, einem aufgenommenen Kredit zu einem bestimmten Zinssatz. Dieser zwingt das Kapital zu einer bestimmten Mindestverwertung des Vorschusses. So weit, so gut. Unklar bleibt aber, warum das Kapital überhaupt einen Kredit aufnimmt. Erst der Zweck der Produktion, der Profit und der gesellschaftliche Zwang zur Verwertung des Werts bringen es dazu, einen Kredit aufzunehmen. Zum einen, um in der Konkurrenz überhaupt bestehen zu können; zum anderen, dem günstigen Fall, um gute Profitmöglichkeiten möglichst effektiv ausnutzen zu können. Deshalb kann Marx davon sprechen, dass der Kredit immer auch der mächtigste Hebel zur Überproduktion sei.

Die Baustelle, die Marx hinterlassen hat, kann durch Kritik an Keynes bearbeitet werden

Die hier skizzierte Kritik zeigt, dass Keynes in dem verhaftet bleibt, was Marx als Fetisch und Verkehrung bezeichnet – nicht ohne Folgen. Das ließe sich anhand von einigen Beispielen weiter ausführen, etwa anhand seiner Fortschrittsgläubigkeit und seinem Technizismus, seiner damit verbundenen Wissenschaftsgläubigkeit und Naturalisierung von Konkurrenz und Ungleichheit. Diese Kritik an Keynes soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die große Baustelle, die Marx hinterlassen hat, nur durch eine Kritik an Keynes und anderen bearbeitet werden kann.

Deutlich wird dies etwa an Marx‘ Auseinandersetzung mit der Kritik, die Samuel Bailey (1791-1870) an Ricardo übte. Bailey war laut Marx „Vulgärökonom“, an dem er kein gutes Haar ließ – aber er erkannte, dass dieser einen Finger in die Wunde legte. Bailey zeigte, dass Ricardo den begrifflichen Unterschied von Wert und Tauschwert nicht befriedigend klären konnte: Wert, so Bailey, könne nicht gleichzeitig etwas Absolutes (Wert) wie Relatives (Tauschwert) sein. Vor dem Hintergrund von Baileys Kritik an Ricardo konnte Marx die Analyse der Wertform präziser ausformulieren – obwohl Bailey für Marx nur ein „wortklaubender Klugscheißer“ war.

Wer näher an der Wahrheit ist? Falsche Frage.

Was hat das nun mit Keynes zu tun und der Debatte, ob Marx oder Keynes näher an der Wahrheit dran ist? Es ist schlicht die falsche Frage. Marx hat sich eine andere Aufgabe gestellt und es müsste deshalb vielmehr darum gehen, mit Marx Keynes zu lesen, einen zutiefst bürgerlichen Ökonomen. Auch Marx las „seine Klassiker“ nicht mit einem äußeren, politischen Interesse (was er als eine „gemeine“ Form der wissenschaftlichen Kritik bezeichnete), sondern war daran interessiert, welche richtigen Phänomene sie am Wickel hatten, warum sie diese aber in keinen kohärenten Zusammenhang brachten oder unausgesprochenen mit bestimmten Prämissen arbeiteten, die sie nicht hinterfragten. Derart müssten sich diejenigen, die Marx hochhalten, auch an Keynes (aber auch etwa an Hyman P. Minsky oder den Neo-Ricardianer Piero Sraffa) abarbeiten. Denn die politische Ökonomie ist eben nicht bei Ricardo stehen geblieben und für eine Kritik der politischen Ökonomie auf Höhe der Zeit braucht es mehr als Keynes vorzuwerfen, dass der Keynesianismus gescheitert sei oder er auf der falschen Seite der Barrikade stehe. Zumal Marx Projekt der Kritik der politischen Ökonomie selbst alles andere als abgeschlossen ist.

Die Bände zwei und drei des Kapitals gab Engels heraus und die Manuskripte hierzu sind erst seit 2012 umfassend zugänglich. Die im Zuge des Projekts entstandenen Exzerpte sind noch immer nicht vollständig. Die Kritik der politischen Ökonomie ist eine große Baustelle, mit Lücken und: Konstruktionsfehlern. Ein Schicksal, das Keynes teilt. Auch hier hat sich die Textgrundlage verändert. Mitte der 1970er wurden in Keynes‘ Landhaus Manuskripte gefunden, die im Zuge der Arbeit an seiner „General Theory“ entstanden und in denen er skizziert, was er unter einer „monetary theory of production“ versteht und in denen er sich mitunter mit Marx auseinandersetzt. Es gibt demnach noch einiges kritisch aufzubereiten, denn die Texte erschienen erst, als Keynes vom neoklassischen Mainstream wieder ins Abseits gedrängt wurde (und so manche marxistische Keynes-Kritik formuliert wurde), zumal ihm schon früh ein ähnliches Schicksal zuteil wurde wie Marx: aus Keynes wurde ein Keynesianismus, der kaum etwas mit dem Stichwortgeber zu tun hatte. In den Worten von Minsky: „The popular semi-mathematical statements of The General Theory … transformed … into a nice, polite interdependent equilibrium system. … Keynes's theory was transformed into a system that sought and sustained equilibrium: Keynes's theory was stood on its head“.

Was aber von Keynes lernen?

Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion
Keynes beginnt mit dem Gesamtprozess der kapitalistischen Produktion da, wo Marx im „Kapital“ aufhört – und mit einigen Problemen konfrontiert ist. Die Manuskripte zum zweiten Band des „Kapital“ zeigen, dass Marx mit dem Stoff kämpft. Erst im VII. Manuskript (entstanden zwischen 1878 und 1880) thematisiert er die monetäre Vermittlung des Reproduktionsprozesses. Die Überwindung der „Geldschleierperspektive“ für den Zirkulationsprozess des Kapitals ist zwar ein Durchbruch, wirft aber viele Fragen auf, die Marx gar nicht mehr thematisiert, etwa welche Auswirkungen das auf das bisher Entwickelte hat und vor allem was das für den Reproduktionsprozess des gesellschaftlichen Gesamtkapitals bedeutet, denn das zinstragende Kapital und Kredit sind erst Gegenstand der Manuskripte zum dritten Band, die zudem zeitlich vorher entstanden (1863 bis 1867). Darüber hinaus fehlt im dritten Band die Analyse des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, was den Abschluss der ersten beiden Bände des „Kapitals“ darstellt.

Geldfunktionen
Mit Keynes lassen sich die Geldfunktionen weiter entwickeln, etwa die Motive der Geldhaltung. Im ersten Band des „Kapitals“ (drittes Kapitel) führt Marx noch den Geldschatz an, der wie ein Platzhalter wirkt, weil Geld hier der Zirkulation und Verwertung entzogen und damit dysfunktional ist: Schatz macht im Kapitalismus keinen Sinn. Mit dem Geldmarkt und dem Kreditsystem müsste sich der Schatz als Kategorie im Laufe der Darstellung jedoch eigentlich auflösen und mit Keynes‘ Begriffen der Liquiditätsprämie, der Vorsichts- und Spekulationskasse lässt sich Geldhaltung thematisieren, die aus der Logik des kapitalistischen Reproduktionsprozesses selbst entspringt (auch wenn Keynes gerade nicht zeigen kann, warum die kapitalistische Produktionsweise systematisch Unsicherheit produziert, und die Begriffe deshalb einen psychologisierenden Bias haben, s.o.).

Hierarchie der Währungen
Die Geldanalyse lässt sich zudem auf die Währung ausdehnen, zu der Marx de facto nicht mehr kam bzw. unterstellte, dass Gold die Weltwährung sei – obwohl es schon zu seiner Zeit das britische Pfund war. Geld ist schließlich nicht einfach Geld, sondern immer eine Währung und somit hat Geld nicht, wie Marx im ersten Band des „Kapitals“ schreibt, keinen Preis, sondern neben dem Zins eben auch einen Wechselkurs. Manche Währungen werden vom Geldkapital eher gehalten als andere und eine bestimmte nimmt als Weltgeld die Spitze in einer Hierarchie der Währungen ein, etwas, was im Anschluss an Keynes begriffen werden kann und für eine Analyse dessen, was Marx den Weltmarkt nennt, unerlässlich ist (vgl. die Arbeiten der Postkeynesianer Paul Davidson und Hansjörg Herr).

Hierarchie der Märkte
Die Zentralität des Geldes begründet bei Keynes eine Hierarchie der Märkte: Die Lohnabhängigen bekommen das Geld von den Unternehmen, diese wiederum erhalten das Geld als Kredit auf dem Kapitalmarkt. Dem Geld- und Kapitalmarkt kommt demnach gegenüber anderen Märkten eine dominierende Rolle zu. Eine Idee, die bereits bei Marx zu finden ist, die er aber nicht ausführt. Nicht ohne Grund kam er Jahre später noch einmal auf das Thema zurück.

Krisenverläufe und Krisenformen
In den 1870er und 1880er Jahren interessierte sich Marx erneut für die Themen Geld- und Kapitalmarkt, Krisen, Währungen und Zentralbank, er wollte den Verlauf von Krisen genauer verfolgen, bevor er etwas Analytisches zu Papier bringen wollte und erwog sogar den ersten Band grundlegend zu überarbeiten. Dafür gibt es inhaltliche Gründe, über die ebenso selten diskutiert wird wie darüber, dass bürgerliche Ökonomen wie der Postkeynesianer Minsky zu Geld, Geldkrisen und Krisenverläufen einiges zu sagen haben, was es im Rahmen des Forschungsprogramms Kritik der politischen Ökonomie kritisch anzueignen gilt (vgl. zur jüngsten Krise etwa Bellofiore/Halevi).

Kurzum, eine genauere Marx-Lektüre hilft angesichts der vielen Baustellen in vielen Fragen ebenso wenig weiter wie die Selbstzufriedenheit, Marx im Recht gegenüber Keynes zu wissen.

Literatur:
- Keynes, John Maynard (1936): Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 2002
- Keynes, John Maynard (1933): A Monetary Theory of Production, in: Collected Writings, Bd. 12, London 1973, 408-411.
- Keynes, John Maynard (1932-35): [Towards the General Theory], in: The Collected Writings of John Maynard Keynes, Vol. XXIX, The General Theory and After. A Supplement, London 1979, 35-162.