Passend zum 150. Jahrestag zur Veröffentlichung des ersten Bandes des „Kapital“ fand vom 13. bis 15. September die achte Jahreskonferenz für politische Ökonomie an der Berliner Fachhochschule für Wirtschaft und Recht statt. Das Event ging auf die Kooperation der Internationalen Initiative zur Förderung der politischen Ökonomie IIPPE, des Forschungsnetzwerks für kritische politische Ökonomie CPERN und des Berliner Instituts für internationale politische Ökonomie IPE zurück. Sein Titel „Die politische Ökonomie der Ungleichheiten und Instabilitäten im 21. Jahrhundert“ ließ nicht unbedingt die neun Workshops mit dem Obertitel „Marxistische politische Ökonomie“ (nicht: Marxsche politische Ökonomie) vermuten.
Ihre im Programm ausgewiesenen Themen verraten Vielfalt und eine gewisse Buntheit, aber auch Streitbares: Fragen der Werttheorie, Fred Moseleys „Money and Totality“ (1), Krisentheorie, Staat und Geldpolitik, moderner Kapitalismus, Brasilien und Türkei, die ArbeiterInnenbewegung und das globale Kapital. Die Rednerinnen und Redner kamen aus Amerika, Asien und Europa – leider wieder einmal nicht aus Afrika. Die meisten Beiträge fokussierten erfreulicher Weise auf die Arbeitskraft und ihre Arbeit. Insgesamt aber machten die Workshops einmal mehr die folgenden drei zusammenhängenden Probleme deutlich:
- Unter den „MarxistInnen“ besteht kein Konsens zum Ausgangspunkt der Diskussion zur politischen Ökonomie von Marx. Dieser wollte über die Kritik von gesellschaftlichen Verhältnissen und der sie erklärenden Theorien die emanzipativ-solidarischen Akteure mehren und stärken. Er wollte ihnen helfen, die gesellschaftlichen Verhältnisse so umzugestalten, dass sie von Ausbeutung, Unterdrückung und Fremdbestimmung frei werden. Dafür und dabei entwickelte er seine Theorie – auch und insbesondere in der Interaktion mit diesen Akteuren.
- Die ökonomischen Kategorien „Wert“, „Wertmodifikation“, „Geld“ und „Staat“ werden vielfach weiterhin losgelöst vom Maxschen Gesellschaftsverständnis gesehen bzw. die mit ihnen verknüpften Probleme werden nicht unbedingt im Kontext mit der Marxschen Gesellschaftsauffassung analysiert und diskutiert.
- Gar manche Beiträge haben zwar „Marx“ in der Überschrift und auch im Text, der wirkliche Bezug zu seinem Erbe ist jedoch nur schwer zu entdecken.
Insgesamt waren die Workshops interessant und ganz besonders interessant war die Diskussion zum Buch von Fred Moseley, einem Autor unseres zweiten Bandes in der Reihe „International Luxemburg Studies in Political Economy“ (zum unvollendeten Marxschen System). Moseley sprach zur Auseinandersetzung um die Erklärung des Werts als eines verdinglichten gesellschaftlichen Verhältnisses und um die Bestimmung der Wertgröße als einen realen gesellschaftlichen Prozess.
Bei der Bewegung der kapitalistisch produzierten, den Mehrwert und das Kapitalverhältnis in sich „tragenden“ Waren geht es immer um Konkurrenzkampf – um günstige Rohstoffe und Materialien, um geeignete Arbeitskräfte und Zulieferer, um finanzkräftige Kreditgeber bzw. Finanziers und Kaufleute, um Märkte bzw. zahlungsfähige Käuferinnen und Käufer … Das einzelne Unternehmen ist im Geflecht von ökonomischen Kontexten verortet und die Unternehmer konkurrieren innerhalb besonderer Branchen (und Territorien) wie auch zwischen ihnen.
Im ersten Band des „Kapital“ sind vor allem der Produktionsprozess von Waren mit Mehrwert und der Äquivalentenaustausch zwischen dem Verkäufer und Käufer und so auch zwischen dem Kapitalisten und dem Lohnarbeiter abstrakt erklärt. Das Kapital wird als Ergebnis von zunächst Raub, aber dann vor allem der Ausbeutung von LohnarbeiterInnen, als akkumulierter Mehrwert offenbart. Im zweiten Band ging es schon um Austauschprozesse zwischen vielen Einzelnen, um das zunächst abstrakt Kommunizierte und seine Reproduktion, um die Kapitalakkumulation weiter zu erklären.
Im dritten Band sollte dann die Mehrwertrealisierung in den Gestaltungen Unternehmergewinn, Zins und Rente behandelt werden. Angestrebt war der (fortgeführte) Nachweis, dass letztendlich alle Einkommen in den bürgerlichen Gesellschaften auf von Menschen, vor allem von LohnarbeiterInnen erbrachte Arbeitsleistungen zurückgehen. Bei allgemeiner Konkurrenz bildet sich jenes gesellschaftliche Arbeitsquantum, das zur Reproduktion der kapitalistisch produzierten Ware erforderlich ist, heraus. Es ist mit Kapitalentwertungsprozessen (z. B. Verschleiß von konstantem Kapital, besonders moralischer Verschleiß von fixem Kapital) und Angebots-Nachfrage-Konstellationen auf den Märkten verbunden.
Es ist also das Arbeitsquantum, das in den auf dem Markt nachgefragten Waren verkörpert und für die Reproduktion des die Ware produzierenden Kapitals erforderlich ist, das den Austausch gegen die Geld(ware) bestimmt. Es ist im Produktionspreis (tendenziell Kostpreis der Ware für das Kapital plus Durchschnittsprofit) ausgedrückt und verkörpert Beziehungen zwischen Wareneigentümern von verschiedener gesellschaftlicher Stellung. Der im ersten Band des Kapitals erklärte Wert, seine Größe und der Äquivalentenaustausch werden so durch die Analyse und Vorstellung des den Warenaustausch regulierenden Produktionspreises konkretisiert. Marx und sein „literarischer Testamentsvollstrecker“, wie sich Engels nannte, sprachen dabei von „Transformation“. Sie meinten damit ein Ergebnis von Produktions-, Distributions-, Zirkulationsprozessen und Konsumtionsprozessen, über die gesellschaftliche Verhältnisse reproduziert werden.
Die hier skizzierten Gedanken vertritt auch Fred Moseley, der Marx' Arbeit zum „Transformationsproblem“ nachzeichnet und sich mit verschiedenen Interpretationen dieses Problems auseinandersetzt. In diesem Zusammenhang übersetzt er vorbereitende Manuskripte zum dritten Kapitalband in das Englische. Dabei muss er sich im mehrfachen Sinne bemühen, in jedes Marxsche Detail einzudringen. Das betrifft auch und insbesondere das widerspruchsvolle Zusammenspiel zwischen der Makro- und der Mikroebene. Das betrifft aber auch die beiden Abstraktionsebenen, die von der Produktion und der Distribution her gesehen werden müssten. Immer wieder stellt Moseley klar, dass Marx' jeweiliger Arbeitsstand, das zu seinen Lebzeiten tatsächlich Veröffentlichte und das durch Engels Publizierte genau zu analysieren und sorgfältig zu vergleichen bzw. zu unterscheiden sind.
Dem stimmt Michael Heinrich selbstverständlich zu, zumal Engels bei der Fertigstellung des dritten Bandes nicht zuletzt einen Paragraphen zum Transformationsproblem ausgelassen hat. Aber Heinrich folgt Moseley nicht in Hinsicht auf die Betrachtung aller Abstraktionsebenen. Er verwies auf der Veranstaltung am 14. September erneut auf vermeintliche Fehler bei Marx. Heinrich begann damit, dass Marx im neunten Kapitel des dritten Bandes die allgemeine Profitrate des Preissystems als (gewichteten) Durchschnitt der differierenden Branchenprofitraten des Wertsystems bzw. als Verhältnis des gesamten Mehrwerts zum gesamten Kapital der Gesellschaft auffasste. Marx habe den Kostpreis und die Kapitalgröße als Werte behandelt und somit unterstellt, dass die Kapitalisten ihre Produktionsmittel und die Arbeiter ihre Lebensmittel zu den Werten kaufen.
Heinrich interpretiert Marx zweifellos richtig, wenn er sagt, dass nach Marx die durchschnittliche Profitrate des Wertsystems und die allgemeine Profitrate des Preissystems vereinfachend quantitativ gleichgesetzt werden könnten. Allerdings habe Marx nach Heinrich den Unterschied zwischen Werten und Produktionspreisen unterschätzt und wäre von der gesellschaftlichen Determiniertheit der Geldware abgewichen. Weil der Kostpreis aus einer Summe von Produktionspreisen, die zuvor berechnet sein müssten, bestehe, könnten die Produktionspreise der konkreten Ware nicht dadurch bestimmt werden, dass der Durchschnittsprofit auf die berechneten Kostpreise aufgeschlagen wird. Es könne nach Heinrich nicht davon ausgegangen werden, dass die Durchschnittsprofitrate des Wertsystems mit der des Preissystems übereinstimmt.
Der Ingenieur und Marx-Studierer Herbert Panzer „fraß“ sich nun unvoreingenommen durch den umfangreichen Stoff und wunderte sich, womit zahlreiche Ökonomen ihre wertvolle Zeit verschreiben. Auch fragte er sich, warum Viele aus dieser Zunft so forsch über Marx' Unterscheidung zwischen dem Gleichbleiben und dem Verändern von verschiedenen konkret zu betrachtenden Faktoren hinweg gehen. Er konnte Marx' Gleichsetzungen folgen:
- durchschnittliche Profitrate des Wertsystems = allgemeine Profitrate des Preissystems
- Summe des Mehrwerts = Summe des Profits
- Summe der Werte = Summe der Produktionspreise.
Panzer konnte nachvollziehen, warum der Produktionspreis von seinem Wesen her untrennbar mit dem Wert bzw. der Werttheorie verbunden ist. Er konnte auch Moseley's Idee von den beiden Abstraktionsebenen folgen. Ferner konnte er keine Stelle finden, wo Marx das Geld als gesellschaftlich neutral betrachtet habe. Wenn Marx zu kritisieren sei, so vielleicht in einem Punkt: er habe es den Leserinnen und Lesern nicht recht einfach gemacht, zu erkennen, wann er warum die Abstraktionsebene bezogen auf die Produktion oder die Distribution wechselte.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass ausgerechnet ein Nicht-Ökonom in einer theoretisch komplizierten Debatte Marx vor „Korrekturen“ schützt. Dem „Außenseiter“ geht es ausschließlich um Verstehen und Verstehen helfen, weil er mit der Marxschen Kritik der Wirklichkeit und ihrer Erklärungen die Wirklichkeit verändern helfen will. Das spricht dafür, sich stärker zu bemühen, für die politische Bildung wie für die aktuelle Arbeit an der Kritik der politischen Ökonomie Interessierte und Engagierte außerhalb des akademischen Bereiches und der Gesellschaftswissenschaften zu gewinnen.
Nicht zuletzt erinnerte der Beitrag von Panzer an die besondere Verantwortung der deutschsprachigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den internationalen Marx-Diskussionen. Sie sollten helfen, Missverständnisse und fehlleitende Diskussionen, die auf Sprachprobleme zurückgehen, zu klären und zu vermeiden. In diesem Sinne brauchen wir wirklich mehr Panzer.
(1) „Money and Totality: A Macro-Monetary Interpretation of Marx's Logik in Capital and the End of the 'Transformation Problem'“ by Fred Moseley, Brill Publishers, 2016, Haymarket Books (paperback), 2017