Marx-Marxismus-Marxisten

Aus der Bibliothek des russischen Marxisten G. Plechanov
Aus der Bibliothek des russischen Marxisten G. Plechanov Foto: Priv. Public Domain

Eine weitere Veranstaltung aus Anlass des Marx-Geburtstages fand im Rahmen der „Plechanov-Vorlesungen“ in St. Petersburg statt.

An der Konferenz „Marx-Marxismus-Marxisten“ waren die Russländische Nationalbibliothek/Plechanov-Haus, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Bereich Philosophische Probleme der Politik des Instituts für Philosophie der Russländischen Akademie der Wissenschaften beteiligt. Zeitgleich wurde in St. Petersburg eine Ausstellung unter dem Titel „Karl Marx: Bild und Symbol“ gezeigt.

Etwa 50 TeilnehmerInnen diskutierten an drei Tagen über die Bedeutung des marxschen Erbes heute. Auch diese Veranstaltung war, wie die Moskauer Konferenz, akademisch geprägt. TeilnehmerInnen aus Russland, Bulgarien, Japan, Moldava, Mexiko, Australien, der Ukraine, Großbritannien und Deutschland widmeten sich in ihren Beiträgen sowohl Fragen der historischen Einordnung des Marxismus in die geistigen und politischen Kämpfe der Zeit als auch solchen der Marx-Rezeption, der Persönlichkeit Marx‘ oder der Befassung Marx‘ mit Fragen der Entwicklung in Russland. Letzteres wurde auch in zwei Beiträgen behandelt, die sich auf die Arbeit an der MEGA stützten. Eine Sektion der Tagung war Beiträgen zur Rezeption Marx’ und die Situation von MarxistInnen in Westeuropa, Lateinamerika, Moldava, Rumänien und China gewidmet. Auch das Wirken von Wissenschaftlern, die auf die eine oder andere Art mit der marxschen Tradition verbunden sind, fand gesonderte Würdigung. Plechanov selbst, weiter Flerovskij (dessen Buch über die Lage der Arbeiter in Russland Marx sehr schätzte), L.G. Deitsch, der sich vom Volkstümler zum Marxisten entwickelte und dann zu den BegründerInnen der Gruppe „Befreiung der Arbeit“ (der ersten russischen sozialdemokratisch-kommunistischen Organisation) zählte, oder Pokrovskij, Lifschitz und Lukacs als Wissenschaftler bzw. Propagandisten der nachrevolutionären Zeit waren Gegenstand eigener Beiträge.

Das Problem der Übergänge

Der relativ kleine Rahmen der dreitägigen Veranstaltung ließ anders als bei einem großen Kongress mit parallel laufenden Gesprächsrunden offene Probleme in der Marx-Rezeption deutlicher hervortreten. In verschiedenen Ausdeutungen durchzog viele der Beiträge die Frage, wie man sich eigentlich Übergänge zwischen Stadien gesellschaftlicher Entwicklung vorzustellen habe; sind Kapitalismus und Sozialismus ein starres Nacheinander, war also der Realsozialismus kein Sozialismus? Die meisten der TeilnehmerInnen neigten dieser Meinung zu, ohne allerdings zu erklären, wie dann Übergänge überhaupt zu denken – und noch komplizierter – zu realisieren wären. Es wurde diskutiert, wo die Kriterien des Übergangs zu suchen bzw. wie sie zu formulieren wären. Hier spielte der Frage der „Nationalen Eigenheiten“ und dabei wiederum der Bezug auf China wie schon in Moskau eine große Rolle. Richtig ist fraglos, dass in China ein „nichtwestlicher“ Kapitalismus entsteht – wie übrigens auch in Russland, in der Türkei und in anderen Staaten. Allerdings blieben die Vorstellungen dazu, was dies bedeuten könnte, weitgehend undeutlich und spekulativ. Das Selbstbild der KP Chinas wurde als die Realität des Landes, der Einfluss der Partei als Einfluss des Proletariats gefasst. Angesichts der Dimensionen des Landes und der daraus zu erwartenden Widersprüche ist allerdings schon naheliegend, dass hier das künftige „revolutionäre Zentrum“ liegen könnte. Dies alles würde aber bedeuten, dass das von vielen TeilnehmerInnen vertretene Schema des starren Nacheinander von Kapitalismus und Sozialismus nicht aufgehen würde. In Beiträgen aus Lateinamerika wurde das Prozesshafte eines revolutionären Prozesses am Beispiel der Entwicklungen der Auffassungen Fidel Castros, der Diskussionen zwischen Castro und Allende und der Marx-Rezeption insgesamt demgegenüber in den Mittelpunkt gestellt. Auch Claeyes Gregory machte die Komplexität deutlich, indem er auf das Zusammenspiel der wirtschaftlichen und ökologischen Krisenprozesse, der Veränderungen der Technologien (vor allem der Roboterisierung) und der Wertevorstellungen thematisierte.

Was Marx betrifft verweist die Diskussion auf die Notwendigkeit, sich seine Briefentwürfe an Vera Sassulitsch und seine (wie auch Engels) späteren Studien und Schriften aufs Neue näher und vor allem unvoreingenommen anzusehen. Unter methodischen Gesichtspunkt, insbesondere bezüglich der Rolle der Produktivkräfte, der Veränderung des Menschen und seiner Beziehungen in Wechselwirkung mit technisch-technologischen Veränderungen im Zuge der fortschreitenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung, betrifft das auch den 1. Band des „Kapital“. Auch die schon erwähnten biographischen Darstellungen verwiesen auf das Zusammenspiel evolutionärer und revolutionärer, d.h. qualitativ-bruchhafter Momente im Übergang vom Kapitalismus zu einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Mit Bezug auf den Realsozialismus verweist die Debatte auf die bisher ungeklärte Frage, was Lenin wohl mit dem „ganz anderen“ Staatskapitalismus „unter der Diktatur des Proletariats“, dessen Theorie seiner Auffassung nach erst noch zu schaffen gewesen sei, eigentlich gemeint haben möge.

Gerade mit Bezug auf die eigene Geschichte fiel auf, dass ein dialektisches Herangehen als nötig deklariert, aber im gleichen Atemzug die Anerkennung der Widersprüchlichkeit des Geschichtsprozesses schwer viel. Einige TeilnehmerInnen versuchten, einen kritischen Blick auf die Nationalitätenpolitik, auf den Umgang mit Kirche und Religion oder auf die Hintergründe der Entstehung der Sowjets als Ausdruck der religiösen und sozialen Welt der Bauernschaft zu entwickeln. Dies stieß bei anderen TeilnehmerInnen auf spontane Ablehnung. Die Benennung von Widersprüchen wurde nicht als Herausforderung für künftige Politik, sondern als Angriff verstanden. Damit wird geschichtliches Handeln einer Kritik im marxschen Sinne entzogen und von den Folgen getrennt. Dann bleiben nur die Gegensätze „richtig-falsch“, „gut-schlecht“, „für uns-gegen uns“. Das Handeln wird mit dem Verweis darauf, dass es eben historische Gesetzmäßigkeiten gäbe als unhinterfragbar gesetzt.

Die Welt verändern – aber wie?

Auf diese Problemkonstellation in der Marx- (und Lenin-)Rezeption verwies V.N. Schevchenko als Vertreter des Instituts für Philosophie der Russländischen Akademie der Wissenschaften in einem der einführenden Beiträge wie auch in seinem Schlusswort. Er wählte die 11. Feuerbachthese (Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.) zum Bezugspunkt und betonte unter diesem Gesichtspunkt, dass das organisierte Subjekt einer politischen Theorie und des politischen Handelns unter den heutigen Bedingungen noch nicht bestimmt sei. In seinem abschließenden Beitrag betonte er dieses offene Problem nochmals und spitzte es zu: es sei bisher nicht gelungen, die Besonderheiten Russlands mit dem Marxismus zu verbinden. Das stehe durchaus in Verbindung damit, dass ein tatsächliches Gespräch zwischen den MarxistInnen verschiedener Regionen, genauer eine gegenseitige Bereicherung, noch unzureichend funktioniere.

Eine der Gemeinsamkeiten zwischen dem Marx-Diskurs in Russland und dem im „Westen“ ist damit benannt: die Suche nach dem Subjekt der Gesellschaftsveränderung. Diese Diskurse werden unter unterschiedlichen Bedingungen in unterschiedlichen „Sprachen“, Terminologien, geführt, berühren aber gemeinsame Probleme: die Veränderungen der Lohnarbeitswelt, neue soziale Schichtungen, neue kulturelle Herausforderungen und die Frage nach entsprechenden neuen Organisationsformen emanzipatorischen Handelns. Globalisierung und Unterschiedlichkeiten der sich in diesem Zusammenhang entwickelnden Kapitalismen bilden eine weitere Koordinate einer solchen gemeinsamen Diskussion. Für Marx war zentral, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse SELBST sein könne. Insofern kann die Bewegung nicht als nachträgliches Element in die Staatstheorie oder auch in die ökonomische Theorie eingefügt werden – oder diese auf sie angewandt werden – sie sei, so Schevchenko, selbst Moment sowohl der Theoriebildung, als auch der erforderlichen empirischen Basis. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Es ist zu hoffen, dass das Plechanov-Haus diesen Arbeitsauftrag annimmt und auch künftig dem von Schevchenko angemahnten Austausch Raum gibt.