Mythen über Marx

Mythen Marx Cover-Ausschnitt

Vor 50 Jahren fielen der 100. Jahrestag der Veröffentlichung des Kapital und der 150. Geburtstag von Marx zusammen mit dem Auf- und Umbruch von 1968. Obwohl das Zusammentreffen zufällig und obwohl 1968 ein Kulminationspunkt ganz unterschiedlicher Entwicklungen war, kam es in vielen Ländern zu neuen Marx-Aneignungen, meist begleitet von der Suche nach neuen Formen des Politischen und Sozialen. Im Zuge dessen entstanden zudem neue Lesarten des Kapital: die „operaistische Lesart“ in Italien, die „strukturale Lesart“ in Frankreich und die „formanalytische Lesart“ in West-Deutschland und z.T. in der DDR – um nur die wohl einflussreichsten zu nennen. So führte der umfassende Auf- und Umbruch zur bis heute umfassendsten Erneuerung einer „Kritik nach Marx“.

Dagegen gibt es heute, zum 150. Jahrestag des Kapital und zum 200. Geburtstag von Marx, keine vergleichbare gesellschaftliche Situation eines Um- und Aufbruchs – wenn, dann erleben wir ein „68 von Rechts“, und zwar ebenfalls in einer weltweiten Dimension. Und wie die politische Linke insgesamt, befindet sich auch die Kapital-Aneignung in einem verhaltenen, mutlosen Zustand und fährt auf Sicht: Biographien, Einführungen und Zusammenfassungen sowie, bei den etablierten Marx-Kennern, Zweit- und Drittverwertungen. Zwar gab es in den letzten Jahren, vor allem im Zuge der sog. Globalisierung Ende der 1990er-Jahre und dann der Finanzkrise von 2008, einige Aktualisierungen der Marx’schen Kritik (Globalisierung, Finanzkapitalismus, Schulden und Austerität, Care-Work, Prekarisierung und Prekariat, Medien und digitaler Kapitalismus). Es gibt aber keine neuen Kapital-Lesarten und keinen neuen Modus der Kritik wie vor 50 Jahren zu 100 Jahren Kapital und 150 Jahren Marx.

Daran hat bislang auch der Abschluss der II. Abteilung der historisch-kritischen Gesamtausgabe der Marx-Engels-Werke (MEGA) noch nichts geändert, also jener Abteilung, die alle Schriften rund um Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie abdeckt. Marx wirkt auch an dieser Front derzeit ausgeforscht, die Diskussion um Konzeption, Aus- und Umarbeitung des Kapital erschöpft. Vor 50 Jahren waren es vor allem die sog. Grundrisse gewesen, die neue Marx-Aneignungen und Kapital-Lesarten motivierten, wobei die Grundrisse auf ganz unterschiedliche und sogar gegensätzliche Weise interpretiert wurden. Während die Interpretation in Deutschland in den Grundrissen einen Marx sah, der noch stärker an Hegels Dialektik orientiert war als dann im Kapital, entdeckte die Interpretation in Italien einen noch nicht durch Hegels Dialektik und eigene wissenschaftliche Ansprüche gebändigten, politischen und revolutionären Marx.

Die Mut- und Harmlosigkeit der gegenwärtigen „Kritik nach Marx“ hat ihr Gegenstück darin, dass mit Marx in den Medien und im Feuilleton, in Konferenzen, Ausstellungen und Veranstaltungen sowie in Spielfilmen und Dokumentationen ausgesprochen wohlwollend umgegangen wird, abgesehen von einigen Totalausfällen wie ausgerechnet in der FAZ und der FAS. In der FAZ, die eigentlich auf Sachverstand Wert legt, war in der Ausgabe vom 30.6.2017 bei einem Philip Plickert schon sachlich vieles schlicht falsch – doch wo kein Wissen, da war immerhin eine Meinung oder vielmehr eine Gesinnung vorhanden. Ähnlich skurril war ein Artikel in der FAS, wo ein Professor der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, Martin Rhonheimer, Marx, der sein Hauptwerk immerhin Das Kapital und nicht Die Arbeit oder Die Arbeiterklasse betitelte, vorwarf, er habe „den Unternehmer“ – also den Kapitalisten – übersehen.

Was dagegen den wohlwollenden Umgang angeht, so gewinnt er seine Spannung allenfalls aus den zwei Polen, zwischen denen er sich bewegt, nämlich zwischen Historisierung auf der einen Seite und Aktualisierung auf der anderen.

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Angesichts dieser insgesamt eher ernüchternden Bilanz ist ein Büchlein begrüßenswert, das immerhin mit den Mythen aufräumt, die nach wie vor zu Marx und zum Kapital im Umlauf sind. Geschrieben wurde Mythen über Marx. Die populärsten Kritiken, Fehlurteile und Missverständnisse von einem Autor_innekollektiv aus dem Umfeld der Marx-Lesekreise und der Marx- Herbstschule, das mit PolyluxMarx bereits „Bildungsmaterialien zur Kapital-Lektüre“ herausgegeben hatte. Diese „Entmythologisierung“ lässt sich immerhin in das große Aufräumen vor 50 Jahren einreihen, das damals vor allem die marxistisch-leninistischen Grundannahmen über Marx und das Kapital betraf – auch wenn es sich bei Mythen über Marx, schon dem Umfang des kleinen Büchleins nach, um ein eher bescheidenes Unterfangen handelt.

Mit den Mythen sind nicht die ebenso armseligen wie durchsichtigen Mythen gemeint, denen zufolge Marx antisemitisch, frauenfeindlich, rassistisch etc. gewesen sei sowie – und das darf natürlich nicht fehlen – statt von eigener Arbeit auf Kosten anderer gelebt und vor allem seinen Freund Engels finanziell ausgebeutet habe. Es geht vielmehr um diejenigen hartnäckigen Mythen, die im Alltagsverständnis verbreitet sind, und zwar durchaus auch unter Anhänger_innen und Sympathisant _innen von Marx.

Auch wenn keine Hierarchisierung vorgenommen wird, machen die gängigsten und grundlegendsten Mythen den Anfang. So beginnt das Buch passenderweise mit Marx‘ vermeintlicher Inaktualität (Marx als „Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts“), greift dann die üblichen Behauptungen auf („heute gibt es keine Ausbeutung/keine Klassen mehr“, Marx wolle „Verstaatlichung/eine Diktatur“) und endet bei Marx‘ blindem Fleck, den Geschlechterverhältnissen, sowie seiner angeblichen „Arbeitswerttheorie“.

Angenehm knapp und sachlich wird der jeweilige Mythos kurz vorgestellt und oft mit einem beispielhaften Zitat belegt, bevor dann mit dem Mythos „aufgeräumt“ wird, belegt ebenfalls mit einschlägigen Textstellen aus Marx‘ Werken. Dabei werden durchaus nicht alle Mythen als solche bloßgestellt. Einige Mythen entsprechen nämlich durchaus den Tatsachen, etwa der „Mythos“, Marx  habe die (Re-)Produktion der Ware Arbeitskraft und die damit einhergehende Geschlechterspaltung vernachlässigt. Mitunter gilt es aber auch gleichsam umgekehrt überzogene Ansprüche zum Mythos zu erklären, etwa wenn für das Kapital beansprucht wird, es habe die aktuelle Finanzkrise geradezu vorhergesehen.

Ein ebenso eindeutiger wie unausrottbarer Mythos ist dagegen das Wort von der „Religion als Opium fürs Volk“, wie etwa auf dem Cover (!) von Dietmar Daths Karl Marx. 100 Seiten (wobei die Cover-Gestaltung sicher in der Verantwortung des Reclam-Verlags liegt). Marx spricht vom „Opium des Volkes“: An dieser unscheinbaren Präposition hängt der Unterschied zwischen äußerer Manipulation und immanenter Kritik.

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Genau an diesem Unterschied zeigt sich allerdings auch, dass eine „Entmythologisierung“ nur die halbe Wahrheit sein kann. Die „andere Hälfte“ – und die eigentliche immanente Kritik und Ideologiekritik in der Tradition von Marx – bestünde darin zu begründen, warum diese Mythen entstanden. Sie entspringen ja nicht bloßen Missverständnissen oder Fehllektüren, vielmehr wären die Mythen auf ihre gesellschaftlichen und historischen Entstehungsbedingungen und -umstände zurückzuführen – eine zugegeben recht umfangreiche Aufgabe, die Mythen Marx nur bedingt leisten kann.

Überhaupt wäre eine solche historisch-materialistische Rekonstruktion aber wohl der angemessene Umgang nicht nur mit den Mythen, sondern mit der wechselvollen Geschichte des Marxismus überhaupt, insbesondere mit der verhängnisvollen Geschichte des Parteikommunismus und der realsozialistischen Staaten. Marx‘ Kritik ist ja von vornherein insofern reflexiv angelegt, als sie auch die eigene Theoriebildung auf die dargestellte kapitalistische Gesellschaft zurückführt und sie vom Kritisierten her begründet. Die Anwendung seiner Kritik auf ihn selbst bestünde demnach darin, noch die ideologische Beschlagnahme von Marx in der Geschichte des Marxismus nicht auf Fehlentwicklungen, Missbrauch oder auf bestimmte Personen und ihre Politik zurückzuführen, sondern auf die gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen und Umstände, unter denen diese Beschlagnahme wirksam werden konnte.

Eine andere, direkte Fortsetzung der Mythen über Marx drängt sich indes geradezu auf. Naheliegend wäre es, im Anschluss an die Mythen die Ambivalenzen bei Marx und insbesondere im Kapital in Angriff zu nehmen. Im Grunde sind in den Mythen bereits einige Ambivalenzen angesprochen: Welchen Status hat die Arbeitswerttheorie? Welchen Status haben die Geldware, die Deutsche Ideologie, der Historische Materialismus, die Dialektik, Hegel, das sog. Transformationsproblem oder der berüchtigte tendenzielle Fall der Profitrate?

Auch hier bestünde der angemessene Umgang zumeist wohl nicht darin, Eindeutigkeit herzustellen, sondern die Notwendigkeit solcher Ambivalenzen zu begründen und zumindest über die Notwendigkeit bestimmter Zweideutigkeiten Klarheit herzustellen.

Autor_innenkollektiv
Mythen über Marx
Die populärsten Kritiken, Fehlurteile und Missverständnisse

Bertz & Fischer Verlag, 136 Seiten, 8.- Euro

Antonella Muzzupappa und Valeria Bruschi stellen das Buch auf den Linken Buchtagen am 2. Juni um 20 Uhr im Mehringhof vor.