Postone und das Bleibende seiner Kritik

Zum Tod von Moishe Postone

Bereits bevor sein Hauptwerk Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx  (Time, Labor, and Social Domination, 1993) 2003 auf Deutsch erschien, war Moishe Postone in der deutschen Linken durch seinen Aufsatz Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch bekannt geworden.

Obwohl bereits 1979 in der Frankfurter Studentenzeitung Diskus veröffentlicht, wurde der Aufsatz innerhalb der deutschen Linken erst Ende der 80er-Jahre im Zuge des Zusammenbruchs des Realsozialismus, des Falls der Mauer und der Wiedervereinigung diskutiert. Damals begann insbesondere in der radikalen Linken und in Teilen der Autonomen Bewegung eine intensivere Beschäftigung mit dem historischen Nationalsozialismus sowie mit seinen aktuellen Erscheinungsformen in West- und dann auch in Ostdeutschland. Sie sorgte für eine Neubestimmung des historischen Nationalsozialismus und für eine Neuausrichtung innerhalb der radikalen Linken und der Autonomen Bewegung. Teile der Autonomen organisierten sich nun als Autonome Antifa, und allgemein zog eine explizit antinationale Ausrichtung in die radikale Linke ein.

Postones wert- und kapitaltheoretische Bestimmung des Antisemitismus: struktureller Antisemitismus

Tatsächlich lässt sich seit Postones Aufsatz die Antisemitismuskritik in eine Kritik vor und nach Postone unterscheiden – allerdings nicht wegen ihres einschneidenden Einflusses auf die radikale Linke in Deutschland. Die Unterscheidung betrifft vielmehr die Antisemitismuskritik selbst. So hatte zwar bereits die erste Generation der Kritischen Theorie in ihrer Kritik des Nationalsozialismus und des Antisemitismus, besonders in Elemente des Antisemitismus in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, auf die blinden Flecken sowohl in der marxistischen als auch in der bürgerlichen Faschismus- und Antisemitismustheorie gezielt, die allerdings beide über eine Sündenbock-Theorie letztlich nicht hinaus kamen und Antisemitismus wie eine Variante des Rassismus behandelten. Die Kritische Theorie hatte ihre Kritik zudem bereits als eine Einheit von Gesellschafts- und Ideologiekritik konzipiert und sie an Marx orientiert. Allerdings hatte sie diese Einheit – und das gilt nicht nur für ihre Kritik des NS und des Antisemitismus, sondern für die Kritische Theorie allgemein – vor allem an den politischen und erkenntniskritischen Implikationen der Zirkulationssphäre und der warenförmigen Vermittlung festgemacht.

Postone führte dagegen in seiner Konzeption einer Einheit von Gesellschafts- und Ideologiekritik die Zirkulationssphäre und die warenförmige Vermittlung einerseits auf den Doppelcharakter der Ware zurück, um daraus andererseits den doppelten Charakter der modernen Gesellschaft schlechthin zu entwickeln. Er zeigte, dass der Antisemitismus die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft aufspaltet und personifiziert: Das Konkrete und Gebrauchswertige wird entlang der Linie Arbeit, Produktion und Nation völkisch identifiziert, die abstrakte Seite des Kapitalismus wird dagegen entlang der Linie Wert, Geld und (Finanz-)Kapital antisemitisch naturalisiert. Zudem griff Postone weniger auf Freud und die Psychoanalyse und stärker auf Marx‘ Fetischkritik zurück. So wurde aus der „pathischen Projektion“ und der Identifikation des Juden mit der Zirkulationssphäre und mit den liberalen bürgerlichen Freiheiten, die in der Kritischen Theorie im Mittelpunkt standen, die „Personifizierung“ der abstrakten Seite der kapitalistischen Moderne. Während die Kritische Theorie den eliminatorischen Antisemitismus an einer Zirkulationssphäre festmachte, die im Monopolkapitalismus überflüssig geworden und vom NS zusammen mit ihrem Stellvertreter: dem Juden, liquidiert worden sei, ist der eliminatorische Antisemitismus bei Postone ein einseitiger Angriff auf das Abstrakte in der Moderne schlechthin, ein Angriff, der die vermeintlich konkrete, produktive Seite des Kapitals insbesondere von der abstrakten und „raffenden“ Seite befreien soll, aber auch von den verschiedenen Formen des  Universalismus.

So brachte Postone den Anti-Kapitalismus des Nationalsozialismus in Übereinstimmung mit dessen Selbstverständnis, indem er den verkürzten Anti-Kapitalismus als strukturell antisemitisch auswies. Antisemitismus ist eine fetischistische Denkweise oder Denkform, die im Juden eine Personifizierung sucht, aber eine Personifizierung, die nicht nur unabhängig von aller empirischen Erfahrung und Erscheinung des Juden ist; vielmehr ist der Antisemitismus gerade eine Naturalisierung und Personifizierung des Nicht-Empirischen, nämlich des ebenso abstrakt-negativen wie dynamischen und letztlich universellen Wesens der kapitalistischen Verwertung.

Postone wurde dies als abstrakter Strukturalismus ausgelegt. Auch und gerade diejenigen, die an seinen Ansatz anschlossen, nahmen seinen strukturellen Antisemitismus von zwei Seiten in die Zange: Zum einen fehle die freie Entscheidung des Einzelnen und dessen Eigenständigkeit und Verantwortung, zum anderen die Rolle des (deutschen) Staates.

Allerdings ist Postone’s Antisemitismuskritik nur in Deutschland derart intensiv diskutiert worden; außer im angelsächsischen Raum ist sie in anderen Ländern kaum bekannt.

Postones Verbindung von Zeit, Arbeit, Wert und Geschichte

Auch in seinem Hauptwerk Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft beanspruchte Postone eine „neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx“ im Sinne einer Weiterentwicklung der Kritischen Theorien im Rückgriff auf Marx, und zwar explizit der ersten Generation vor Habermas und vor der kommunikativen-normativen Wende.

Insbesondere die pessimistische Perspektive der Kritischen Theorie, die meist einseitig das Verhängnisvolle der Produktivkraftentwicklung und des technischen Fortschritts sowie eine warenförmige Zurichtung des Gebrauchswerts beklagte, erfuhr in Postones Buch eine Art Wendung, jedoch ohne zum Geschichtsdeterminismus und Fortschrittsglauben des klassischen Marxismus zurückzukehren. Die Wendung soll vielmehr durch einen Widerspruch kommen, welcher der kapitalistischen Gesellschaft innewohnt und ihr eine Gerichtetheit und sogar eine Art historischen Sinn verleiht. Wo die erste Generation die gewaltsame Versöhnung gesellschaftlicher Widersprüche und die Eindimensionalität des Spätkapitalismus kritisierte, stellt Postone gerade in dieser verhängnisvollen Versöhnung eine Verschärfung des kapitalistischen Widerspruchs  fest – auch hier allerdings ohne zum Antagonismus des klassischen Marxismus zurückzukehren, der den Widerspruch von Arbeit und Kapital am Klassenverhältnis festmachte. Postone zielt statt auf den Klassengegensatz auf dessen übergreifende Form und suchte nach dem Widerspruch innerhalb der Form ihrer kapitalistischen Verwertung.

Er machte diesen Widerspruch der Verwertung von Arbeit und Kapital an der Entwicklung der Produktivkraft fest. Seine zentrale Einsicht war, dass der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft sowie der Gebrauchswert, der aus ihrer kapitalistischen Verwertung resultiert, zeitlich ist. Der Gebrauchswert liegt in der Steigerung der Produktivkraft durch die Reduzierung notwendiger Arbeitszeit, also derjenigen Arbeitszeit, die zur Produktion all der Waren wie zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft selbst notwendig ist. Der Reichtum der kapitalistischen Produktionsweise ist mithin nicht stofflich-materiell, er liegt nicht einfach in der ungeheuren Warensammlung“ (Marx) materiell vor. Der Reichtum liegt im zeitlichen Vermögen, das in der Steigerung der Produktivkraft liegt und zur Befreiung von der Arbeit führen könnte, mithin heraus aus dem Reich der Notwendigkeit. Die zeitlich-historische Dimension des Gebrauchswerts bleibe aber – und hier wird nun das zeitliche Vermögen zum Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise – in einer Art „Tretmühlendialektik“ gehalten, weil die Entwicklung der Produktivkraft durch immer dieselbe abstrakte Zeit gebrochen werde und nur eine je neue gesellschaftlich-notwendige Durchschnittszeit ergebe.

Mit „Tretmühlendialektik brachte Postone also diesen Widerspruch auf den Begriff: Weil die Produktivkraft der Arbeit durch immer dasselbe Maß gemessen werde – laut Postone durch immer dieselbe Zeiteinheit wie die Arbeitsstunde oder den Arbeitstag – bleibe trotz aller Steigerung der Produktivkraft dieses Maß unverändert dasselbe. Aus der steigenden Produktivkraft werde nur eine je neue gesellschaftlich-notwendige Durchschnittsarbeitszeit ermittelt, ohne dass die Arbeitszeit, die durch die Steigerung der Produktivkraft reduziert und erspart wird, disponibel würde. So lange aber die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit immer durch dasselbe Zeitmaß gebrochen werde und nur eine neue notwendige Durchschnittsarbeitszeit durchsetzt und maßgeblich werden lasse, so lange befinde sich der Kapitalismus im Widerspruch zwischen einerseits einer wachsenden überflüssig gewordenen Arbeitszeit, einem geschichtlichen Fortschritt und sogar einem Sinn in der geschichtlichen Entwicklung, die andererseits aber keinen Ausdruck für sich finden können. Mit der steigenden Produktivkraft wächst zwar gleichsam auch die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft. Aber diese wachsende Möglichkeit findet keine neue gesellschaftliche Form für sich, sodass sich der Kapitalismus im Widerspruch entwickelt zwischen einer wachsenden historischen Möglichkeit: der Emanzipation von Arbeit und der Befreiung vom „Reich der Notwendigkeit“ (Marx) zum einen, die aber, zum anderen, immer ein und derselben und insofern zeitlos gültigen kapitalistischen Formbestimmung unterzogen wird.

Postones „neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx“ ist im deutschsprachigen Raum vor allem in den Kreisen der Wertkritik rezipiert worden, mitunter auch in den werttheoritischen und enger an Marx’ Kapital orientierten Diskussionen; weit weniger dagegen im gleichsam offiziellen Strang der Kritischen Theorie seit Habermas.

Der Blinde Fleck bei Postone

Für meine eigene Theorieproduktion war Postones „neue Interpretation von Marx“ gleich in doppelter Hinsicht inspirierend. Zum einen wegen des Zusammenhangs von Arbeit, Zeit und Wert, zum anderen wegen des blinden Flecks darin: das Geld. Dieser blinde Fleck ist um so erstaunlicher, als Postone in den 70er-Jahren in Frankfurt/M. lebte. Er lebte an diesem gleichsam klassischen Ort der Kritischen Theorie also in genau den fruchtbaren Jahren, als im Nachgang der 68er-Studierendenbewegung eine neue Beschäftigung mit Marx stattfand. Gleichwohl ist ihm eine der zentralen Einsichten dieser neuen Marx-Diskussion merkwürdigerweise entgangen, und zwar ausgerechnet die Einsicht der werttheoretischen, formanalytischen Marx-Aneignung, für die er selbst sich doch stark interessierte, nämlich die Einsicht, dass der Wert nur angemessen über das Geld zu entwickeln ist. (Aus der Kritik prämonetärer Wertvorstellungen und der Notwendigkeit einer Einheit von Wert- und Geldkritik ist später die sog. Neue Marx-Lektüre hervorgegangen).

Postone hat die Verschränkung zwischen dem Maß der abstrakten Zeit und der gemessenen Produktivkraft der Verwertung der Arbeit nicht am Geld festgemacht; bei ihm scheint es, als werde die Arbeit unmittelbar durch die Zeit gemessen. Es ist dann gleichsam die Uhr, genauer, die Uhrzeit im neuzeitlichen Sinne einer abstrakt-homogen und quantifizierbaren Zeit, an welche die Arbeit und der Produktionsprozess gehalten wird – obwohl es doch das Geld ist, das durch seine Funktionen die Verwertung der Arbeit durch das Kapital an ein gemeinsames Wertmaß hält und darüber die zur Verwertung maßgebliche Durchschnittsarbeitszeit ermittelt. Folgerichtig ist es bei Postone eine unmittelbare, direkte Messung durch die Uhrzeit, die eine systematische Reduzierung von Arbeitszeit und eine Steigerung der Produktivkraft möglich macht, und nicht die Messung durch das Geld. Die Zeit kann aber nicht ohne das Geld in Anspruch genommen werden, und diese Zeit ist je durch das Geld in Wert gesetzt und tritt durch quantitative Größen ein. Nur durch die Geldfunktionen und ihre In-Wert-Setzungen von Arbeit und Kapital ist derjenige Zusammenhang gegeben, den Postone zu entwickeln versucht, als sei der Zusammenhang ohne das Geld da oder als sei das Geld nur eine neutrale Vermittlung und bloße Repräsentation Das entspricht ironischerscherweise eher dem Verständnis des „traditionellen Marxismus“, den Postone doch für den Essentialismus und Substantialismus im Arbeits- und Wertbegriff kritisierte.

Folgerichtig hat er auch die eigentümliche Situation, dass die Messung der Verwertung die gemessene Qualität „Wert“ erst konstituiert, nicht am Geld festgemacht, also die Eigentümlichkeit, dass das Geld diejenige Zeit, die es quantitativ in Wert setzt und durch bestimmte Größen realisiert, allererst gleichsam mit sich bringt. Ohne das Geld ist Postone schließlich auch nicht hinter dessen Technik gekommen, diese beiden Zeiten, um die seine Überlegungen kreisen, miteinander zu vermitteln: Es ist das Geld, das im Messen der Verwertung die Zeit einerseits in Wert setzt und zur identischen Qualität allererst werden lässt und sie dadurch andererseits immer schon verzeitlicht und als geschichtliche Zeit der kapitalistischen Gesellschaft qualifiziert. Stattdessen ist bei Postone auf der einen Seite die abstrakte, maßgebliche Zeit gleichsam ohne Geld da, und auf der anderen Seite ist auch die gemessene Arbeit eine Qualität und produktive Kraft, ohne dass sie im Geld gemessen und durch endliche Durchschnittsgrößen für die weitere Verwertung maßgeblich würde.

Der unterbestimmte Geldbegriff ist auch der Grund, warum Postones Vorstellung eines wachsenden zeitlichen Potenzials, das durch denselben Kapitalismus, der es hervorbringt, (noch) keinen Ausdruck findet, schief ist. Die Pointe ist ja gerade, dass das Geld genau dieses zeitliche Potenzial ausbeutet und ihm eine gestaltlose Gestalt gibt. Das Geld beutet zusätzliche Arbeitszeit aus und gibt ihr im Profit eine rein quantitative Existenz, und dieser gewonnene Profit ist genau dasjenige Potenzial, das eben nur als die bloße Möglichkeit weiterer Verzeitlichung existiert. Die im Zuge der Steigerung der Produktivkraft reduzierte und ersparte Arbeitszeit muss nicht nur laut Marx in zusätzliche Arbeitszeit“ umgewandelt werden, damit sie sich auszahlt. Sie muss auch im Zuge der Realisierung der Resultate der Verwertung, der Waren, von den Warenwerten geschieden und gleichsam im Geld gewonnen und im Profit buchstäblich herausgestellt werden, um eine eigenständige Existenz in einem Quantum zu erhalten. Durch die ersparte notwendige, aber in zusätzliche Arbeitszeit umgewandelte und zugleich im Profit ausgebeutete und wiedergegebene Arbeitszeit wird insofern ein geschichtliches Potenzial gewonnen, als diese gewonnene Arbeitszeit nur erhalten und in der Zeit bleibt, wenn sie in den Prozess ihrer Herkunft zurückkehrt. Das heißt, wenn der Profit schlicht in die Elemente der Verwertung zurückverwandelt wird. So existiert die ausgebeutete Arbeitszeit einerseits als ein Quantum, das aus der Verwirklichung des Vermögens der Ware Arbeitskraft und aus der Steigerung ihrer Produktivkraft gewonnen wurde. Andererseits wird im Geld nur eine Arbeitszeit quantitativ gewonnen und ‚aufgehalten‘, die erneut in die Bestandteile der Verwertung und der Warenproduktion umgewandelt werden muss. Die geschichtliche Entwicklung und der Fortschritt bestehen „nur“ darin, dass die Verwertung von Arbeit und Kapital in ihre eigene Erweiterung führt. Hier, in der Erweiterung ihrer Reproduktionskreisläufe, wird das geschichtliche Potenzial verwirklicht, hier wird es auf unmittelbar praktische Weise in der Zeit durchgeführt und gleichsam geschichtlich ausgelebt, und hier wird das geschichtliche Potenzial des Kapitalismus realisiert und abgegolten.

Eine Diskussion darüber ist mit ihm leider nicht zustande gekommen; wohl auch, weil er dieses Thema mit seinem Buch von 1993 abgeschlossen hatte.

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Seine Kritik wird auf zweifache Weise bleiben. Zum einen hat er die Geschichte der Antisemitismuskritik, zumindest was die deutschsprachige Diskussion angeht, geschieden in eine Zeit vor und eine nach seinem Aufsatz Nationalsozialismus und Antisemitismus. Zum anderen bleibt das Verhältnis zwischen der ewigen Notwendigkeit der kapitalistischen Verwertung und der Produktivkraftsteigerung einerseits und ihrer geschichtlichen Dynamik und Entwicklung andererseits so lange zeitlos, wie das Verhältnis nicht überwunden ist, die Überwindung vielmehr eingeschlossen ist in einer Art Tretmühlendialektik. Möge diese Kritik Postones an der Tretmühle Kapitalismus zeitlos bleiben, indem sie durch ihre Weiterentwicklung ebenfalls „verzeitlicht“ wird.