Geschichte, Revolution und Macht

Sowjetische Briefmarke zum 49. Jahrestag der Oktoberrevolution Public Domain

Die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 waren weltweit Anlaß zu sehr unterschiedlichen Arten des Erinnerns. Die Veranstaltungen und Veröffentlichungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung haben einige interessante Reaktionen ausgelöst.

In einer Leserzuschrift an die jW vom 11./12. November 2017 wird einer Publikation der Rosa-Luxemburgstiftung unterstellt, sie würde „ein revisionistisches Bild von der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ verbreiten. https://www.jungewelt.de/artikel/322029.aus-leserbriefen-an-die-redaktio...

In einer mail an die RLS heißt es: „Herzlichen Glückwunsch zu der gelungenen Broschüre zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution. Ihr habt Euch schöpferisch an der antisowjetischen Propaganda von Göbbels bis Gorbatschow bedient. Ich denke, Ihr solltet Euch in Zukunft "Gustav Noske Stiftung" nennen, nach dem Bluthund der Novemberrevolution, der die Morde an Luxemburg und Liebknecht befahl, das passt besser zu Euren Publikationen.“ [Goebbels so in der mail geschrieben] In beiden Fällen ging es um die Kritik anderer nichtbolschewistischer Strömungen an der Politik der Bolschewiki und die Benennung der Millionen Opfer des Roten und des stalinschen Terrors.

In St. Petersburg meinten einige TeilnehmerInnen an der vom Moskauer Büro der RLS veranstalteten Konferenz aus Anlaß des Jubiläums der Oktoberrevolution „Ändere die Welt, sie braucht es“, dass die Deutschen mit ihrem kritischen Blick menschewistische Positionen vertreten würden.

Klaus-Peter Kurch („opablog“) kritisiert schließlich die Ausrichtung des Gedenkens an die Revolution 1917 generell: „Was nach meiner Übersicht bisher KEINE der Gedenkveranstaltungen geleistet hat, ist, erstens: den ‚Glutkern dieser Revolution‘ aufzudecken. Er besteht im Wechselspiel der Massen, die die Revolution brauchten, mit den bolschewistischen Führern, exemplarisch und unersetzbar Lenin. Und zweitens: im ‚Herausoperieren‘ dessen, was uns heute etwas lehren kann und im Ableiten heutiger Handlungsschritte.“

Die Interpretation des Jahres 1917 als Machtinstrument

Dass für viele Menschen ein im marxschen Sinne kritischer Blick unannehmbar ist, hängt auch damit zusammen, wie sich die Art des Gedenkens an das Jahr 1917 konstituierte und damit eine bestimmte Tradition der Bewertung der Ereignisse 1917/1918 begründet wurde.

Die Revolution(en) 1917 und insbesondere die Oktoberrevolution sind für agitatorische Verkürzungen und Mystifikationen besonders geeignet. Die Kanonisierung der Ereignisse setzte spätestens im Jahr 1924, unmittelbar mit dem Tode Lenins, ein. Die Rezeption der Revolution wurde zu einem Instrument der innerparteilichen Kämpfe und der Machtkämpfe bei der Formierung der internationalen bolschewistisch-kommunistischen Bewegung. Anstoß gab ein Aufsatz Trotzkis zu seiner Lesart der Oktoberrevolution „1917 - Die Lehren des Oktober“. (vgl. Trotzki, Leo 1975) Trotzki stellte dort unter anderem die Positionen derer, die im Oktober 1917 die bewaffnete Machtergreifung durch die Bolschewiki abgelehnt hatten, der Position Lenins gegenüber. Zu diesen Gegnern gehörten Grigori Sinovjev und Lev Kamenev, die dann in Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion weiterhin führende Positionen einnahmen. Sie selbst, aber auch Stalin reagieren auf die Broschüre Trotzkis mit einer Kritik unter dem Titel „Über ‚Lehren des Oktober‘“. (Sinovjev, G. et al. 1976) Die Texte Kamenevs waren Referate vor Partei-, gewerkschaftlichen und staatlichen Gremien aus dem Jahr des Erscheinens der Broschüre. Das Werk ist bemerkenswert, weil hier nicht nur auf verleumderische Weise ein innerparteilicher Streit ausgetragen wird, sondern vor allem die „Linie“ der Interpretation des revolutionären Prozesses 1917 und die Rolle verschiedener Personen fixiert werden. Die Zustimmung zu einer Interpretationsweise wird zur „Parteiräson“ und eine Abweichung als parteifeindlich denunziert.

In der gegen Trotzki gerichteten Schrift stellt Kamenev eine suggestive Frage, die bereits die ganze Problematik einschließt:

„Niemand hat das Recht sich diesem Streit [um die Interpretation des revolutionären Prozesses 1917] zu verschließen. Das ist die tiefgehendste Frage unseres eigenen Parteilebens und im Leben der Komintern. Soll die Partei empfehlen, auf trotzkische Art zu lernen, oder soll sie mit all ihrer Autorität das Proletariat vor den Schlussfolgerungen warnen, die Gen. Trotzki in seinen ‚Lehren des Oktober‘ zieht?“ (Sinovjev, G. et al. 1976, 4)

Es folgt eine lange substanzlose Beschimpfung Trotzkis, die hier nicht weiter interessiert, zumal er in seinem Text die Bedeutung der Erfahrungen des Oktober 1917 gar nicht in Frage stellte. Aber was lehnte Kamenev eigentlich als „trotzkische Art zu lernen“ ab?

Trotzki selbst beschreibt einleitend seine Intentionen und sein Herangehen so:

„Wohl kann darauf hingewiesen werden, daß es unmöglich sei, den Oktober zu studieren oder auch nur das Dokumentenmaterial herauszugeben, ohne alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwühlen. Aber eine solche Einstellung zu dieser Frage wäre schon zu kleinlich. Es versteht sich, daß die Meinungsverschiedenheiten im Jahre 1917 sehr tiefer Natur und durchaus keine zufälligen waren. Aber es wäre sehr kleinlich, wollte man jetzt, nachdem einige Jahre verstrichen sind, aus ihnen Waffen schmieden gegen diejenigen, die sich damals geirrt haben. Noch weniger zulässig wäre es aber, würde man wegen dieser untergeordneten Erwägungen persönlichen Charakters die wichtigsten Probleme des Oktoberumsturzes von internationaler Bedeutung verschweigen.“ (vgl. Trotzki, Leo 1975)

Trotzkis Ziel war es, mit Blick auf die Niederlagen der kommunistischen Bewegungen in Bulgarien und Deutschland ein Jahr zuvor die Erfahrungen der Oktoberrevolution aufzuarbeiten. Er wollte zeigen, dass man in Entscheidungssituationen handeln muss und Chancen nicht durch fruchtlose Debatten verschenken darf. Diese Sichtweise dürften seine Kontrahenten wohl geteilt haben. Er beschreibt, völlig im Einklang mit der leninschen Interpretation, die Revolution(en) 1917 als einen Weg von der Massenbewegung (Februar) zur „Parteiaktion“ (Oktober) – auch hier ist eine Differenz zu seinen Kritikern kaum auszumachen. Zudem findet die Auseinandersetzung nach dem Bürgerkrieg und nach der Niederschlagung des Aufstandes 1921 in Kronstadt statt. Trotzki hatte in diesen Kämpfen meisten konsequent leninsche Positionen bezogen und große Anerkennung in Armee und Partei errungen. Die Art der Polemik gegen ihn wird in den Augen unbefangener Leserinnen und Leser damit umso verwunderlicher. Freilich waren es eben Kamenev, Sinovjev und auch Stalin, die im Oktober 1917 gegen einen bewaffneten Aufstand, wie ihn Lenin forderte, auftraten. Das ist Teil der Geschichte und musste natürlich ausgesprochen werden. Aber Trotzki konstatiert allenthalben und dokumentiert die Debatte, ohne persönlich anzugreifen. Allerdings verfolgte er damit nicht ein in der Geschichtswissenschaft zu verortendes Ziel, vielmehr ging es um ein aktuelles Problem, die fortschreitende Bürokratisierung der Partei und die Rolle der freien innerparteilichen Diskussion. In seiner um den Jahreswechsel 1923/1924 geschriebenen Broschüre „Der Neue Kurs“, auf die Kamenev an anderer Stelle indirekt Bezug nimmt, kritisierte er die Arbeitsweise auch der „alten Bolschewiki“, zu denen eben Sinovjev, Kamenev und Stalin gehörten. (vgl. Trotzki 1997, 230f.)

Die Kritiker Trotzkis bedienen sich in ihrer Replik jedoch eines unredlichen Tricks. Sie polemisieren nicht etwa gegen die Darstellung ihres Handelns (also ihrer prinzipiellen Opposition gegen die Forderung Lenins nach einem Aufstand im Oktober 1917), sondern verschieben die Auseinandersetzung auf die Frage, ob Trotzki vor 1917 einer Meinung mit Lenin gewesen sei. Kamenev postuliert, dass der Leninismus als „Lehre über die proletarische Revolution“ im beständigen Kampf gegen Menschewismus und gleichzeitig Trotzkismus (Sinovjev, G. et al. 1976, 7) entstanden sei (zur Entstehung des Begriffs Leninismus vgl. Adolphi 2015, 1904ff.) und Trotzki von 1903 bis „zum Zusammenbruch des Menschewismus“ 1917 als „Agent des Menschewismus in der Arbeiterklasse“ figuriert habe. Er werde von Lenin in all seinen Werken der letzten 20 Jahre so behandelt.

Tatsächlich erfährt Trotzki allerdings mit seinem Eintritt in die Bolschewistische Partei und seinem Handeln im 2. Halbjahr 1917 bei Lenin eine Umbewertung; und seine Rolle im Zeitraum September-November 1917 qualifiziert ihn eindeutig zum Gegner des Menschewismus. Für Lenin war Trotzki 1922 „der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK“, wenn auch mit einem „Übermaß von Selbstbewußtsein und eine(r) übermäßige(n) Vorliebe für rein administrative Maßnahmen“ (Lenin 1962, 579) Von Menschewismus keine Rede.

Die generalisierende Aussage Kamenevs ist Unsinn und lediglich darauf berechnet, dass damals kaum jemand alle Werke Lenins der letzten 20 Jahre gelesen haben dürfte, und schon gar nicht unter diesem Gesichtspunkt.

Wichtiger ist, dass diese Phrase den Auftakt zu einer ungeheuerlichen Verengung des Geschichtsbildes, die wiederum nichts mit Trotzki zu tun hat, darstellt:

„Jeder, der die Geschichte der Partei entlang der Werke Lenins studiert – und wir haben hinsichtlich Inhalt und Schlussfolgerungen kein besseres, tiefergehendes und reicheres Lehrbuch und werden das auch nicht haben – wird sich unausweichlich davon überzeugen, dass...“ Trotzki für Lenin ausschließlich(!) ein Agent des Menschewismus war. (Sinovjev, G. et al. 1976, 7f.)

Wesentlich ist hier der Teil des Satzes, der eine Vorgabe dazu, wie Geschichte heute und(!) zukünftig zu studieren sei („und werden das auch nicht haben“), macht. Es werden eine Lesart der Revolution und ein Blickwinkel vorgegeben. Zudem wird das Abweichen von einer sich auf die „Werke Lenins“ stützenden Geschichtsbetrachtung unter den Generalverdacht des „Menschewismus“ gestellt.

Der Bolschewismus selbst macht in der Darstellung Kamenevs in der Zeit zwischen den Revolutionen 1905 und 1917 gar keine Entwicklung mehr durch – auf wundersame Weise häuft er Weisheit an, es gibt keine Suche, keine Unsicherheit, keine Diskussionen um Erfahrungen – allein Lenin arbeitet kraft seines Intellektes den Masterplan der Revolution aus. Kamenev schreibt:

„Der Leninismus ist in seiner Gesamtheit und vollständig, ohne Korrekturen, die Theorie der proletarischen Revolution.“ (ebd., 55)

Weder wird der Blickwinkel der „Massen“ eingenommen, die die Revolution vollbrachten, noch die Partei als kollektiver Akteur reflektiert. Kamenev behauptet vielmehr ausschließlich das Handeln der Massen durch eine Person, genauer durch die veröffentlichten Äußerungen dieser Person. Daraus entsteht ein doppelter Filter – Lenin selbst und die Redakteure der Lenin-Werke. Es ist so nicht einmal Lenin selbst, sondern ein fiktiver Lenin, der Maßstab geschichtlicher Wahrheit sein soll. Genau genommen wird die bei Trotzki auftauchende „Parteiaktion“ zur „Apparateaktion“ umgeschrieben.

Anders bei der noch heute sehr lesenswerten Chronik von Nikolai Suchanov zur Russischen Revolution. Diese nimmt eben die Vielfalt der Tendenzen auf und beschreibt hervorragend die Vielschichtigkeit der Interessen im Jahre 1917 – besser als es Lenin je hätte tun können. Der reagierte im Übrigen auch sehr allergisch, als Suchanovs Chronik 1921 erstmals erschien (Lenin 1977). Eine Passage schien ihn besonders gestört zu haben, nämlich die Kritik an den Bolschewiki und namentlich an seinem „Brief an die Genossen“, in dem er die Notwendigkeit des Aufstandes zu begründen versuchte. Suchanov bezeichnete den Brief als „nichtssagend“, wobei er, offensichtlich ohne es selbst zu merken, den Schritt zum Aufstand in seiner Polemik als legitim beschreibt. (Suchanov 1967, 605ff.) Das Buch blieb in der Sowjetunion trotz Lenins Kritik bis Ende der 1920er Jahre fester Bestandteil des literarischen Kanons zur Revolution 1917.

Geschichtsbild „ohne Korrekturen“?

Aber zurück zum Jahr 1924. Nach der Darstellung der vielfältigen Kämpfe zwischen Lenin und Trotzki vor 1917 greift Kamenev die Äußerung Trotzkis auf, dass er sich Lenin „im Kampf“ genähert habe. (vgl. Trotzki 1997, 258 bzw. Sinovjev, G. et al. 1976, 33) Trotzki beschreibt hier seinen Weg zum Bolschewismus als „robust und solide“. Seine Darstellung der Jahre vor 1917 zeigt, dass er sich den Bolschewismus in Auseinandersetzung aneignete, und nichts anderes bedeutet seine von Kamenev nun wiederum diskreditierend genutzte Floskel, dass er sich dem Bolschewismus im Kampf genähert habe. Dann macht Kamenev einen demagogischen Zug – er meint, dass diese Sicht auf die eigene Entwicklung falsch sei, es gehe darum, seine Fehler zu er- bzw. zu bekennen, wenn man aus einer anderen Strömung zu den Bolschewiki komme, und bezieht sich dabei auf die ehemaligen SozialistInnen, RevolutionärInnen und Menschewiki in den Reihen der Kommunistischen Partei. (vgl. Sinovjev, G. et al. 1976, 34) (Viele werden dann wie auch Kamenev selbst Opfer des stalinschen Terrors.) So reiht sich ein Dogma an das andere.

Angesichts der vielen „Korrekturen“, die Lenin allein zwischen 1921 und 1923 an seinen Vorstellungen des nachrevolutionären Aufbaus vornimmt, ist das ein Herangehen, das auf offene Geschichtsverfälschung hinausläuft. Schon auf dem X. Parteitag der KPR(B) 1921 stellt Lenin praktisch die gesamte Tätigkeit des ZK zur Disposition (vgl. Lenin 1961, 170f.):

„Von diesem grundlegenden Umstand, der eine ganze Reihe von Fehlern bedingt und die Krise verschärft, möchte ich dazu übergehen, wie in der Arbeit der Partei und im Kampf des gesamten Proletariats eine ganze Reihe noch einschneidenderer Mißverhältnisse, Fehler der Berechnung oder des Plans zutage getreten sind - und nicht nur Fehler des Plans, sondern auch Fehler bei der Bestimmung des Kräfteverhältnisses zwischen unserer Klasse und denjenigen Klassen, mit denen unsere Klasse über die Geschicke der Republik zu entscheiden hat, indem sie mit ihnen zusammenarbeitet, sie aber manchmal auch bekämpft. Von diesem Standpunkt ausgehend, müssen wir uns den Ergebnissen des Erlebten, den politischen Erfahrungen und dem zuwenden, worüber das ZK, da es ja die Politik geleitet hat, sich klarwerden und was es der gesamten Partei klarzumachen suchen muß. Das sind so verschiedenartige Erscheinungen wie der Verlauf unseres Krieges mit Polen, die Lebensmittel- und die Brennstofffrage. Bei unserer Offensive, bei unserem allzu raschen Vormarsch fast bis vor Warschau, ist zweifelsohne ein Fehler begangen worden. Ich will jetzt nicht untersuchen, ob das ein strategischer oder ein politischer Fehler war, denn das würde zu weit führen. Ich glaube, das soll man künftigen Geschichtsschreibern überlassen; diejenigen aber, die in schwerem Kampf weiterhin alle Feinde abwehren müssen, haben anderes zu tun, als sich mit Geschichtsforschung zu befassen. Jedenfalls liegt aber ein Fehler vor und dieser Fehler wurde dadurch hervorgerufen, daß wir das Übergewicht unserer Kräfte überschätzt hatten.“ (ebd., 171)

Scheinbar stellt Lenin damit alles in Frage, was die bolschewistische Partei bis dahin getan hatte. Gleichzeitig aber nimmt er auf gewisse Art Kamenevs Diktum vorweg. Er gibt hier auch eine Sicht auf Geschichte vor, die verhängnisvoll ist – und dieser Gesichtspunkt wird in der Rezeption das Beherrschende. Noch einmal:

„Ich will jetzt nicht untersuchen, ob das ein strategischer oder ein politischer Fehler war, denn das würde zu weit führen. Ich glaube, das soll man künftigen Geschichtsschreibern überlassen; diejenigen aber, die in schwerem Kampf weiterhin alle Feinde abwehren müssen, haben anderes zu tun, als sich mit Geschichtsforschung zu befassen.“

Dieser Satz hat in fataler Weise Geschichte geschrieben. Ja, es wurden Fehler gemacht – egal, wir schreiten vorwärts, die Analyse sei eine Sache der Historiker, nicht der Partei…. – offen bleibt, wie diese Fehler das, was „vorwärts“ heißt, in der Sicht der Handelnden (nicht des Führers Lenin) veränderte. Der Satz verdeckt also die Folgewirkungen und die eigene Verantwortung. Diese Logik „wir haben anderes zu tun“, bleibt auch bestehen als der Bürgerkrieg vorbei ist, und sie ist über Jahrzehnte eine Begründung von Funktionären, eben nicht über Fehler bzw. Widersprüche öffentlich zu diskutieren. Es wird ein beständiger „Ausnahmezustand“ suggeriert, der sich mit Lenins These von der ständigen Zuspitzung des Klassenkampfes NACH dem Sieg der Revolution hervorragend ergänzt.

Die Erzählung der Revolution 1917 wandelt sich schon sieben Jahre später von der Erzählung der Massen in eine Erzählung eines in der Tat fiktiven Lenin FÜR die Massen. Damit kann natürlich jeder beliebige Funktionär, jede beliebige Person, jedes beliebige Ereignis durch die Kompilation von Lenin-Zitaten aus dem Geschichtsbild eliminiert werden – wie das dann ab 1927 auch mit Kamenev und Sinovjev passieren wird. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass beide nur zwei Jahre, nachdem sie mit ihrer Textsammlung versuchten, Trotzki zu diskreditieren, in der gleichen Weise selbst Opfer einer denunziatorischen Geschichtsbetrachtung wurden. Die entsprechende 1927 anonym erschienene Broschüre trägt den Titel „Kamenev und Sinovjev im Jahre 1917: Fakten und Dokumente“. Das Muster wird sich gleichen: Die Broschüre wird die Kontroverse zwischen ihnen und Lenin zwischen Februar- und Oktoberrevolution dokumentieren. Die Aussage wird ähnlich sein, wie die ihrer Broschüre gegen Trotzki: sie irrten damals und konnten ihre Irrtümer nicht überwinden – einmal Feind, immer Feind. (Kamenev/Sinovjev 1927)

Kamenev und die anderen Autoren der Broschüre begründen anknüpfend an Lenin ein Konzept der Erstarrung und der Selbstverleugnung (Meinungen, die von denen der oberen Hierarchiestufen abweichen, sind nicht nur falsch, sondern grundsätzlich – bis zum meist nicht möglichen Beweis des Gegenteils – auch feindlich; Annäherung und Kooperation ist nur als demonstrative Unterwerfung möglich); damit werden zu diesem Zeitpunkt (und eben nicht erst unter Stalin) die Normen parteilichen Verhaltens gesetzt, die die bolschewistisch-kommunistische Strömung Ende der 1980er Jahre als Weltbewegung in den Untergang treiben werden. Die Revolution 1917 wurde nicht einfach von Stalin verraten. Die Art und Weise des Handelns der Bolschewiki und Lenins in der Revolution und danach, vor dem Aufstieg Stalins, gehören genauso zu den Ursachen für die Entstehung des mit dem Namen Stalin verbundenen Typs von Partei und Gesellschaft.

Sinovjev, Kamenjev, Bucharin und Trotzki bleiben trotz der Kritik an ihnen bis zum Ende der 1920er Jahre und teilweise darüber hinaus geachtete Funktionäre, ihre Werke werden verlegt, ihre Artikel gedruckt, aber was haften bleibt und ihre Ermordung mit vorbereitet, sind die propagandistischen Auftritte in den Parteiversammlungen, wie das hier kurz referierte Beispiel. Halbwahrheiten, Verkürzungen, Unterstellungen, Vermischung charakterlicher Eigenheiten mit Differenzen in der Gesellschaftsanalyse und tatsächlichen politischen Fehlern und die Umdeutung „abweichender“ Meinungen in Feindbilder – all das sind Merkmale einer politischen Kultur, die eben auch mit dem Namen Lenin und mit dem Verhalten späterer Opfer des stalinschen Terrors verbunden sind.

Es ist verständlich, dass der schmerzende Widerspruch zwischen der inspirierenden und aktivierenden Wirkung der Revolutionen 1917 und der ihr folgenden Verengung der Geschichte dieses großen Ereignisses nur schwer zu ertragen ist. Die Augen davor zu verschließen oder gar die Widersprüche des revolutionären Prozesses zu leugnen, ist aber der tatsächliche Verrat an der „Sache des Oktober“.

Warum die Art des Revolutionsgedenkens nicht gleichgültig ist

Um zu verstehen, was man für das Heute lernen kann, muss man immer auch prüfen, ob die Grundlagen für frühere Urteile, auf die man sich ja meist bezieht, noch gegeben sind. Eine Reihe von Veranstaltungen und Publikationen im Umfeld des 7. November nahm Sichtweisen, wie sie in der bolschewistisch-kommunistischen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre benutzt wurden, zum Maßstab der Positionen politischer Kontrahenten. Man lenkte den Blick in erster Linie auf Lenin und die Bolschewiki. Das Bild ist eindeutig: Lenin sei seinen Weg gradlinig gegangen, die anderen seien ihm gefolgt und wer das nicht tat, war Verräter. Die pure Existenz der „Sowjetmacht“ schien diese Sicht mehr als siebzig Jahre zu begründen. Spätestens mit dem Zerfall der UdSSR 1991 aber, eigentlich sogar schon mit dem Ausbruch des Krieges zwischen den Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan 1988, entfiel diese Rechtfertigung. Das hindert jedoch nicht wenige Linke bis heute daran, die genannte Lesart der revolutionären Prozesse 1917/1918 zum Bezugspunkt zu nehmen. Die „Entartungen“ würden in der Zeit „danach“, vornehmlich bei Stalin liegen. (vgl. z.B. marx21 2017)

Aber wie entstand eigentlich diese Art des Umgangs mit diesem Ereignis? War es der von Kurch angenommene „Glutkern“, das Verhältnis zwischen den Massen und Lenin, von dem die nachhaltigen Wirkungen ausgingen? Warum scheint es wichtig, eine Sache zu feiern und dabei jede Benennung von Widersprüchen als Sakrileg zu brandmarken? Keiner der heute Lebenden war an den historischen Prozessen beteiligt, kann von dem „wirklichen“ Geschehen Zeugnis ablegen oder ist für die Ereignisse verantwortlich.

Unser Bild dieser Vergangenheit entsteht aus den Berichten von Beteiligten, die aber zumeist befangen sind durch eigene Interessen an einer bestimmten Interpretation der Ereignisse und die oft auch nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens wahrnehmen konnten. Das ist völlig normal – so könnte man sich doch ruhig zurücklehnen und unvoreingenommen auf die Stärken und Schwächen der historischen Protagonisten blicken und überlegen, warum das alles so und so oder schief gegangen ist und welche Konsequenzen sich daraus für die Zukunft ergeben würden. Wir leben doch mit den Konsequenzen des Handelns unserer Altvorderen! Dabei spielt es keine Rolle, ob dieses Handeln in dem damals noch offenen historischen Prozess unausweichlich erschien oder es auch tatsächlich war, oder ob hinter diesem Handeln Irrtum und Versagen standen. Man kann sie verleugnen, aber seiner Geschichte nicht entgehen, man steht einfach auf deren Boden und ist von ihr durch gesellschaftliche Überlieferung geprägt – über Biografie, Familie, LehrerInnen, FreundInnen …

Eine Sicht auf Geschichte zu verändern, bedeutet also immer auch, die Positionen derer, die sie einem vermittelt haben, in Frage zu stellen. Das kann im Extremfall auch die eigene Person betreffen, soweit man aus heutiger Sicht nicht mehr aufrecht zu erhaltene Positionen vertreten hatte. Die marxsche Forderung, Prozesse in ihrer Totalität – von den Bedingungen ihres Werdens über ihre Entfaltung bis in ihren Untergang – wahrzunehmen (vgl. Marx 1983, 203), führt dem Wesen der Sache nach zu anderen Konsequenzen für die eigene Stellung in der Gesellschaft und für das künftige Handeln, als wenn man nur die Errungenschaften der Aufstiegsphase bspw. des Realsozialismus betrachtet und dabei zugleich die negativen, antiemanzipatorischen Tendenzen als zu vernachlässigende Fehlergrößen auslässt. Wenn sich neues Wissen um geschichtliche Ereignisse eröffnet oder wenn die Praxis zeigt, dass die Beurteilungen des Ereignisses falsch waren, dass das die gesellschaftliche Überlieferung fehlerhaft oder bewußt verfälscht wurde, hat das Konsequenzen für die Beurteilung des eigenen Werdegangs, für den Werdegang der eigenen Generation. Damit stellt sich die Frage nach aktuellen politischen Bündnissen, aber auch die nach persönlichen Beziehungen neu. Auf die Oktoberrevolution trifft dies in spektakulärem Maße zu: ein welterschütterndes Ereignis bei ihrem Ausbruch 1917 wie auch bei beim Zusammenbruch des aus der Revolution hervorgegangenen Realsozialismus 1989/91. Eine Erfolgsgeschichte mündete in eine lähmende Stagnation und dem gescheiterten Versuch, aus der Sackgasse auszubrechen.

Wir haben es mit zwei einander gegenüberstehenden Tendenzen zu tun: auf der einen Seite dienen Ereignisse, wie die Oktoberrevolution, als Projektionsflächen für die eigene Identität, ggf. auch der Überhöhung der eigenen Rolle oder der eigenen Fähigkeiten. Das historische Ereignis wird analog zum eigenen Handeln; die Identifizierung mit historischen Protagonisten, etwa Lenin, zur Berechtigung, eine entsprechende Position einzunehmen. Clara Zetkin überlieferte uns eine diesbezügliche Charakteristik einiger Spitzenfunktionäre der KPD aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre: Je fragwürdiger ihre Fähigkeiten, desto mehr meinten sie, die Reinkarnation des großen Lenin zu sein. (vgl. Reuter et al. 2003, 38)

Jeglicher kritische (oder auch nur etwas mehr hinterfragende) Ansatz gerät in einer solchen Atmosphäre schnell in den Verdacht des Verrates eines letztlich diffusen Erbe des „Roten Oktober“, das tatsächlich aber meist nur Verkleidung eigener Meinungen zu aktuellen Auseinandersetzungen ist. Natürlich kommen da dann auch persönliche Schwächen, etwa das „unbedingt Recht haben wollen“ hinzu. Daran binden sich meist kaum zielführende „Was-wäre-wenn“-Diskussionen, bspw. was passiert wäre, wenn Lenin sich in der Frage des Aufstandes im Oktober 1917 oder Stalin sich in der Frage des Abbruches der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) nicht durchgesetzt hätten. Diese Fragen sind nicht beantwortbar, hätten sie sich doch auf Ereignisse und Geschehen in einem dann völlig anderen gesellschaftlichen Umfeld bezogen. Jede dieser Entscheidungen hat ihre eigene Geschichte. „Rückwärtslegitimationen“ in der Art, dass ohne Zwangskollektivierung Hitler den Krieg gewonnen hätte, Millionen Tote der Stalin-Ära also hinzunehmen seien und die Geschichte die Richtigkeit dieser Schritte bewiesen habe, sind schlichtweg spekulativ und unsinnig. Geschichte als Wissenschaft hat nicht die Funktion, heutiges Handeln bzw. Traditionen zu legitimieren, sondern verständlich zu machen.

Auf der anderen Seite kann man Ereignisse als Anlass zur Frage nach dem „WIE Weitergehen“, nach dem „WIE Handeln“ nehmen. Das verschiebt den Fokus weg von Personen und ihren Organisationen hin zu den Verhältnissen, unter denen Akteure handeln und wie diese verschiedenen Handlungen im Zusammenhang stehen. Es geht nicht nur darum herauszufinden „Was tat Lenin“ (das ist natürlich elementar), sondern zu ergründen, „Warum handelten andere, wie Lenin vorschlug“; oder auch „Wie haben sie sich Lenins Vorschläge zu eigen gemacht“ und „Wie hat Lenin ihr Handeln verstanden“. Das Nachvollziehen dieser Interaktionen, nicht die Aktion an sich, macht historische Prozesse interessant und lässt sie zu uns sprechen. Damit wird Geschichte auch der Kritik zugänglich. Den Bauern-Soldaten, die die Oktoberrevolution unterstützten, ging es nicht um den Sozialismus, sie wollten einfach nach Hause und das Land, das sie sich in den Monaten zuvor aus dem Gutsbesitz schon angeeignet hatten, bestellen. Der „Glutkern“ der Revolution war nicht das Verhältnis der Massen zu Lenin, sondern das Wollen der Massen, endlich anders zu leben und als Menschen geachtet zu werden. Diese „Glut“ wird im Februar entfacht, nicht erst im Oktober. Damit sind aber der sozialistische Charakter der Revolution oder wenigstens ein plattes Verständnis des Sozialistischen in dieser Revolution schlichtweg in Frage gestellt. Zweifelsfrei war es eine „große Revolution“, wenn man sie mit dem Februar gemeinsam betrachtet: erstmals verlassen Menschen in dieser Art ihnen zugewiesene Rollen. Dieser prinzipielle Bruch und die damit geschaffene MÖGLICHKEIT praktischen Sozialismus, machen die Attraktivität des Oktober aus. Ihre weltweite inspirierende Wirkung zieht sie nicht aus den Details, sondern aus diesem Moment des Erfolges. Dass dies dann auf Persönlichkeiten wie Lenin oder Trotzki sowie Gruppierungen, wie die Bolschewiki, zurückgespiegelt wird, dass die Aktion der Massen unmittelbar mit dem der RepräsentantInnen der Bewegung verknüpft und auch verwechselt wird, ist eine Eigenart des historischen Gedächtnisses. Die Revolution und die Durchsetzung eines bestimmten Verständnisses von Sozialismus, in diesem Fall der Bolschewiki, sind nicht linear verknüpft. Eine „sozialistische Gesamterwartung“, wie sie sich etwa mit der Forderung nach gesamtgesellschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln oder soziale Gerechtigkeit verband bzw. verbindet sagt noch nichts über den Weg und die Form. Die Bolschewiki und Lenin standen für einen der möglichen Wege, der sich als Sackgasse erwies. Eine kritische Betrachtung des Handelns der Personen, z.B. Lenins, ist in einer solchen Lesart keine Herabminderung ihrer historischen Rolle. Sie stellt immer „nur“ die frühere Interpretation seines Handelns in Frage, ist also im günstigsten Falle Selbstkritik der Bewegungen. Der Haß auf Gorbatschow resultiert daraus, dass er die Illusion der Unfehlbarkeit zerstörte indem er sich zu der Verantwortung der bolschewistisch-kommunistischen Bewegung bekannte. Indem er den marxschen Anspruch „Die Emanzipation der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein“ wieder in seine Rechte setze, stellte er das Selbstverständnis und teilweise auch das Handeln von Generationen von KommunistInnen in Frage – allerdings schon zu einem Zeitpunkt, zu dem die Massen dies auch schon taten – noch nicht durch Aktion, aber schon durch Passivität.

 

Quellen und zum Weiterlesen

Adolphi, Wolfram (2015). Marxismus-Leninismus Haug, Wolfgang Fritz/Haug, Frigga/Jehle, Peter/Küttler, Wolfgang (Hrsg.):, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus Band 8/II, 1901–1937

Kamenev, Lev B./Sinovjev, Grigorij E. (1927). Kamenev i Sinovjev v 1917 g. : fakty i dokumenty S., Vl. (Hrsg.):, Moskva [u.a.]: Moskovskij Rabočij

Lenin, W.I. (1962). Brief an den Parteitag, in: W.I. Lenin Werke Band 36 1900-1923, Berlin: Dietz Verlag, 577–596

Lenin, W. I. (1977). Über unsere Revolution (Aus Anlaß der Aufzeichnungen N. Suchanows), in: W.I. Lenin Werke Bd. 33 August 1921-März 1923, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 462–467

Lenin, W. I. (1961). X. Parteitag der KPR(B): Bericht über die politische Tätigkeit des ZK der KPR(B), in: Lenin Werke Bd. 32 Dezember 1919 - August 1921, Berlin: Dietz Verlag, 168–191

Marx, Karl (1983). Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (Rohentwurf) 1857-1858, in: Karl Marx Friedrich Engels Werke Bd. 42, Berlin: Dietz Verlag Berlin

marx21 (2017). Rußland 1917: Warum Stalin die Revolution verraten konnte, in: marx21, abrufbar unter: https://www.marx21.de/1917-stalin-stalinismus-aufstieg-macht/ (letzter Zugriff: 22.12.2017)

Reuter, Elke/Hedeler, Wladislaw/Helas, Horst/Kinner, Klaus (2003). Luxemburg oder Stalin. Schaltjahr 1928 - Die KPD am Scheideweg. Eine kommentierte Dokumentation, Berlin: Karl Dietz Verlag

Suchanow, N.N. (1967). 1917: Tagebuch der russischen Revolution, München: R. Piper&Co. Verlag.

Trotzki, Leo (1975). 1917 - Die Lehren des Oktober, in: Wolter, Ulf (Hrsg.): Die linke Opposition in der Sowjetunion 1924-1925, Die linke Opposition in der Sowjetunion 1923-1928. Olle&Wolter, 192–251, abrufbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1924/lehren/index.htm

Trotzki, Lew (1997). Der Neue Kurs, in: Dahmer, Helmut/Feikert, Wolfgang/Lauscher, Horst/Segall, Rudolf/et al. (Hrsg.): Leo Trotzki. Schriften 3. Linke Opposition und IV. Internationale. Band 3.1 (1923-1926), Hanburg: Rasch und Röhring, 209–314

Sinovjev, G./Kamenev, L./Kviring, E./Kuusinen, O./et al. (1976). Ob „urokach Oktjabrja“, Leningrad: Rabočee Izdat. „Priboj“