Es war einmal ...

Es war einmal ein kalter, kalter Winter – so könnte ein klassisches Märchen beginnen. Dies hier ist keines, jedenfalls kein klassisches, denn es nimmt, wiewohl es darin um große Hoffnungen geht, kein gutes Ende – vielmehr war es der Anfang vom Ende jeder zivilisatorischen Räson, markiert es doch zugleich das Erstarken jener Kräfte, die die Weimarer Republik von Beginn an zersetzten und den Nationalsozialisten den Boden bereiteten.

Das Wintermärchen, von dem Ralf Höller in seinem gleichnamigen Buch (dessen Titel denn auch eher auf Heine rekurriert als auf die Grimmschen) so spannend – und, gut gewählt, im ›historischen Präsens‹ – zu berichten weiß, dass man sich in einen Politkrimi versetzt glaubt (der das Ganze ja auch teilweise war), trug sich nämlich 1918/19 im schönen Bayern zu – und in München, seinem Zentrum. Dort war es um die Zeit nicht nur kalt, sondern zugleich sehr heiß: Es wurde ›Geschichte gemacht‹ und scharf geschossen, sowohl ideologisch als auch realiter.

»Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik«, lautet der Untertitel dieses Reports/Rapports der Ereignisse, über die Rainer Maria Rilke in der ihm eigenen zartbitterbesaiteten Illusionslosigkeit notierte: »Einen Augenblick hoffte man«.

Tage dauerte dieser ›Augenblick‹, in einer Zeit großer politischer Umbrüche, entscheidenden politischen wie gesellschaftlichen Kräftemessens. Der Erste Weltkrieg war (eigentlich) an seinem Ende, aber doch noch nicht beendet; die Monarchie war an ihrem Ende, hob aber doch noch die matte Winkhand. Die ›Bevölkerung‹, Arbeiter, Soldaten, Bauern, kleine Leute, des Krieges so müde wie der sozialen Not, ersehnte Veränderung, setzte ihre Hoffnungen in neue, revolutionäre politische Kräfte. »Es ist eine Revolution des Volkes, nicht der Eliten«, schreibt Höller in seinem Vorspann.

Diese neuen Kräfte – Sozialdemokraten, Sozialisten, Kommunisten, Spartakisten, Anarchisten – waren indes schnell uneins, spalteten sich in gemäßigte und radikale Lager. Mittendrin Künstler, Schriftsteller, Dichter, Journalisten. Kurt Eisner (zu der Zeit 51), ehemaliger Redakteur der SPD-Zeitung Vorwärts, Oskar Maria Graf (24), Gelegenheitsarbeiter und angehender Schriftsteller, Erich Mühsam (40), anarchistischer Aktivist. Ernst Toller (25), Student und Friedensaktivist, Lion Feuchtwanger (34), zu der Zeit noch »mäßig erfolgreicher« Dramatiker, Ret Marut (36, besser bekannt unter seinem späteren Pseudonym B. Traven), anarchistischer Publizist. Die Brüder Heinrich Mann (47) und Thomas Mann (43), der eine schon berühmt als Verfasser des Romans Der Untertan, der andere mit dem Zauberberg auf dem Weg zum Ruhm. Victor Klemperer (37), Romanist mit Lehrauftrag an der Universität München, Rainer Maria Rilke (43), Dichter »in einer Schaffenskrise«. Und weitere Persönlichkeiten mehr, die »sich zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort kaum in der Politik wiedergefunden« hätten.

Aus ihren, besser: mithilfe ihrer Perspektive(n), schildert Höller die Turbulenzen dieser von Aufbegehren, Aufruhr, Revolution geprägten Tage, an deren Beginn so große Erwartungen standen und an deren Ende fragwürdige Kompromisse (etwa der SPD mit den völkisch-nationalistisch gesinnten rechten Freikorps) obsiegten, die zuletzt nicht unwesentlich dazu beitrugen, jene Kräfte zu stärken, die der Weimarer Republik schon von Beginn an den Garaus zu machen trachteten. So wurde aus der »Revolution des Volkes« zuletzt doch wieder eine der »Eliten« bzw derer, die sich dafür hielten; statt der Revolution obsiegte die Reaktion: mit den bekannten verheerenden Folgen. »Ein genarrtes Volk gehorchte als sein eigener Henker den Befehlen, die ein Hut voll toll gewordener Idioten, Oberste Heeresleitung‹ genannt, ihm erteilte«, schrieb Annette Kolb über den Weltkrieg I. Was danach kommen sollte, spottete selbst dieser bitteren Erkenntnis.

Es ist nicht dieser historische Rückschluss allein, der Höllers Buch so fesselnd macht, es ist die Art, wie Höller von der Atemlosigkeit und den allenthalben greifbaren Spannungen dieser Zeit berichtet, wie er die dramatis personae auftreten lässt, zitiert, skizziert, porträtiert in ihrem Bezug zum Geschehen. Wann einmal haben deutsche Dichter, Künstler, Publizisten so nah am politischen Geschehen gestanden, sich so direkt, so tätig eingemischt darein? Es ging ja nicht um ›Wahlkampf‹, es ging um Gemengelage. Es ging um Revolution, um große Veränderung. Um große soziale Verwerfungen, um große Ideen dagegen.

(Wer von diesen Dichtern steht eigentlich im curricularen Lesekanon? Rilke, der Schöngeist mit guter Witterung, Heinrich Mann, des Thomas ›kleiner Bruder‹, dessen Untertan heute gesellschaftlich lebendiger ist, als die Buddenbrooks es je waren? Mühsam, Graf, Toller?)

Es ist dem Historiker Höller eine vorzügliche Zeitreportage gelungen: Spannung mit Ploetz-Qualität, bei allem Faktenreichtum auch noch süffig zu lesen ist. Höller erzählt überaus lebendig und erlaubt sich gern einmal Spitzen, etwa zu einem gänzlich missglückten öffentlichen Auftritt des Heißsporns (und Weiberhelden) Graf: »Für den Rest des Jahres beschließt Graf, lieber zu schweigen. Anstelle der Politik gibt er sich Mirjam hin, die aus Berlin zurück ist.« Dass Thomas Mann, der Bourgeois, ebenfalls sein Fett wegkriegt, versteht sich. Geschieht ihm in diesem Zusammenhang recht.

Ralf Höller: Das Wintermärchen. Schriftsteller erzählen die bayerische Revolution und die Münchner Räterepublik 1918/19. Edition Tiamat 2017, 287 S., 20 Euro

(Erstmals erschienen bei schnüss. Das Bonner Stadtmagazin, Heft 12/2017)