Dem Begriff auf den Grund gehen

Was heißt Kritik in der “Kritik der Politischen Ökonomie”?

Anne-Kathrin Krug

Anne-Kathrin Krug ist Rechtsanwältin in Berlin und Teamerin von Lesekreisen zu Karl Marx‘ Das Kapital für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie ist Mitglied der AG Rechtskritik und beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit marxistischer Rechtstheorie.

“Die Wissenschaft besteht eben darin, zu entwickeln, wie das Wertgesetz sich durchsetzt. Wollte man also von vornherein alle dem Gesetz scheinbar widersprechenden Phänomene ‘erklären’, so müsste man die Wissenschaft vor der Wissenschaft liefern. (…) Wozu dann überhaupt Wissenschaft?” (MEW 32, S. 553, Brief von Marx an Kugelmann, London, 11. Juli 1868)

Das Wort Kritik wird sehr oft gebraucht. Wenn wir etwas „kritisieren” meinen wir häufig, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte, z.B. kritisieren wir, dass es drastische Unterschiede in den Geldbeuteln der Menschen gibt und dass die Profite der Unternehmen nicht ausreichend um verteilt werden.

Marx kritisiert im Kapital auch – aber anders.
Marx’ Kritik richtet sich zum einen gegen die kapitalistische Produktionsweise selbst, jedoch ohne positiv ‘Verbesserungsvorschläge’ zu machen und diese als Forderungen zu proklamieren. Seine Kritik richtet sich gleichzeitig gegen die damalige politische Ökonomie, d.h. die wissenschaftliche Disziplin, die wir heute als Volkswirtschaftslehre kennen. Deren bedeutendste Vertreter waren damals Adam Smith und David Ricardo. Er wirft ihnen und anderen vor, vorgefundenen Formen und Begriffen wie Wert, Geld, Kapital, Profit  nicht oder nicht genügend auf den Grund gegangen zu sein. Das führe dazu, dass wesentliche Fragen ungeklärt bleiben und  der Anschein erweckt wird, diese Formen und Begriffe gingen mit jeder Volkswirtschaft einher. Das verstellt natürlich den Blick auf die Spezifik der kapitalistischen Produktionsweise, die nicht überhistorisch ist, sowie auf andere mögliche Wirtschaftsformen.

Man kann also sagen: Ziel der Kritik der politischen Ökonomie ist es, die Formen und Begriffe der kapitalistischen Produktionsweise, so wie wir sie in der politischen Ökonomie und alltäglich vorfinden, zu hinterfragen und zu analysieren. Statt sie „so wie sie sind“, einfach hinzunehmen, fragt er: Was ist Wert? Was ist Geld? Was ist Kapital? Was ist Profit? … Wie sind die gesellschaftlichen Verhältnisse beschaffen, die diese Formen und Begriffe überhaupt erst hervorbringen? Es geht um die Beantwortung der Frage: Was macht die kapitalistische Produktionsweise zur kapitalistischen Produktionsweise?

Marx’ Kritikmodus besteht daher in erster Linie darin, genau zu analysieren und darzustellen, was die  kapitalistische Produktionsweise überhaupt ist, d.h. welche Praktiken, Begrifflichkeiten und welche (auch zwingenden) Vorstellungen, Widersprüche, Irrtümer, Verschleierungen etc. mit ihnen einher gehen. Er entfaltet dazu über drei Bände Stück für Stück ein Theoriegebäude, das auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau beginnt und im dritten Band zu den “konkreten Formen” (MEW 25, S. 33) gelangt, so wie sie “auf der Oberfläche der Gesellschaft” (ebd.) und “im gewöhnlichen Bewusstsein der Produktionsagenten selbst auftreten” (ebd.). Begriffe werden auf neuen Abstraktionsebenen wieder eingeholt und umgebaut, ohne dass sie auf der vorher dargestellten Abstraktionsebene verworfen werden. Im Gegenteil: Eine Darstellungs- und Abstraktionsebene baut auf der nächsten auf, ist Bedingung für den Fortgang. Auf diese Weise entfaltet Marx einen theoretischen Zusammenhang, eine Art Herleitung, die den alltäglichen und politökonomischen Formen und Begriffen wie z.B. Grundrente, Profit und Arbeitslohn  auf den Grund geht, statt mit ihnen zu beginnen. Diese Grundannahmen und Begriffe prägen auch unser heutiges ökonomisches Alltagsverständnis und machen Marx’ Kritik der politischen Ökonomie heute immer noch so brisant.

Zentraler Einsatz der Kritik ist nachvollziehbar zu machen, warum im ökonomischen Alltagsverständnis und auch in der politischen Ökonomie (so auch in der heutigen Volkswirtschaft) mit den dort vorherrschenden Formen und vorgefundenen Begriffen nicht deutlich wird und werden kann, dass “der Wert der Waren durch die in ihnen enthaltene Arbeit bestimmt ist” (MEW 25, S. 181) und warum der Gewinn nicht mehr auf die unbezahlte Arbeit zurück geführt wird (vgl. ebd.).

Anknüpfungspunkte Arbeit und Wert
Marx setzt voraus, dass Arbeit die Quelle von Wert ist, der in Geld ausgedrückt ist. Nur Arbeit bildet Wert. Das ist die Grundannahme der sog. Arbeitswertlehre, die zu Marx’ Zeiten noch nicht so umstritten war wie heute. Marx bestimmt den Wert nicht nach individuellen Gesichtspunkten nach der Devise: Rote Kirschen ess ich gern, schwarze noch viel lieber. Und daher sind die schwarzen Kirschen wesentlich wertvoller als die roten, aber nur, wenn ich mich nicht überfressen habe... Wert wird von vornherein gesellschaftlich bestimmt, nicht durch die Vorlieben der einzelnen Individuen.

Dinge bzw. Gebrauchsgüter sind zunächst Arbeitsprodukte eines gesellschaftlichen Zusammenhangs. Die Arten und Weisen, wie Arbeit in Gesellschaften organisiert ist, unterscheiden sich. Marx sagt, dass Dinge in unterschiedlichen Gesellschaften unter unterschiedlichen Bedingungen produziert werden und dass es unsinnig sei, anzunehmen, dass schon “der Wilde, der mit einem Stein eine Bestie erlegt” (MEW 23, S. 199) Kapital in der Hand hält. Er macht sich darüber lustig, wenn die Begriffe der kapitalistischen Produktionsweise in vergangene Gesellschaftsformen hinein projiziert werden, wie von R. Torrens in “An essay on the Production of Wealth etc.”: “In dem ersten Stein, den der Wilde auf die Bestie wirft, die er verfolgt, in dem ersten Stock, den er ergreift, um die Frucht niederzuziehn, die er nicht mit den Händen fassen kann, sehn wir […] - den Ursprung des Kapitals.“ Marx kommentiert belustigt: „Aus jenem ersten Stock ist wahrscheinlich auch zu erklären, warum stock im Englischen synonym mit Kapital ist.” (ebd.)

Bei Marx konstituieren sich Gesellschaften durch menschliche Arbeit. Das ist keineswegs veraltet oder abwegig. Marx schreibt dazu selbst in einem Brief an Louis Kugelmann vom 11.07.1868: “Dass jede Nation verrecken würde, die, ich will nicht sagen für ein Jahr, sondern für ein paar Wochen die Arbeit einstellte, weiß jedes Kind.” (MEW 32, S. 552 ff.) Dass Wirtschaft im Kern mit menschlicher Arbeit zu tun hat, ist evident. Die Produktion von Gebrauchsgegenständen und damit die Reproduktion von Gesellschaft(en) funktioniert zuallererst durch menschliche Arbeit und durch Arbeitsteilung, die nicht erst eine ‘Erfindung’ des Kapitalismus ist.

Der gesellschaftliche Zusammenhang wird im Kapitalismus auf eigenartige Weise hergestellt. Die Gebrauchsgüter werden nicht einfach nach Bedarf produziert, sondern sie werden produziert, um sie zu verkaufen und um einen Profit zu realisieren. Die Investition in Produktionsmittel und Arbeitskräfte tätigen die Privatunternehmen selbständig und unabhängig von einander. Ohne wirklich wissen zu können, ob jemand die Dinge braucht bzw. wie viele davon und ob sie dieser jemand auch bezahlen kann, werden sie produziert, um verkauft zu werden. Auf dem Markt haben die Produzenten keinen direkten Kontakt mehr. Ihr Kontakt ist durch die zu verkaufenden Sachen vermittelt. Falls sie auf eine zahlungsfähige Nachfrage treffen, ist klar, ihre Arbeit ist Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Erst dadurch, dass eine Geldsumme hin geblättert wird, realisiert sich auch der Wert der Waren. Wenn nicht, dann sind sie nicht Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit. Sie haben keinen Wert, der in irgendeiner Geldsumme ausgedrückt wird.

Die Dinge scheinen von Natur aus Wert und eine Wertgröße zu haben und sie scheinen von Natur aus Produkte von Privatarbeiten zu sein. Diese Eigenschaften der Arbeiten sind Eigenschaften, die sich aus der gesellschaftlichen Form der Arbeit ergeben. Nichtsdestotrotz werden sie in unserer Vorstellung zu Eigenschaften der Sachen selbst. Das Resultat ist: Wir schauen einen Turnschuh an und wissen, der ist 100 Euro wert. Wenn wir diesen Turnschuh kaufen, hat er tatsächlich Wert, sonst würden wir ja die 100 Euro nicht hinblättern. D.h. wir müssen uns zu den Dingen auch als „Wertdinge” verhalten.

Mehrarbeit und Mehrwert
Die Werthöhe bestimmt sich nicht durch die individuell verausgabte Arbeitszeit, sondern durch die gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeitszeit, die zur Fertigung eines Produkts erforderlich ist. Da die Arbeitskraft selbst eine Ware ist, bestimmt sich die Höhe des Werts der Ware Arbeitskraft durch den Wert, der notwendig ist, damit sich eine durchschnittliche Arbeitskraft reproduziert. Das ist der Wert der notwendigen Lebensmittel. Dieser Wert der Lebensmittel ist also der Wert der Ware Arbeitskraft und wird als Lohn gezahlt. Die Arbeitskraft hat die besondere Eigenschaft, nämlich Quelle von Wert zu sein und mehr Wert zu produzieren als zu seiner eigenen Reproduktion erforderlich ist. Der Wert, der über den Wert der Lebensmittel hinaus geschaffen wird, ist der Mehrwert. Er resultiert daraus, dass die Arbeitskraft länger arbeitet als sie müsste, würde sie nur den eigenen Wert bilden müssen. Die Arbeitskraft leistet Mehrarbeit, die nicht bezahlt wird.

Der Kapitalist streicht den Mehrwert ein. Die Lohnarbeiter_innen erhalten nur den Lohn. Egal wie hoch dieser Lohn ist: Es findet immer Ausbeutung statt. Den Vorgang der Aneignung von Mehrarbeit nennt Marx Ausbeutung. Diese Aneignung fremder Hände Arbeit in Form von Mehrwert ist zentrales Moment der kapitalistischen Produktionsweise. Der Grad der Ausbeutung wird in der Mehrwertrate gemessen. Hier wird die Wertsumme der Löhne zur Wertsumme des Mehrwerts ins Verhältnis gesetzt. Daran sehen wir, welcher Wert der Ware Arbeitskraft auf wie viel Mehrwert kommt oder anders ausgedrückt: Wie viel arbeiten die Arbeiter_innen für sich selbst und wie viel für die Kapitalist_innen.

Die Frage, die die drei Bände durchzieht, kann nun präziser formuliert werden: Wie kommt es dazu, dass die menschliche Arbeit als einzige Quelle von Wert und die Aneignung fremder Hände Arbeit als Aneignung von Mehrwert im Gesamtprozess der kapitalistischen Produktionsweise unkenntlich wird, d.h. auf der Erscheinungsebene kaum wahrnehmbar ist? Der Grundgedanke, der damit einhergeht ist folgender: Nur weil die Arbeit als Quelle von Wert und die Aneignung fremder Hände Arbeit unkenntlich wird, heißt es nicht dass diese Umstände keine Wirkung entfalten. Die Wirkung entfalten sie dabei über verschiedene Vermittlungsstufen, an deren “Ende” der Preis nicht mehr dem Wert entsprechen muss, ja sogar überhaupt keinen Wert repräsentieren muss (wie z.B. bei unbearbeitetem Boden, der zwar einen Preis, aber gar kein Wert hat).

Vom Mehrwert zum Profit
Marx fragt, wie und wodurch die Arbeit als Quelle von Wert und die Aneignung von Mehrarbeit als Mehrwert auf der “Oberfläche der Gesellschaft” (MEW 25, S. 33) unkenntlich wird. Dazu entwickelt er erst Wert, Mehrwert und Mehrwertrate als analytische Begriffe, die aber im Alltag der Menschen und in den Begriffen der politischen Ökonomen bereits durch sehr viele Umstände vermittelt sind. Niemand spricht von Wert, Mehrwert oder Mehrwertrate, sondern nur von Preis, Profit und Profitrate. In der Empirie haben wir es nur mit Resultaten gesellschaftlicher Zusammenhänge zu tun, die eben nicht der Ausgangspunkt der Analyse sein können – wie sie es aber für die politische Ökonomie sind. Sie sind Resultate, also das, was es zu erklären gilt.

Der Profit ist eine vermittelte und auch verschleiernde Erscheinungsform des Mehrwerts: Er ist Ergebnis des Kapitalvorschusses für Produktionsmittel und Arbeitskräfte. Der Umstand, dass Geld gleichermaßen für Produktionsmittel und für Arbeitskräfte vorgeschossen werden muss, macht die Arbeit als Quelle des Mehrwerts unkenntlich. Der weitere Umstand, dass die Arbeitskräfte selbst davon ausgehen, dass sie für ihre Arbeit bezahlt werden, erhärtet die Wahrnehmung, dass der Profit nicht durch sie, sondern durch den Kapitalvorschuss selbst entsteht. Darüber hinaus handelt es sich beim Profit nicht um das Mehr, das die Kapitalist_innen aus der Mehrarbeit ihrer eigenen angestellten Arbeiter_innen aneignen. In der Realität bildet sich ein Durchschnittsprofit, der sich auf alle Kapitalvorschüsse bezieht. Jede_r Kapitalist_in erzielt also einen Anteil des gesamtgesellschaftlichen Profits. Der Anteil bestimmt sich nach dem Verhältnis des eigenen Kapitalvorschusses – wie die Ausschüttung der Dividende bei einer Aktiengesellschaft.

Schließlich scheint allein die Bereitstellung des Grund und Bodens durch die Vermieter_innen  von sich aus die Miete zu erzielen. Mit dem Ausdruck “Die trinitarische Formel” (MEW 25, S. 822 ff.), nach der der Profit aus dem Kapital, die Grundrente aus dem Boden und der Arbeitslohn aus der Arbeit kommt, nimmt Marx das Unverständnis seiner Zeitgenossen aufs Korn. Dass sich der Mehrwert auf verschiedene Funktionsträger_innen verteilt, ist im alltäglichen Bewusstsein und auch in den Begriffen der Volkswirtschaft verschwunden. Dies ans Licht zu bringen, das ist im Marx’schen Sinne mit Kritik gemeint.

Lieblingstexte zum Thema:
Das Kapital, Marx-Engels-Werke: MEW 23, MEW 24, MEW 25