Wie hält es DIE LINKE mit der Revolution respektive Revolutionen, wie mit ihrer Geschichte, der kommunistischen zumal? Das war eine Gretchenfrage auf der Konferenz der Linkspartei und deren Historischer Kommission in Berlin. Und da war zunächst ein Klagelied zu hören.
Parteichef Bernd Riexinger, der sich selbst in der Tradition der Kommunistischen Partei/Opposition verortet, gestand zur Eröffnung der Tagung selbstkritisch: »Die LINKE ist eine geschichtslose Partei.« Er befand dies als ganz und gar nicht gut, weil selbst aus fehlgeschlagenen linken Projekten viel zu lernen sei für heutige Entscheidungen. Janis Ehling vom Studierendenverband der Linkspartei, der sich ebenfalls als ein der KPO nahestehender Genosse outete - der jüngst verstorbene Stuttgarter Professor Theodor Bergmann, der die KPO-Gründer August Thalheimer und Heinrich Brandler noch persönlich kannte, hätte aufgejauchzt! -, widersprach: Zumindest die Linksjugend beschäftige sich sehr intensiv mit Geschichte. Quod est demonstrandum. Er bewies dies sogleich, indem er solide Kenntnisse des Verlaufs der deutschen Novemberrevolution von 1918/19 und nachfolgender revolutionärer Gefechte offenbarte.
Thomas Falkner, Mitarbeiter der Landtagsfraktion der LINKEN in Brandenburg, meinte ebenfalls, dass die Partei »nicht so geschichtslos ist, wie sie manchmal erscheint«. Die Landesverbände würden sich ernsthaft mit den historischen Wurzeln befassen. Andererseits musste Falkner einräumen, dass eine Konferenz wie die jüngst unter dem Motto »Epochenumbruch 1914 - 1923« einberufene seit 1995 nicht mehr stattgefunden habe. Der Berliner Historiker Wladislaw Hedeler wiederum schien eher Riexingers bitterer Beobachtung zugeneigt: Während Michael Schuhmann in seiner Rede auf dem außerordentlichen Parteitag im Dezember 1989, die im Ausruf »Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System« gipfelte, noch von der sozialistischen Oktoberrevolution sprach, die »von historischer Bedeutung« gewesen sei, fände jene im Parteiprogramm von 2003 keine explizite Würdigung; dort gäbe es indessen nur vage Bezüge auf libertäre Bewegungen.
Gewiss, in der Linkspartei ist man (noch?) weit davon entfernt, wie seinerzeit Friedrich Ebert die soziale Revolution zu hassen »wie die Sünde«. Das bezeugten allein deren zahlreiche Veranstaltungen im vergangenen Jahr zum Jubiläum der russischen Revolutionen von 1917 und jene Veranstaltung, über die hier berichtet wird. Und zu der wohlweislich auch Wissenschaftler aus dem sozialdemokratischen Milieu eingeladen wurden, um nicht im eigenen Saft zu schmoren. Diese zeigten, anders als ihre Parteiführer zu Beginn des 20. Jahrhunderts, keinerlei Probleme mit historischen Tatsachen wie dem aus mörderischem Völkerschlachten seit 1914 entflammten revolutionären Furor. Peter Brandt, Mitglied der Historischen Kommission der SPD, konzedierte, dass die (mit Billigung aus der SPD-Spitze erfolgte) Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg »die Wasserscheide« der 18/19er-Revolution war, die Radikalisierung der Revolutionäre vorantrieb. Den Blick über Russland und Deutschland hinaus weitend, konstatierte er, dass nur in den Verliererstaaten des Ersten Weltkrieges gemäß einer Forderung Lenins der imperialistische Krieg in einen Bürgerkrieg umschlug, während die Siegermächte Frankreich und Großbritannien von machtvollen revolutionären Wellen verschont blieben. Obwohl es auch dort Massenstreiks der Arbeiter und Meutereien der Soldaten und Matrosen gab - die Staatsmacht brach nicht zusammen. Die Bourgeoisie der westeuropäischen Staaten hatte sehr wohl die Gefahr erkannt, die vom Oktoberumsturz 1917 in Russland ausging. Sie reagierte mit einer Mixtur aus Zugeständnissen und Repressionen, wie Reiner Tosstorff, Professor an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz am Beispiel Spaniens, insbesondere des anarchistisch, anarchosyndikalistisch aufgewühlten Katalonien, ergänzte.
Die globale Sicht erweiterte Ronald Friedmann von der Historischen Kommission der Linkspartei mit seinem Referat über die Anfänge der kommunistischen Bewegung in Lateinamerika. Allein in den Jahren 1918 bis 1922 wurden dort fünf kommunistische Parteien gegründet, jeweils mit flammenden Bekenntnissen zur Sache der Bolschewiki. Emiliano Zapata würdigte die Revolutionen in Mexiko und Russland als gleichermaßen im Interesse aller Völker. Friedmann erinnerte en passant an große, leider vergessene Namen wie Felix Weil, einen argentinischen Millionär, der das 1924 gegründete legendäre Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main finanzierte. Zugleich wies er darauf hin, dass die Abgesandten der Komintern in Latein- und Südamerika mitunter eifersüchtig empfangen und beobachtet wurden, vor allem von der ebenso starken wie selbstbewussten KP Argentiniens.
Während der missglückte Hamburger Aufstand von 1923 kaum Gegenstand der Debatte war, folgte dem Referat von Michael Buckmiller, emeritierter Professor der TU Hannover, über die Koalitionsregierungen von SPD und KPD im selben Jahr in Sachsen und Thüringen ein kontroverser Disput. Nicht indes über die Grundsatz- und (zweite) Gretchenfrage, inwieweit damals und heute ein Bündnis von Sozialdemokraten und Kommunisten opportun war und ist. Da drückte die Herren und Damen der Geschichtswissenschaft der Schuh nicht. Sie stritten vielmehr, ob die »Reichsexekution«, das militärische Auseinanderjagen der Einheitsfrontregierungen, ein »Verfassungsbruch mit der Verfassung« war, wie Buckmiller artikuliert hatte.
Wenngleich nicht anhand der KPO, sondern der 1920 ins Leben gerufenen Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), machte dankenswerterweise Detlef Siegfried, Professor an der Kopenhagener Universität, auf einstige Strömungen zwischen und neben den beiden großen deutschen Arbeiterparteien aufmerksam. Ebenso Bernhard H. Bayerlein von der Ruhr-Universität Bochum, der die Diskussion zudem mit Vergleichen zwischen erfolgreichen transatlantischen und sozialistischen Revolutionen an der Peripherie des kapitalistischen Weltsystems auf eine höhere theoretische Ebene hob. Die Grande Dame der Rosa-Luxemburg-Forschung und -Edition, Annelies Laschitza, die freilich das Forum zur Werbung für den vor Kurzem erschienenen Band 7 der Gesammelten Werke der deutsch-polnischen Theoretikerin und Revolutionärin nutzte, gab Einblicke in deren Studien über die englische Revolution des 17. Jahrhunderts. Uwe Sonnenberg von der Rosa-Luxemburg-Stiftung empfahl den Konferenzteilnehmern, Willi Münzenbergs »Dritte Front« (wieder) zu lesen.
Ein Konferenzfazit wollte der Sprecher der Historischen Kommission der Linkspartei, Jürgen Hofmann, nicht oktroyieren. Es sei ergo abschließend aus der Rede seines Kollegen Stefan Bollinger zitiert: »Die Vergewisserung der Geschichte kann helfen, Traditionen zu entwickeln und Vorbilder zu finden, aber auch vor Entscheidungen und Entwicklungen zu warnen, die die Menschheit in die Irre und ins Verhängnis führen.«
Erschienen erstmals in der Tageszeitung Neues Deutschland am 28.02.2018