Ein blutiger Sommer des Lernens

Kerenski in Moskau Juni 1917
Kerenski in Moskau Juni 1917 Foto: Alexey Ivanovich Savelyev [Public domain], via Wikimedia Commons Public Domain

Die Weichenstellungen des Sowjetkongresses und auf der militärischen Seite die Kerenski-Offensive setzten eine völlig neue Dynamik in Gang: War bisher vor allem die Provisorische Regierung Ziel des Unmutes der Massen gewesen, verlagerte sich dieser Unmut nun zunehmend auf den Sowjet und seine Repräsentanten. (Suchanow 1967, 427f.) Neben die militärische Krise (am 19. Juli bricht die Front bei Tarnopol zusammen) trat immer brutaler die wirtschaftliche und soziale. (vgl. Trotzki 2010, 14f.) Damit musste sich auch die politische Landschaft neu gruppieren.

Zwischen dem 16. und 22. Juli kommt es zu Massenaktionen unter der Forderung „Alle Macht den Sowjets“. Die Unzufriedenheit hat noch keine Richtung. Zwar sind die Bolschewiki inzwischen als Opponenten der Regierung und Sprachrohr der Massen anerkannt, aber führen können sie die Massen noch nicht. Auch handeln sie keinesfalls einheitlich – einige unterstützen einen Kurs auf sofortigen Sturz der Provisorischen Regierung, andere, wie Lenin, nicht. Diese Gemeingelage allgemeiner Orientierungslosigkeit führt zu den chaotischen Tagen zwischen dem 16. und 22. Juli, die dann als „Putschversuch der Bolschewiki“ bezeichnet werden und in deren Folge die Bolschewiki in die Illegalität gedrängt werden. Neben die Behauptung, die Bolschewiki hätten die Unruhen organisiert tritt die Behauptung, sie seien deutsche Agenten. Obwohl die Suche nach deutschen Agenten zu dieser Zeit „normal“ ist und sich so diese Behauptung in eine bestimmte Lesart der Ereignisse „von oben“ einordnet, wird sie für die Bolschewiki existenzbedrohend. Auch unter den Soldaten und Matrosen, die ihnen folgen, ist der Gedanke des Verrates an die Deutschen unerhört. Das so entstehende Chaos erlaubt es der Konterrevolution jenseits von Sowjet und Provisorischer Regierung, von der medialen zur unmittelbaren politischen Offensive überzugehen. Mit Hilfe von regierungstreuen, von der Front abgezogenen Truppen werden die Unruhen niedergeschlagen und Bolschewiki, AnarchistInnen u.a. Linke in den Untergrund gedrängt. Viele, so Suchanow, die gerade noch den Bolschewiki folgten, sagten sich von ihnen los und liefen selbst zu den Schwarzhundertern, der äußersten, christlich-fundamentalistischen, monarchistischen und antisemitischen Rechten, über. (vgl. Suchanow 1967, 464)

Die antibolschewistische Welle ab Mitte Juli war nicht nur und nicht in erster Linie der Versuch, einen politischen Konkurrenten auszuschalten. Alle konterrevolutionären Kräfte, die Kadetten, die Schwarzhunderter, der größte Teil des alten Offizierskorps, weite Teile des Kleinbürgertums, die Kräfte der alten Duma (diese war noch nicht aufgelöst und verfügten über eigene Mittel) und die bürgerliche Presse sprachen immer offener aus, dass es jetzt darum gehe, die meisten Errungenschaften des Februar zu liquidieren. Dabei ging es nicht nur um die basisdemokratischen Räte, sondern um die Rücknahme des radikal-demokratischen Gehaltes der Februarrevolution überhaupt. Der Schlag sollte sich gegen alles richten, was man als moderne Bürgerlichkeit im Kapitalismus bezeichnen könnte.

In den folgenden Wochen eskaliert die Situation sowohl praktisch als auch in der Rhetorik. Eingeleitet wird dieser Prozess mit dem Scheitern der „1. Koalitionsregierung“ unter dem Fürsten Lwow, der schon seit dem Februar Ministerpräsident war. Formeller Anlass war die Eskalation auf einem weiteren unbearbeiteten Feld, der nationalen Frage. Nach längeren Verhandlungen wurde mit dem ukrainischen Parlament (Rada) eine Vereinbarung über weitergehende Rechte der Ukraine geschlossen, die Lwow und die bürgerlichen Minister nicht mittragen wollten. Isaak Steinberg, ein weiterer linker Chronist der Ereignisse, vermutet, dass daneben auch das Bedürfnis stand, nicht mit der sich anbahnenden militärischen Katastrophe in Verbindung gebracht zu werden; oder auch das Kalkül, dass sich eine rein-sozialistische Regierung schnell spalten und damit diskreditieren könnte. Das hätte, so die Vermutung, den Weg für eine bürgerliche Regierung frei machen können. (Štejnberg 1920, 52) Lwow selbst führte an, dass er mit der von den sozialistischen Ministern in einem Programm vorgeschlagenen Arbeitsrichtung nicht einverstanden sei. Dies sah unter anderem die Einführung der Republik und die Beschleunigung der Agrarreformen vor. (vgl. Hedeler et al. 1998-a)  Allerdings wurde es dann auch nicht konsequent verfolgt. Am 20. Juli wird Kerenski Ministerpräsident einer nur reichlich zwei Wochen bestehenden „Rettungsregierung“, die dann am 6. August wiederum von einer Regierung unter Beteiligung der (konterrevolutionären) Kadetten abgelöst wird.

Die Ereignisse der folgenden Tage sind durch die Eskalation der Widersprüche zwischen dem Gesamtrussischen Sowjet und der Provisorischen Regierung auf der einen und den Massen auf der anderen Seite geprägt:

  • Am 22.7. werden durch die zentralen Sowjets der provisorischen Regierung unbegrenzte Vollmachten zugestanden. In der vorhergehenden Diskussion fordert der Menschewist F.I. Dan die Errichtung einer Diktatur (der Provisorischen Regierung) um eine Diktatur der Konterrevolution zu verhindern. (vgl. Hedeler et al. 1998) Da an der Regierung aber eben die Kadetten als bekannt konterrevolutionäre Kraft beteiligt waren, musste das die Verwirrung nur noch vergrößern. Die Sowjetführer wandten sich nicht an die revolutionären Massen, die vermittels der lokalen Sowjets die einzige Stütze der revolutionären Ordnung im Lande waren.
  • Die Regierung nutzt ihre Vollmachten, um am 25.7. die Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front durchzusetzen.
  • Am 26.7. fordert Kerenski auf der Tagung des Komitees der Arbeiter- und Soldatendeputierten die „volle und entschlossene Zerstörung der Elemente, die ihre Interessen höher als die des Volkes stellen“ – wobei das „Volk“ für ihn das Bürgertum war; Isaak Steinberg bezeichnet das als „Operation am offenen Herzen der einheitlichen Demokratie“. Die Revolution sei damit in eine Verteidigungsposition zurückgeworfen worden. (Štejnberg 1920, 65f.)
  • Am 5.8. plädiert der Parteitag der Kadetten für die zeitweilige Errichtung einer Militärdiktatur – einen Tag später treten sie in die „2. Koalitionsregierung“ ein.
  • Die Dumaabgeordneten werden immer aktiver und halten Reden, in denen offen gegen die zentralen Sowjets gehetzt wird und von der Wiedererrichtung der Monarchie gesprochen wird. (ebd., 72)

Steinberg hebt in gleichem Zusammenhang die Polarisierung in der sozialdemokratischen Strömung hervor:

  • In der Partei der Sozialisten-Revolutionäre driften der linke und rechte Flügel immer mehr auseinander. Die Partei steht kurz vor der Spaltung.
  • Die verschiedenen nichtbolschewistischen Gruppierungen innerhalb der Sozialdemokratie versuchen erfolglos sich zu vereinigen.

Lenin schreibt am 23.7. einen Artikel, in dem er klarsichtig die wesentlichen Konfliktpotenziale beschreibt: das Bündnis von Kadetten und Konterrevolution, die reaktionäre Rolle des Offizierskorps und die Rolle der bürgerlichen Presse und monarchistischer Gruppierungen. Unter diesen Bedingungen sei der bewaffnete Aufstand die einzige Möglichkeit, die Revolution zu bewahren. (vgl. Lenin, W.I. 1974)

Wie sieht es aber „draußen“, außerhalb der Regierungsbüros, Parteilokale und bürgerlichen Salons aus? Vor Ort waren die Sowjets angesichts der Situation auch dann, wenn sie ideologisch nicht den Bolschewiki, sondern der „gemäßigten Demokratie“ nahestanden, gezwungen, gegen die Zentralregierung zu handeln. Die Bauern konnten um den Preis des Verhungerns nicht mehr warten. Zereteli, vormals führender Kopf des Sowjets, nunmehr Minister, versuchte mit Hilfe von Regierungskommissaren mit außerordentlichen Vollmachten, die Verteilung von Land zu verhindern. Damit rührte die „gemäßigte Demokratie“ aber an ihrer Legitimation, die sie durch die Bauern-Soldaten erhalten hatte.

Betrachtet man sich den Gang der Ereignisse, so erscheinen die Positionen vieler Autoren, die die Krise der „Zersetzungsarbeit“ der Bolschewiki zuschreiben, äußerst fragwürdig. Prägend für die Diskussion ist die Beschreibung von Pipes geworden, die sich durch eine äußerst selektive Wahrnehmung der realen Widerspruchskonstellationen auszeichnet. Letztlich führt er die Eskalation der Ereignisse auf deutsche und bolschewistische Propaganda zurück und schreibt die Begeisterung für die Provisorische Regierung aus dem Frühjahr in den Herbst fort. (vgl. Pipes 1992, 136) Es ist eine Geschichte „von oben“ die er erzählt – und er ist so fixiert darauf, dass er eine Analyse des Handelns des bürgerlichen und monarchistischen Lagers kaum vornimmt. Das Land hätte sich nach einer starken Staatsgewalt gesehnt – und die „Sozialisten waren für diese Stimmung unempfänglich“. (ebd., 192) Er kritisiert an Kerenski, dass er dies nicht konsequent unterstützt hätte. Für Pipes sind die Bolschewiki die eigentlichen Konterrevolutionäre. (vgl. ebd., 177) Auch in den heutigen russischen Diskursen ist die Darstellung des Jahres 1917 als eine bloße Kette von Verschwörung und Verrat stark vertreten.

Stellt man die dargestellten Entwicklungen in Rechnung, scheint der Zeitzeuge Steinberg näher an der Wahrheit zu sein:

„Zereteli und Kerenski setzten ihre alte Taktik fort und dachten zweigleisig: sowohl für die Demokratie als auch für die Bourgeoisie. Sie verloren dabei allerdings aus dem Blick, dass die Bourgeoisie nur an eins denkt: an sich selbst.“ (Štejnberg 1920, 74)

 

Quellen und zum Weiterlesen

 

Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.) (1998-a). Offener Brief von Ministerpräsident G.J. Lwow über die Gründe seines Rücktritts, in: Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 282–285

Hedeler, Wladislaw/Schützler, Horst/Striegnitz, Sonja (Hrsg.) (1998). Rede von F.I. Dan, Vertreter der menschewistischen Fraktion, in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen ZEK der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten und des EK des Gesamtrussischen Sowjets der Bauerndeputierten anläßlich der Regierungsumbildung, in: Die Russische Revolution 1917 - Wegweiser oder Sackgasse?, Berlin: Dietz Verlag Berlin, 291–292

Lenin, W.I. (1974). Die politische Lage (Vier Thesen), in: W.I. Lenin Werke Bd. 25 Juni-September 1917, Berlin: Dietz Verlag, 174–176

Pipes, Richard (1992). Die Russische Revolution. Band 2: Die Macht der Bolschewiki, Berlin: Rowohlt

Štejnberg, Isaak Zacharovič (1920). Ot fevralja po oktjabrʹ 1917 g. - Vom Februar bis Oktober 1917., Berlin/Mailand: Skythen, abrufbar unter: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB00008E0C00000000

Suchanow, N.N. (1967). 1917: Tagebuch der russischen Revolution, München: R. Piper&Co. Verlag, abrufbar unter: https://books.google.de/books?id=FLbNAAAAMAAJ

Trotzki, L. (2010). Geschichte der Russischen Revolution: Oktoberrevolution. Bd. 2, Mehring-Verlag, abrufbar unter: https://books.google.de/books?id=_DkoEVpx3L8C