„Hier zugleich geht Licht auf…“

Über das Politisierungspotential im "Kapital" - für den Leser wie den Autor, als auch für den Gegenstand der Kapitalismusanalyse selbst.

Christoph Lieber

arbeitete in unterschiedlichen Eigentumsformen im Kapitalismus, u.a. in einer genossenschaftlich geführten Buchhandlung, er war Mitglied im VSA: Verlagsteam und ist Redakteur der Zeitschrift Sozialismus. Letzte Buchveröffentlichung (zusammen mit Joachim Bischoff/Fritz Fiehler/Stephan Krüger, Vom Kapital lernen. Die Aktualität von Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, Hamburg 2017 (im Erscheinen).

Das Politische im Kapital von Karl Marx liegt im spezifischen Charakter der „Kritik“ der politischen Ökonomie begründet. Denn diese birgt ein Politisierungspotenzial sowohl für den Leser wie den Autor, als auch für den Gegenstand der Kapitalismusanalyse selber.

Der Leser/Die Leserin

In Sachen Ökonomie rechnet sich jedes Mitglied der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eine gewisse Kenntnis oder gar Kompetenz zu, ist es doch tagtäglich als MarktteilnehmerIn, Lohnabhängige, gar Vermögensbesitzer oder Unternehmerin in den ökonomischen Werkelalltag involviert. Im Bild der „schwäbischen Hausfrau“ ist diese ökonomische Rollenkompetenz hierzulande zum geflügelten Wort geworden. Die Kapitallektüre ist demgegenüber eine große Kränkung, indem in der Kritik der ökonomischen Formen wie Lohn, Profit, Zins oder Miet- und Bodenpreise immer wieder aufgezeigt wird, dass die Individuen eben nicht Herr ihrer gesellschaftlichen Reproduktionsverhältnisse sind, sondern in eine ökonomische „Religion des Alltagslebens“ eingebunden sind, in der sie sich auch noch „völlig zuhause fühlen“ (Marx). Die Marxsche Kritik bleibt dabei nicht bei der bloßen Dechiffrierung dieser ökonomischen Mystifikationen stehen, sondern zeigt auch, wie sie immer wieder entstehen und wie die Individuen in ihrem bewussten Handeln zugleich hinter ihrem Rücken sachliche Abhängigkeitsverhältnisse reproduzieren. Aber indem die Kritik der politischen Ökonomie auf jeder Stufe des kapitalistischen Reproduktionsprozesses einen Zusammenhang von ökonomischen Formbestimmungen, sozialen Beziehungen und Bewusstseinsformen bloßlegt, zeigt sie auch Bruchstellen des ökonomischen Fetischismus und Möglichkeiten eingreifenden Denkens und bewussten Handelns auf.

Kapitallektüre ist mithin in dem Sinne politisierend, dass sie immer wieder zu Selbstkritik und Bewusstseinsveränderung anhält und damit etwas einzulösen versucht, was Marx selbst schon früh in Absetzung von einem erziehersozialistischen Standpunkt einforderte: „Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung (Herv. CL) kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.“ (Dritte Feuerbachthese) Aber die „Selbstveränderung“ trifft auch auf Marx selber zu.

Der Autor

Der Forschungsprozess seiner Kritik der politischen Ökonomie seit den 1850er Jahren, der schließlich 1867 in die Veröffentlichung von Buch I des „Kapital“ einfloss und seit geraumer Zeit mit Abschluss der Abteilung II der MEGA komplett vorliegt, ist ein historisch einzigartiges Dokument von Selbstkritik, Revisionen und Bauplanänderungen. Wie die heutige Leserin des „Kapital“ war auch Marx in manchen Scheincharakteren der kapitalistischen Produktionsweise befangen und musste sich in mehreren Anläufen daran abarbeiten, bis er den Mystizismus der Warenwelt rationell darstellen und ausrufen konnte: „Hier zugleich geht Licht auf, wie und warum das Wertverhältnis im Geld eine materielle besondre Existenz erhält. Dies weiter auszuführen.“ Die Ausführungen im „Kapital“ sind dann keine „Sache der Logik“, wie Wolfgang Fritz Haug in seinem Statement auf marx200.org meint, wenn er Marx eine(n) Standpunkt(logik) der Allgemeinheit unterstellt, die Kritik erst ermögliche; vielmehr ist auch Marx gezwungen, der „Logik der Sache“ zu folgen, um schließlich in der Kritik der „Kreuz- und Querzüge“ der klassischen Ökonomie den „Springpunkt“ fixieren zu können, „um den sich das Verständnis der politischen Ökonomie dreht“ – den Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit.

Für den ersten Band des „Kapital“ bedeutet das für Marx, in dem Gang durch Ware und Geld, Mehrwertproduktion und Akkumulation des Kapitals in allen sachlichen Formen der Produktion und Reproduktion immer wieder die „unsichtbaren Fäden des Verwertungsprozesses“ sichtbar zu machen. In der Geschichte der Kapitallektüren ist dabei den ersten Kapiteln zu Ware und Geld oft eine überzogene Bedeutung beigemessen worden, die der Marxschen Intention und dem eigentlichen politischen Sprengstoff im ersten Band nicht gerecht wird. Denn diese einfachen Formen des Werts können den verschiedensten Produktionsweisen angehören. Aber die Existenzbedingungen des Kapitals sind „durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation. Es entsteht nur, wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte. Das Kapital kündigt daher von vornherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an.“ (Kapital I)

Erst ein solches Verständnis birgt politischen Sprengstoff, wie Friedrich Engels seinem Freund bescheinigt. Er gratuliert Marx „zu der kompletten Weise, in der die verzwicktesten ökonomischen Probleme durch bloßes Zurechtrücken und Einstellen in den richtigen Zusammenhang einfach und fast sinnlich klargemacht werden. Desgleichen zu der, der Sache nach, höchst famosen Darstellung des Verhältnisses von Arbeit und Kapital - im vollen Zusammenhange und komplett hier zum erstenmal.“ Begeistert äußerte sich Engels schließlich zur Analyse des Akkumulationsprozesses: „Das Theoretische ganz famos, auch die Entwicklung der Expropriationsgeschichte ... Sehr brillant ist das Resumé über die Expropriation der Expropriateurs, das wird durchschlagen.“ Für den Mitautor von „Lire le Capital“ (Louis Althusser u.a. 1968), Étienne Balibar, sind diese Schlusspassagen im ersten Band des „Kapital“ auch 2017 „immer noch ein heißer Text“, den er jüngst politisch anregend interpretiert und revolutionstheoretisch problematisiert hat.

Der Gegenstand: Ökonomie der Zeit

Entscheidend ist bis heute der Hinweis von Marx auf die zentrale Rolle der Wertbestimmung durch die Arbeitszeit im Unterschied zu allen Ökonomen vor ihm. Denn diese Verbindung von theoretischer Analyse mit der bis heute anhaltenden gesellschaftlichen Auseinandersetzung um ein „Normalarbeitsverhältnis“ liefert einen wichtigen Hinweis auf die periodisch wiederkehrende Aktualität der Marxschen Kapitalismuskritik und ihr Politisierungspotenzial: „Solang‘ die Wertbestimmung durch die Arbeitszeit wie bei Ricardo selbst ‚unbestimmt‘, macht sie die Leute nicht shaky. Sobald aber exakt mit dem Arbeitstag und seinen Variationen in Verbindung gebracht, geht ihnen ein ganz unangenehmer neuer Leuchter auf.“ (Marx)

Mit diesem Hinweis auf den grundlegenden Konflikt um die Regulierung der Lohnarbeit im Kapitalismus wird die Auseinandersetzung um den Arbeitstag und die Verteilung des gesellschaftlichen Surplus in den Mittelpunkt der Kapitalismusanalyse gerückt. Dahinter steht die weitreichende These: „In der Tat, keine Gesellschaftsform kann verhindern, daß one way or another die disponible Arbeitszeit der Gesellschaft die Produktion regelt. Aber, solange sich diese Reglung nicht durch direkte bewußte Kontrolle der Gesellschaft über ihre Arbeitszeit – was nur möglich bei Gemeineigentum – vollzieht, sondern durch die Bewegung der Preise der Waren“ (Marx), bleibt es bei grundlegenden sozialen Konflikten und einem Ringen um soziale Emanzipation und solidarische Zukunftsgestaltung. Die Marxsche Theorie konnte also wegen des grundlegenden Verteilungskonfliktes einen Einfluss behalten, und diese Interpretation erregt immer wieder aufs neue die Gemüter.

Indem die Verwertungsstruktur, die die zentrale Kategorie des ersten Bandes, der Mehrwert, darstellt, in das zugrundeliegende Zeitregime von notwendiger und Mehrarbeit aufgelöst wird, wird durch die Kritik der versachlichten ökonomischen Formen hindurch „das Elend der sozialen Welt zum Sprechen gebracht“ (Pierre Bourdieu) – die miserable Grundlage des Kapitalismus, dass überhaupt nur notwendige Arbeit verausgabt werden kann, wenn und sofern gleichzeitig Surplusarbeit geliefert wird. „Als Fanatiker der Verwertung des Werts zwingt das Kapital rücksichtslos die Menschheit zur Produktion um der Produktion willen, daher zu einer Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte und zur Schöpfung von materiellen Produktionsbedingungen, welche allein die reale Basis einer höheren Gesellschaftsform bilden können, deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist.“ (Kapital I) Denn in eine „Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf. Ebenso muß die Gesellschaft ihre Zeit zweckmäßig einteilen, um eine ihren Gesamtbedürfnissen gemäße Produktion zu erzielen; wie der einzelne seine Zeit richtig einteilen muß, um sich Kenntnisse in angemeßnen Proportionen zu erwerben oder um den verschiednen Anforderungen an seine Tätigkeit Genüge zu leisten.“ (Marx) Der Drang des Kapitals nach gesteigerter Verwertung prägt daher auch das Zeitregime, das Verhältnis von notwendiger und Surplusarbeitszeit.

Die Politik

Mit dem Zusammenhang von Mehrwertproduktion, Zeitregime und Produktivkraftentwicklung sind in den Kapiteln zum Arbeitstag, der Maschinerie und der großen Industrie im ersten Band des „Kapital“ zentrale Eckpunkte in der „Umwälzung der gesellschaftlichen Betriebsweise“ des Kapitals erfasst, die zugleich den Blick auf Dimensionen einer gesamten gesellschaftlichen Lebensweise, nämlich auf ihre historische Gestaltung wie auf ihre soziale Gestaltbarkeit freilegen. Die Dechiffrierung der Formen der Mehrwertproduktion wirft so ein Licht auf zentrale Problemstellungen nicht nur des ersten Bandes des „Kapital“, sondern der Gesamtanlage: die soziale Beherrschung und Gestaltung der Produktivität gesellschaftlicher Arbeit (vgl. dazu die Daten marxistischer Wertrechnung bei Krüger 2015). Die Lohnabhängigen stehen immer in einem Schnittpunkt einzelbetrieblicher Zwänge und gesamtgesellschaftlicher Rahmenbedingungen. Im Betrieb entscheidet sich, unter welchen Arbeitsbedingungen und mit welcher Produktivität das gesellschaftliche Surplus erwirtschaftet wird. Letzteres gibt aber der Gesellschaft Mittel an die Hand, über Umverteilung, Alimentierung, Subventionen etc. auf Lebensverhältnisse zurückzuwirken. Diese Wechselbeziehung von Ökonomie und Gesellschaft charakterisiert auch die Betriebsweise der großen Industrie, wie sie im ersten Band des „Kapital“ dargestellt wird. Nur eine ökonomistisch verengte Lesart reduziert diese auf Formen kapitalistischer Mehrwertabpressung oder technologischer Arrangements im kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozess. Mit der Analyse gesellschaftlicher Betriebsweisen steht in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie immer ein „ganzer Gesellschaftsmechanismus“ zur Diskussion, der sich nur als ein Set von ökonomischen Grundstrukturen, sozialen Kämpfen und Rückwirkungen gesellschaftlicher Überbauten erschließt – einer „bewußten und planmäßigen Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwüchsige Gestalt ihres Produktionsprozesses“ (Kapital I).

Kapitallektüre ist keine ökonomisch bornierte „Volkswirtschaftslehre“, sondern im emphatischen Sinne Gesellschaftskritik. Mit der These, dass eine organisierte Macht der Lohnarbeit die Möglichkeit hat, über den Staat auf das Kapital zurück- und einzuwirken, sind Staat und Politik als Feld beeinflussbarer Kräfteverhältnisse in die Darstellung des „Kapital“ miteinbezogen. Damit geht es Marx nicht nur darum, den homo oeconomicus und seine besitzindividualistischen Robinsonaden auf Schritt und Tritt zu destruieren, sondern zugleich die Lohnabhängige als citoyen, als zoon politikon zu stärken. Die wirkmächtigen Vorstellungen und ideologischen Befestigungen bürgerlicher Eigentumsverhältnisse werden so durch Kritik und Politisierung aufgebrochen und emanzipatorisch gewendet. Mit Michel Foucault ließe sich sagen, dass die bürgerlichen Prinzipen von Privateigentum, Eigentümersinn und Egoismus, wie sie in den Anfangskapiteln des „Kapital“ thematisiert werden, gerade in ihrer Verknüpfung mit spezifischen Machtverhältnissen im Produktionsprozess des Kapitals zugleich ein Dispositiv von Macht und Wissen darstellen, aus dem sich für die politische Ökonomie der Lohnarbeit emanzipatorische Funken schlagen lassen. Und in diesem Sinne ist im „Kapital“ ökonomiekritisch und politisch eingeholt, was Marx und Engels gleich zu Beginn ihrer Freundschaft unter Kommunismus verstehen: „Und wahr ist daran allerdings das, daß wir erst eine Sache zu unsrer eignen, egoistischen Sache machen müssen, ehe wir etwas dafür tun können – daß wir also in diesem Sinne, auch abgesehen von etwaigen materiellen Hoffnungen, auch aus Egoismus Kommunisten sind, aus Egoismus Menschen sein wollen, nicht bloße (Herv. CL) Individuen.“ (Engels an Marx 1844) Auch die Autobiographie des Bürgers und bedeutenden Marxisten Georg Lukács (1981), der sich nach dem 1. Weltkrieg der Arbeiterbewegung anschloss, endet mit dem Wissen um die Borniertheit bürgerlicher Individualitätsformen, die es immer wieder zu überwinden gilt: „Subjektive Tendenzen zur praktischen Verwirklichung der eigenen Gattungsmäßigkeit (= wirkliche Entfaltung der Individualität) … Lebensführung als Kampf von (echter!) Neugier und Eitelkeit – Eitelkeit als Hauptlaster: nagelt Menschen in Partikularität fest (Frustration als Stehenbleiben auf Niveau der Partikularität)“.

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