Zum 100. Jahrestag der Revolution in Russland legt Frank Deppe eine Analyse ihrer Entstehungsbedingungen, ihrer globalen Folgen und ihres Scheiterns vor. Der Autor stellt die Oktoberrevolution in den Zusammenhang des langen Revolutionszyklus, der mit der Französischen Revolution im Jahr 1789 eröffnet wurde und mit dem Sieg der Bolschewiki 1917 (schließlich auch mit der chinesischen Revolution) immer wieder die Frage nach der Bedeutung der »Großen Revolutionen« bzw. der »Leitrevolutionen« für die Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufgeworfen hat.
Der Zyklus des Aufstiegs und Niedergangs der Sowjetunion wird im Kontext der großen weltpolitischen und weltgeschichtlichen Widerspruchskonstellationen des 20. Jahrhunderts untersucht. Was Revolution in den Ländern des entwickelten Kapitalismus heute heißen kann, ist Gegenstand des abschließenden Kapitels. Im Folgenden dokumentiert marx200.org vorab das Vorwort:
Vorwort
Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) wurde am 30. Dezember 1922 durch den Zusammenschluss von Sowjetrussland, der ukrainischen SSR, der weißrussischen SSR und der transkaukasischen SSR gegründet und am 26. Dezember 1991 durch Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR aufgelöst. Sie war das Ergebnis der Oktoberrevolution des Jahres 1917 und der Machtergreifung der Bolschewiki unter der Führung von W.I. Lenin, dessen einbalsamierter Leichnam noch heute im Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau ausgestellt wird.1
Die Erinnerung an das Jahrhundertereignis wird in erster Linie vom Ende der Sowjetunion und dem Scheitern des von ihr beanspruchten Modells des »realen Sozialismus« bestimmt. Der russische Staat unter der Führung von Wladimir Putin ist bestrebt, seine Legitimation aus einer nationalistischen Geschichtsdeutung zu konstruieren, die einerseits die Größe Russlands und seine weltpolitische Machtstellung – im Bündnis mit der orthodoxen Kirche – in den weiten Kontext der Geschichte des Zarentums stellt, aber andererseits den weltpolitischen Aufstieg der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg nicht ignorieren kann. Immerhin wird der Besucher des Landes durch zahlreiche Denkmäler an den schrecklichen Krieg erinnert, aus dem die Supermacht Sowjetunion 1945 siegreich hervorging. Bei den staatlichen Inszenierungen des Jubiläums werden allerdings die sozialrevolutionären Botschaften und Programme der Oktoberrevolution und der Geschichte der Sowjetunion – nämlich die Befreiung der Arbeiter und Bauern von Ausbeutung, Unterdrückung und Unwissenheit sowie die Befreiung der Völker vom Kolonialismus und das Ende der imperialistischen Kriege – weitgehend ignoriert.
Für die Historiker außerhalb der ideologischen Staatsapparate stellen sich andere Fragen. Die Gründe des Scheiterns stehen dabei ebenso wie die Erkundung von möglichen alternativen Entwicklungspfaden im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang hat z.B. das Interesse an der Februarrevolution des Jahres 1917 zugenommen. Wird der »›demokratische Februar‹ als der kritische Punkt im Jahre 1917« begriffen (Hedeler 2017a: 99; Hedeler 2017b), so erscheint vor allem die Politik Lenins und der Bolschewiki in einem kritischen Licht. Mit der Machtergreifung im Oktober und der Errichtung der Diktatur wäre dann die Chance einer demokratischen und sozialistischen Entwicklung in Russland verspielt worden. So habe sich die Politik der Repressionen und der Gewalt verselbständigt, die schließlich – in letzter Instanz – auch das Scheitern und den Untergang der Sowjetunion bewirkt habe.
Die Diskussion über die Möglichkeiten alternativer Entwicklungspfade zum Sozialismus ist gewiss notwendig – geradezu unverzichtbar als Orientierungswissen für strategische Debatten in Organisationen und Bewegungen, die sich im 21. Jahrhundert für die Transformation der bestehenden kapitalistischen Produktions- und Herrschaftsverhältnisse mit der Perspektive des Übergangs zum Sozialismus (als eines Regimes der sozialen Gerechtigkeit und der demokratischen Selbstverwaltung) einsetzen. Allerdings sollte bei solchen Debatten auch berücksichtigt werden, dass in revolutionären Perioden des Zusammenbruchs der alten Ordnung und des Kampfes um eine radikale politische und gesellschaftliche Neuordnung – zumal am Ende eines verlorenen Krieges – das Handeln der politischen Akteure einerseits durch strategische Reflexion und – so wurde es in der damaligen sozialistischen Arbeiterbewegung gesehen – durch die richtige Aneignung und Interpretation der Werke von Marx und Engels geleitet wird.
Die entscheidende Frage jeder Revolution ist die der politischen Macht
Daraus gehen unvermeidlich unterschiedliche Bewertungen der Handlungskonstellationen in der konkret-historischen Situation (des geschichtlichen Augenblicks) hervor. Andererseits zwingen die konkreten Verhältnisse und Ereignisse die Akteure, immer wieder Entscheidungen zu treffen, bei denen – wie im Kriege selbst – mit Gewalt gegen Gegner vorgegangen werden muss, die die ersten Errungenschaften der Revolution infrage stellen. Die entscheidende Frage jeder Revolution ist die der politischen Macht – im Kampf gegen die Konterrevolution, beim Aufbau einer neuen Ordnung. Ebenso entscheidend für den Fortgang der Revolution ist freilich auch die Frage, wie der Exzess an politischer Macht, der zur Verteidigung der Revolution notwendig schien, zurückgenommen wird und das Programm der Freiheit, das jede Revolution begleitet, auch in der Praxis des gesellschaftlichen Lebens lebendig wird.
Alle Revolutionen der Neuzeit wurden mit solchen Herausforderungen konfrontiert – nicht zuletzt mit der Notwendigkeit, eine revolutionäre Armee zu bilden, die den Angriff der Gegenrevolution von innen und außen abwehren kann. Nicht nur in Russland, sondern auch im Westen und der Mitte Europas bildeten sich am Ende des Krieges gegenrevolutionäre Allianzen, die eine erfolgreiche Fortsetzung des Weges der Februarrevolution als »demokratische Revolution« doch als ziemlich illusionäre Hoffnung erscheinen lassen.
Immerhin hatte auch im Deutschen Reich bis 1918/19 das Bündnis der Mehrheitssozialdemokratie mit der Obersten Heeresleitung gegen die Novemberrevolution die Hoffnungen auf einen friedlich-demokratischen Weg zum Sozialismus enttäuscht und die Konfrontation in der Arbeiterbewegung selbst vertieft. Im »Zeitalter der Katastrophen« (Hobsbawm) hatte die demokratische Regierungsform (mit einer starken Sozialdemokratie) in weiten Teilen Europas keine Chance – was gar nicht direkt an der Russischen Revolution lag, sondern daran, wie die alten Fraktionen des herrschenden Blocks angesichts der Kriegsniederlage und der Krisen des Kapitalismus – aber auch im Blick auf den weltweiten Aufschwung revolutionär-sozialistischer Bewegungen – in dieser Periode ihre gesellschaftliche, politische und ideologische Vorherrschaft mit Gewalt stabilisieren bzw. restaurieren wollten.
Die Revolution von 1917 war von Anfang an durch Widersprüche charakterisiert
Die hier vorgelegte Studie stellt die Oktoberrevolution sowie die Entwicklung der Sowjetunion bis zu ihrem Ende zunächst in den Zusammenhang des langen Revolutionszyklus, der mit dem Jahr 1789 eröffnet wurde und der mit der Oktoberrevolution des Jahres 1917 (schließlich auch mit der chinesischen Revolution, die im Jahr 1949 siegte) immer wieder die Frage nach der Bedeutung der »Großen Revolutionen« bzw. der »Leitrevolutionen« für die Entwicklung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft bzw. der westlichen Moderne (und ihrer Weltordnung) aufgeworfen hat. Außerdem werden die Oktoberrevolution und der Zyklus von Aufstieg und Niedergang der Sowjetunion in den Zusammenhang der großen weltpolitischen und weltgeschichtlichen Widerspruchskonstellationen des 20. Jahrhunderts gestellt.
Die Revolution von 1917 war von Anfang an durch Widersprüche charakterisiert, die – da sie sich auf die sozialistische Arbeiterbewegung der Zweiten Internationale und auf das Werk von Marx und Engels bezog – ihren weiteren Entwicklungsweg immer wieder prägten:
- der Widerspruch zwischen dem Erfolg der Revolution in einem kapitalistisch rückständigen Agrarstaat mit einer zahlenmäßig kleinen industriellen Arbeiterklasse und – nach 1917 – dem Scheitern der kommunistischen Revolution im Westen, in den entwickelten kapitalistischen Staaten;
- der Widerspruch zwischen dem »Aufbau des Sozialismus in einem Lande« (ab 1924) und der Politik der Kommunisten, für die die Verteidigung der Sowjetunion an der obersten Stelle stand, in ihren eigenen Ländern und den sich dort immer wieder verändernden Kampfbedingungen (Krieg – Frieden, Niederlagen – Erfolge, Defensive – Offensive);
- schließlich der mit der Oktoberrevolution vollzogene Übergang ins Zeitalter der globalen Konterrevolution (van der Pijl 2015); dieser bestimmte zunächst die Entwicklung in Sowjetrussland von 1917 bis 1921. Danach – vor und nach dem Zweiten Weltkrieg – wurde die Existenz und die Politik der Sowjetunion mit Herausforderungen im Innern wie in der Außenpolitik konfrontiert, die gewaltige Anstrengungen des Volkes, aber auch massive Anwendung von Zwang und Gewalt erzeugten. Im Kalten Krieg wurden die atomaren Waffensysteme zu entscheidenden Instrumenten der Systemsicherung. Dabei wurde immer wieder der Widerspruch zwischen den Zielen der Revolution und den Methoden, mit denen sie verteidigt werden sollte, aufgeworfen und neu konfiguriert.
Im Mittelpunkt des folgenden Textes steht dieser widersprüchliche Zusammenhang zwischen den Leistungen und der Ausstrahlung der Oktoberrevolution in die ganze Welt, die natürlich auch die Strategien und die Politik der Gegenrevolution beeinflussten, und dem Fortschreiben von Widersprüchen, die von Anfang an in das revolutionäre Projekt eingeschrieben waren und die sowohl in der Wirtschaftsordnung des Landes als auch im politischen System fortwirkten bzw. sich jeweils neu artikulierten. Dabei handelt es sich nicht um einen linearen – ein für allemal festgeschriebenen – Prozess, sondern um ein Terrain von permanenten Auseinandersetzungen, der Veränderung von Kräfteverhältnissen, von Lernprozessen wie von verbrecherischen Gewaltexzessen.
Immer wieder öffneten sich Perioden von »Bewährungsproben«, in denen – auch in der Bearbeitung von Krisen – Fehlorientierungen vergangener Perioden korrigiert werden können und müssen. Sie waren allerdings meist von kurzer Dauer – in ihrem Scheitern reflektiert sich noch die Dialektik von Revolution und Gegenrevolution, die auch immer wieder zur Festigung jener Elemente der Wirtschaftsordnung und des politischen Regimes der Sowjetunion beigetragen haben, die letztlich die Realisierung der Ziele des sowjetischen Staates und des Programms der Partei blockieren mussten. Im letzten Kapitel wird auf die Frage eingegangen, ob und wie sich nach dem Ende der Sowjetunion die Frage der »Revolution« in den Ländern des entwickelten Kapitalismus neu stellen wird.2
Ich bin bei der Arbeit an dieser Problematik immer wieder auf den Ausgangspunkt meiner eigenen wissenschaftlichen und politischen Entwicklung zurückgekommen, der jetzt schon gut 50 Jahre zurückliegt. Wolfgang Abendroth wurde zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 1966 eine »kleine« Festschrift – mit der Hand nass kopiert – überreicht.3 Mein Beitrag behandelte die »Geschichte des Revolutionsbegriffes«. Er stand im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Revolutionsbewegungen in der Dritten Welt, die auch für unser politisches Engagement im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) – vor allem in der Kampagne gegen den Vietnamkrieg der USA – wichtig war (Deppe/Steinhaus 1965: 13ff.; Steinhaus 1966). Mit Kurt Lenk konnte ich in dieser Zeit in einem Seminar zu »Revolutionstheorien« zusammenarbeiten. Daraus ist schließlich auch eine Edition von Texten des französischen Revolutionärs Louis Auguste Blanqui (1968) sowie meine Dissertationsschrift (Deppe 1970) hervorgegangen. 50 Jahre nach der Oktoberrevolution konzentrierte sich damals das Interesse an der Revolution auf die sogenannte Dritte Welt; in der Volksrepublik China tobte gerade die »Kulturrevolution«.
Während der Arbeit an diesem Buch wurde ich immer wieder an wissenschaftliche und politische Lehrer und Vorbilder erinnert, die ihr Leben für die Ideale der Oktoberrevolution eingesetzt hatten und die – obwohl sie die Verhältnisse im »realen Sozialismus« kritisierten – die Hoffnung nicht aufgeben wollten, dass sich die Sowjetunion vom »Schatten des Stalinismus« befreien könnte. Ihnen sei dieser Text gewidmet.
Frank Deppe, Marburg, Juni 2017
1) Die Präambel der Verfassung der UdSSR aus dem Jahr 1977 begann mit dem folgenden Satz: »Die Große Sozialistische Oktoberrevolution, von den Arbeitern und Bauern Russlands unter Führung der Kommunistischen Partei mit Wladimir I. Lenin an der Spitze vollbracht, stürzte die Macht der Kapitalisten und Gutsbesitzer, sprengte die Fesseln der Unterdrückung, errichtete die Diktatur des Proletariats und schuf den Sowjetstaat – einen Staat neuen Typs – als Hauptinstrument zum Schutze der revolutionären Errungenschaften und zum Aufbau des Sozialismus und Kommunismus.«
2) Immerhin sind 2016/17 zwei Bücher von führenden Politikern erscheinen, die das Wort »Revolution« im Titel tragen. Emmanuel Macron: Revolution. Wir kämpfen für Frankreich, Kehl 2017, und Bernie Sanders: Unsere Revolution. Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft, Berlin 2017. Macron, inzwischen zum französischen Präsidenten gewählt, versteht »Revolution« als Bruch mit dem »Etatismus«, er will die Resultate der neoliberalen Gegenrevolution auf Frankreich übertragen; Sanders dagegen entwickelt sein Programm einer »politischen Revolution« aus der Kritik der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse in den USA, der Folgen der neoliberalen »Gegenrevolution« und der Zerstörung der Demokratie.
3) »Politik und Kritik. Arbeiten zur Sozialwissenschaft« (Marburg 1966), mit Beiträgen von Joachim Bergmann, Dieter Boris, Frank Deppe, Georg Fülberth, Rüdiger Griepenburg, Reinhard Kühnl, Richard Lorenz, Arnhelm Neusüss, Siegfried Pausewang, Ursula Schmiederer, Rolf Schmiederer, Michael Schuler, Jürgen Seifert, Margarete Steinhauer, Kurt Steinhaus, K.H. Tjaden.