Die Zwangsläufigkeit der Herausbildung der bürokratischen Diktatur
Wenn es in der Zeit um die vorletzte Jahrhundertwende ein Land in Europa gab, dessen Rückständigkeit förmlich nach gesellschaftlicher Umwälzung schrie, so war das Russland mit seiner ausgebliebenen bürgerlichen Revolution und seiner verknöcherten Zarendespotie.
Die Industrie und die Arbeiterklasse waren nur Einsprengsel in der ländlichen Gesellschaft Russlands mit 120 Millionen Bauern und Bäuerinnen, die barfuß für den Adel schufteten, und so bedingte die industrielle Rückständigkeit die Unreife der Produktivkräfte für einen künftigen Sozialismus. Aber ökonomische und politische Entwicklung sind niemals deckungsgleich - die politische Entwicklung drängte zur Revolution, und es sah so aus, als würden westeuropäische Revolutionen zu Hilfe kommen.
Lenin hatte 1902 in "Was tun?" geschrieben, es sei die Partei, die "den allgemeinen bewaffneten Volksaufstand vorbereitet, ansetzt und durchführt." 1917, in den ersten Tagen der Februarrevolution, erkannten die Revolutionäre die Revolution nicht - und das trotz ihrer Erfahrungen von 1905. Sie dachten, es handele sich lediglich um Brotunruhen. Dass die politische Klarheit der Massen im Kampf wächst, wie Rosa Luxemburg es in ihrer Auseinandersetzung mit Lenin beschrieben hatte (vgl. Luxemburg 1972 [1904]), und nicht dessen Voraussetzung ist, mussten sie erst lernen.
Das Drama der russischen Revolution spielte sich ab nach den Massenmorden des zaristischen Regimes in der '05er Revolution und nach 2 Millionen toter Bauern in Uniform, die im Weltkrieg für die Profitinteressen der Herrschenden verheizt worden waren.
Nachdem die Massenbewegung den Zaren gestürzt hatte, herrschte zunächst Jubelstimmung und Einigkeitstaumel unter den siegreichen Revolutionären. Diese Einheit zerbrach erst, als die Provisorische Regierung - zustande gekommen von Gnaden des menschewistisch dominierten Arbeiter- und Soldatenrats - am Sieg-Frieden festhielt, als habe es keine Revolution gegeben. Zwar wollten auch die Revolutionäre die Besetzung russischen Territoriums durch die Mittelmächte nicht hinnehmen, aber für die Eroberung der Dardanellen im Interesse der Kriegsgewinnler wollte niemand mehr sterben.
Und es wurde weiter gehungert und gefroren. Die Kapitalisten schlossen lieber die Fabriken als die Arbeiter die Produktion kontrollieren zu lassen, und die Landverteilung an die Bauern wurde auf eine ferne Konstituierende Versammlung verschoben.
Die Kapitalisten waren mit dem französischen und englischen Kapital verbunden, von ihm abhängig und verdienten am Krieg - der Staat war im In- und Ausland hoch verschuldet. So schob die Provisorische Regierung die Enteignung des Großgrundbesitzes hinaus, weil freie Bahn für die Bauern auch freie Bahn für die Arbeiter in den Städten bedeutet hätte - die Bourgeoisie hätte ihr Eigentum und das ihrer internationalen Verbündeten nicht verteidigen können, die bürgerliche Republik wäre obsolet geworden. Und die Menschewiki und Sozialrevolutionäre hielten am Etappenschema, an der Installierung eines bürgerlichen Staates fest, auch als sie selbst bereits in die Provisorische Regierung eingetreten waren. Die Sozialrevolutionäre konnten daher ihr eigenes Agrarprogramm nicht verwirklichen. So wurden alle Entscheidungen hinausgezögert in der Hoffnung auf ein Abflauen der revolutionären Bewegung, und man konspirierte mit der Rechten und den Offizieren gegen den Sowjet.
Diese Probleme, die den Massen unter den Nägeln brannten, wurden in der hitzigen Revolutionsatmosphäre, wo sie jeden Tag demonstrierten und streikten, ununterbrochen diskutiert. Warum teilte ihr Arbeiterrat die Macht mit der Provisorischen Regierung, die offensichtlich gegen ihre Interessen arbeitete? Bolschewistische Arbeiter verlangten den Parteiausschluss Kamenews und Stalins, weil diese als Petrograder Parteileitung vor der Ankunft Lenins den Zusammenschluss mit den Menschewiki vorbereitet hatten. Ihr eigener Lernprozess während acht Monaten trieb die Arbeiter, Soldaten und Bauern nach links, immer mehr von ihnen wurden Bolschewisten, Zehntausende traten in die Partei ein, überall wurden nach und nach mehrheitlich Bolschewiki in die Räte gewählt, und die Forderung nach Absetzung der unfähigen Provisorischen Regierung wurde Allgemeingut der übergroßen Mehrheit der Arbeiter und auch der Bauern. Jedermann erwartete, dass der zweite Allrussische Rätekongress im Oktober, inzwischen mit einer Mehrheit bolschewistischer Delegierter, die Macht übernehmen werde.
Lenin hatte diesen Prozess bereits im Schweizer Exil vorausgesehen und stieß seine Partei auf den richtigen Weg. Die Verbindungen der intellektuellen Führungsschicht mit dem intellektuellen kleinbürgerlichen Milieu der Hauptstädte machte ihre Zögerlichkeit aus - sie mussten immer wieder angestoßen werden, und sie wurden von oben durch Lenin und von unten durch die Arbeiter vorwärtsgestoßen. Aus dem Zusammenspiel aus Zögerlichkeit, Lenins voluntaristischer Revolutionsvorstellung (die ideologisch gestählte Partei organisiert eigenständig den Aufstand) und dem Druck der Arbeiter und Soldaten ergab sich ein dialektisches Funktionieren der Bolschewiki als Avantgarde der Bewegung. Die Arbeiter und die Bauern in Uniform wurden nur deshalb massenhaft revolutionär und zu Bolschewiki, weil sie hier den Ausdruck ihrer Bestrebungen fanden, zu denen ihre Lebensumstände sie zwangen: Ende des Krieges, Verteilung des Bodens und Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter. Dazu mussten die Räte sich die verliehene Macht zurückholen und selbst zur Regierung werden. Avantgarde in einer Revolution ist nicht etwas, das die Arbeiter anleitet und kommandiert - Avantgarde ist etwas, das die Arbeiter vor sich hertreiben, damit sie ihre Bestrebungen durchsetzt, und sie wird sofort ausgetauscht, wenn sie nicht den Erwartungen entsprechend arbeitet. Hätten die Bolschewiki nicht die Machtübernahme der Sowjets vorangetrieben, so wären sie genauso weggefegt worden wie die Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre, und es hätte sich eine andere Avantgarde gebildet. Der Umsturz wurde von den Bolschewiki organisiert, aber durchgeführt wurde er von Massen überzeugter Soldaten und Arbeitermilizen, unter lebhafter Anteilnahme der Arbeiterbevölkerung. Nicht die Bolschewiki haben die Revolution gemacht - viel stärker hat die Revolution die Bolschewiki gemacht.
Wie konnte es dann dazu kommen, dass sich eine Diktatur über solch selbständige Arbeiterklasse installierte, wie Trotzki es 1921 rechtfertigte?
Die Arbeiter waren in der Russischen Gesellschaft nur eine schmale Schicht, und sie konnten nur die Betriebe vergesellschaften, die vorhanden waren. Wegen der rudimentären Entfaltung des inneren Marktes, der steckengebliebenen Kapitalakkumulation, des Überwiegens der Rüstungsindustrie, der Kriegsschäden, der Sabotage der Unternehmer, des Ausbleibens von Importen und Nachschub gab es kein ausreichendes Netz sich ergänzender Betriebe, und so scheiterten die Versuche der Fabrikräte, über Branchenorganisationen eigenständig die gesellschaftliche Produktion zu organisieren. Somit konnten sie natürlich auch nicht die Arbeiterdemokratie zur gesellschaftlichen Herrschaft entfalten und den Austausch mit den Bauern regeln. Sie ordneten sich schließlich Ende 1917/Anfang 1918 als Basisorganisationen in die Gewerkschaften ein, die im Dualismus mit dem Zentralen Volkswirtschaftsrat die Produktion notdürftig durch Administration von oben aufrechterhielten und auf die Bedürfnisse der Roten Armee ausrichten mussten. Sie wurden zuständig für die Rekrutierungen der Arbeiter. Die sozialistische Vergesellschaftung wurde auf später verschoben. Der beginnende Bürgerkrieg fing an, alle anderen Probleme zu überlagern. Zwecks Verteidigung ihrer Revolution fügten sich die Arbeiter und Bauern, wenn auch widerstrebend, auch der Wiedereinführung der Hierarchien in Armee, Staat und Partei. Lenin und Trotzki hielten ohnehin die Parteiherrschaft für den höchsten Ausdruck des Willens der Arbeiterklasse - und die Klasse war zu schwach, sie eines Besseren zu belehren.
Die anderen linken Parteien hatten sich diskreditiert: Die Menschewiki hatten acht Monate lang abgewirtschaftet und dann versucht, Streiks gegen die Rätemacht zu organisieren, die Linken Sozialrevolutionäre hatten den deutschen Botschafter ermordet und einen Putsch versucht, um den revolutionären Krieg gegen die Gebietsverluste von Brest-Litowsk vom Zaun zu brechen, eine Sozialrevolutionärin hatte auf Lenin geschossen. Die Gefängnisse füllten sich, die Tscheka wurde von der Leine gelassen. In den Räten bleiben als Partei nur die Bolschewiki übrig, und ihre Abstimmungsdisziplin machte die Räte zu hohlen Umsetzungsorganen der Parteibeschlüsse. Eingekerkert in der deutschen Festung Breslau, warnt Rosa Luxemburg die Bolschewiki vor den lähmenden Konsequenzen, aber Paul Levi veröffentlicht das Manuskript erst 1922, und anders handeln hätten die Bolschewiki ohnehin kaum können. (vgl. Luxemburg 1974 [1918])
Die Bauern, nun Herren des verteilten Ackerlandes, fanden kaum Gebrauchsgegenstände und Geräte, die sie für ihr Getreide hätten eintauschen können, weil die Industrie darniederlag, und hielten die Lebensmittel zurück. Bei dem Kleinkrieg um die Getreidebeschlagnahmungen kamen Zehntausende ums Leben. Dennoch verteidigte die Mehrheit der Bauern mit und in der Roten Armee ihren neuen Besitz gegen die Weißen, hinter denen die Rückkehr der Großgrundbesitzer lauerte.
In den drei Jahren des von beiden Seiten äußerst brutal geführten Bürgerkriegs verfestigte sich das neue Regime zu einem militarisierten Kommandosystem auf allen Ebenen. Es wurde befohlen und erschossen, eingesetzt und nicht gewählt. Trotzki verlangte die Verallgemeinerung der Zwangsarbeit. Bei allen autoritären Wendungen gab es innerparteiliche Opposition, die sich aber mangels Alternativen nie durchsetzen konnte.
Als der auszehrende Bürgerkrieg gewonnen war, war auch die Geduld am Ende. Man erwartete nun Erleichterungen vonseiten des Regimes, welches die Masse der Arbeiter und Bauern zwar als eines ihrer eigenen Leute ansah, das aber auch verhasst war wegen seiner Willkürherrschaft und des luxuriösen Lebenswandels vieler seiner Funktionäre inmitten von Hunger, Seuchen und Erfrierungstod.
Große Bauernaufstände und den Kronstädter Matrosenaufstand schlug die nun diktatorisch herrschende Partei 1921 mit äußerster Brutalität nieder, streikende Arbeiter der wenigen noch arbeitenden Fabriken in den Hauptstädten wurden unter Kriegsrecht gestellt. Moskau hatte noch die Hälfte, Petrograd nur noch ein Drittel seiner Bevölkerung. Der Rest suchte auf dem Land nach Lebensmitteln. Der Staatsapparat aus Partei, Verwaltung und Armee, inzwischen auf das zehnfache des zaristischen Apparates aufgebläht, hätte kollektiven Selbstmord verübt, wenn er den Forderungen nach freien Wahlen der Räte nachgegeben hätte. Die Bolschewiki standen am Rande des Untergangs. Die Arbeiteravantgarde war ums Leben gekommen oder im Apparat aufgesogen, die Partei hatte ihre Basis in der geschrumpften Arbeiterklasse verloren, und die riesige Masse der Bauern, nun von der Bedrohung durch die weiße Konterrevolution befreit, stand ihr in Todfeindschaft gegenüber. Als Basis blieb ihr nur der bürokratische Apparat. Der doppelte Klassencharakter der Revolution hatte sich zur Diktatur über die Arbeiter und Bauern verselbständigt. Es war daher nur noch eine Formsache, dass die Arbeiteropposition, in der die innerparteiliche Unzufriedenheit in die Forderung nach Übergabe der Produktion in die Hände der Gewerkschaften gemündet war, auf dem 10. Parteitag 1921 als Angriff auf die Parteiherrschaft begriffen und niedergestimmt wurde. Die Hoffnungen auf sozialistische Vergesellschaftung waren damit endgültig begraben. Möglich war nur ein bürokratischer Staatssozialismus. Die kleine russische Arbeiterklasse hatte sich - ohne Unterstützung durch Revolutionen in entwickelten Ländern - als viel zu schwach erwiesen, die Revolution, die hauptsächlich eine der Bauern war, anders zu führen denn als Parteidiktatur.
Da weitere Requirierungen bei den Bauern ohne Basis in der Arbeiterklasse nicht mehr durchsetzbar waren, verordnete Lenin auf demselben Parteitag die Marktfreigabe für die Bauern, die NEP, und sprach das innerparteiliche Fraktionsverbot aus, um mit dem Widerstand gegen die partielle Rückkehr des Kapitalismus fertigzuwerden. Das benutzte Stalin später zur Ausschaltung seiner Konkurrenten.
Das Ausbleiben einer weltweiten revolutionären Unterstützung setzte den isolierten Wirtschaftsaufbau auf die Tagesordnung. Stalin propagierte mit dem "Aufbau des Sozialismus in einem Lande" nur noch, was die Wirtschaftsorgane ohnehin die ganze Zeit taten. In einem derart rückständigen Land ist das die Stunde der Bürokratie, die diesen Aufbau organisiert, und als deren Chef der Generalsekretär alle Posten besetzte. Delegierte wurden handverlesen, oppositionelle Strömungen gespalten und ausgeschaltet. 1925 bereits galt offene Kritik als Anschlag auf Partei und Staat, und 1929 befanden sich nur noch Stalins Gefolgsleute im Politbüro. Drohung, Angst, Lobhudelei und Personenkult hatten die offene Diskussion erstickt, und Stalin konnte die Zwangskollektivierung und terroristische Industrialisierung durchsetzen, zu denen die äußere Bedrohung zwang. Aus dem internationalistischen, kommunistischen Freiheitskampf war nach und nach, und ohne dass die handelnden Personen sich darüber klarwurden, eine nationalistische Entwicklungsdiktatur geworden - die die außerrussischen kommunistischen Parteien dann auch nur noch zu ihren nationalen Zwecken finanzierte, benutzte und missbrauchte.
Gewaltsam wurde die Industrie aus dem Boden gestampft und Millionen Menschenleben dabei verschlissen. Weil die Planwirtschaft nur ohne aktive Beteiligung der Massen und mithin gegen sie ins Werk gesetzt werden konnte, konnte sie auch nur mangelhaft funktionieren. Die Jagd auf Sündenböcke und angebliche Saboteure war die Folge. Der durch Terror und Massenmord selbsterzeugte und insofern begründete Verfolgungswahn der führenden Bürokratenschicht und ihres Protagonisten vernichtete alle, die potentiell zu Oppositionskernen hätten werden können. Mit der Ermordung der Militärspitze hätte sie fast den Zweck des Unterfangens, das nationale Überleben der nächsten imperialistischen Aggression, konterkariert.
zur ausführlicheren Darstellung siehe:
Quellen
Luxemburg, Rosa. 1972 [1904]. "Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie." In Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 1 1893 bis 1905 Zweiter Halbband, 422-446. Berlin: Dietz Verlag.
Luxemburg, Rosa. 1974 [1918]. "Zur russischen Revolution." In Rosa Luxemburg Gesammelte Werke Bd. 4 August 1914 bis Januar 1919, 332-365. Berlin: Dietz Verlag.