Mehring fragt: „Werden sich die russischen Arbeiter übertölpeln lassen?“
Die deutsche Linke diskutiert die Februarrevolution
Knapp zwei Wochen nach dem Beginn der Revolution veröffentlicht Franz Mehring, einer der wichtigsten linken Sozialdemokraten und Mitglied der Spartakusgruppe, den hier wiedergegebenen Aufsatz. Am 12. März hatte die erste Sitzung des Petrograder Sowjets stattgefunden und am 15. März entstand die Provisorische Regierung aus Vertretern bürgerlicher Parteien. Es waren eine Amnestie aller politisch und religiös Verfolgten und Maßnahmen zu ihrer Unterstützung erlassen worden. Am Tag vor der Veröffentlichung des Artikels wurde zwischen dem Petrograder Sowjet und der Gesellschaft der Fabrikanten und Werkseigner die Einführung des Achtstundentages, die Bildung von Werks- und Fabrikkomitees sowie die Einrichtung von Schlichtungskammern vereinbart. Zwei Wochen nach der Veröffentlichung des Aufsatzes, am 7. April, verabschiedet sich die Konstitutionell-demokratische Partei von ihrer Orientierung auf die Monarchie und stellt die Forderung nach einer demokratischen parlamentarischen Republik in den Mittelpunkt ihres Programms. Es sind wirklich die „Flitterwochen der Revolution“, wie Mehring schreibt.
Trotz der von ihm konstatierten Unsicherheiten bezüglich der Beurteilung der Lage in Russland scheinen hier viele Fragen auf, die immer wieder Gegenstand von Kontroversen in der Sozialdemokratie werden sollten: die Rolle der Demokratie und Parlament, das Verhältnis von deutschem und russischem Proletariat oder das Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien. Dabei ist seine Position konsequent internationalistisch. Diese Position wird Rosa Luxemburg dann in ihren Aufsätzen in den folgenden Debatten – vor allem nach der Oktoberrevolution - immer wieder betonen.
Franz Mehring: Die russische Revolution (24. März 1917)
Über die russische Revolution zu schreiben ist bei der Unsicherheit und Verworrenheit der Nachrichten, die über sie bisher ins Ausland gelangt sind, einigermaßen schwer, zumal für eine Wochenschrift, deren Auffassung jeden neuen Tag durch neue Nachrichten eingeschränkt oder widerlegt werden kann.
Immerhin gibt es einige Gesichtspunkt, die die man heute feststellen kann, ohne befürchten zu müssen, daß sie morgen schon wesenlos erscheinen, und zwar solche Gesichtspunkt, die für das historische Wesen dieser Revolution entscheidend sind. Denn die Fragen, wo sich der Zar und die Zarin befinden, welches Mitglied der Zarenfamilie mit der Revolution zu paktieren geneigt ist oder nicht und dergleichen mehrt, mögen für den Philister schon interessant sein, aber den Politiker gehen sie nichts an, zumal da schon jetzt feststeht, daß die russische Revolution dem Zarentum als solchem keineswegs an Kopf und Kragen will.
Ihrem historischen Wesen nach ist diese Revolution eine Empörung der Bourgeoisie gegen die Unfähigkeit des Zarismus, einen Weltkrieg erfolgreich durchzukämpfen. Es ist bekannt genug, daß die russische Bourgeoisie diesen Weltkrieg leidenschaftlich ersehnt und geschürt hat; es gehörte zu dem ärgsten Schwindel der Regierungssozialisten, den russischen Krieg aus den längst verschollenen Redensarten von Anno dazumal als einen räuberischen Einbruch barbarischer Horden in die westeuropäische Kultur darzustellen. Noch kurz vor Ausbruch des Krieges hat der Professor Mitrofanow, ein angesehener Historiker, der seine Bildung an deutschen Hochschulen erworben hat und für seine Person durchaus deutschfreundlich gesinnt ist, in sehr überzeugender Weise dargelegt, daß „Besitz und Bildung“ in Rußland, also deutlicher gesprochen die russische Bourgeoisie, nach einem Krieg mit Deutschland lechze, auf dessen Widerstand sie überall stoße, wohin sie auch immer ihre kapitalistischen Fangarme ausstrecke.
Daraus ergibt sich schon die Hinfälligkeit des Versuchs, die russische Revolution als einen Vorboten des Friedens zu begrüßen. Im Gegenteil: Soweit es auf die gegenwärtigen Machthaber in Rußland ankommt, werden sie den Krieg mit verdoppelter Energie und, wie sie hoffen, mit verdoppeltem Erfolg fortführen; ja, nach manchen Anzeichen scheint die Befürchtung, der Zar könne sich zu einem Separatfrieden mit Deutschland entschließen, nicht der letzte Antrieb ihres raschen Vorgehens gewesen zu sein. Damit erklärt sich dann auch weiter, daß sich ein Teil der Aristokratie und namentlich die bewaffnete Macht der russischen Revolution angeschlossen haben.
Somit bestätigt diese Revolution die bekannten Worte Lassalles, es sei unmöglich, die Bourgeoisie für die idealen Güter der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ins Feuer zu bringen, aber um ihre kapitalistischen Interessen zu verfechten, könne sie noch Klauen und Zähne zeigen. Man mag der russischen Bourgeoisie sogar das verhältnismäßige Lob zuerteilen, daß sie für ihre hehren Altäre größere Kräfte aufzuwenden weiß als manche andere, die weiter westlich haust. Aber schließlich bleibt Bourgeoisie doch immer Bourgeoisie, und eine Revolution kann sie nicht machen, ohne sich auf Volksmassen zu stützen, die durch die strenge Schule des Elends und des Hungers zu revolutionärer Kraft gestählt sind. So war es 1789 in Frankreich, so war es 1848 in Frankreich und Deutschland, und so ist es 1917 in Rußland.
Darum gilt von jeder siegreichen Revolution das Wort des römischen Dichters: Hinter dem Reiter, der noch so glorreich aus der Schlacht heimkehrt, sitzt die schwarze Sorge. Wie sich die Bourgeoisie 1789 und 1848 dieser Sorge entledigt hat, ist bekannt genug. Sie lohnte am Tage nach dem Siege die Kämpfer, die mit ihrem Blut und ihren Muskeln den Sieg erfochten hatten, mit dem schnödesten Undank ab! Und es liegt nicht der geringste Anlaß vor, zu bezweifeln, daß auch die russische Bourgeoisie sich an dieselbe bewährte Methode halten wird. Ihr Programm enthält zwar eine Reihe verhältnismäßig weitgehender Forderungen, aber wohlgemerkt nicht auf sozialem, sondern auf politischem Gebiet, und was aus der Berufung einer auf Grund des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts gewählten Nationalversammlung werden kann, die die neue Verfassung des Reiches beraten soll, das besagt das preußische Vorbild von 1848. Genau denselben „Erfolg“ hatten die Berliner Arbeiter 1848 erkämpft, aber kaum ein Jahr später war die Dreiklassenwahl da, die wir heute noch nicht losgeworden sind.
Werden sich die russischen Arbeiter abermals übertölpeln lassen? Das ist für die deutschen Arbeiter die alles entscheidende Hauptfrage der russischen Revolution. Wir fürchten es nicht, sondern vertrauen zuversichtlich darauf, daß sie aus den schmerzlichen Erfahrungen ihrer eigenen Klasse gelernt und die Früchte des Sieges, den sie selbst erfochten haben, nicht der Bourgeoisie überlassen werden, so hartnäckige, langwierige Kämpfe es kosten mag, sie sich selbst zu sichern. Erst dann wird sich die Prophezeiung unseres Freiligrath erfüllen, die in den gegenwärtigen Flitterwochen der russischen Revolution doch nur erst wie handgreifliche Ironie erscheint:
Sehr her doch ihr nach Westen!
Ein Volk noch in der Welt,
Das trotzig mit der festen
Stahlhand am Aufruhr hält!
Im fernen wüsten Osten
Der Freiheit Außenposten,
die schlagen jetzt die Schlacht,
Die heiß zurück sich wälzend,
Jedwede Fessel schmelzend,
Auch euch zu Freien macht.
Quelle: Mehring, Franz (1973 [1917]). Die russische Revolution. In: Franz Mehring. Politische Publizistik 1905 bis 1918. Gesammelte Schriften Band 15. Dietz Verlag Berlin 1973. S. 711-713