Die Marx-Rezeption im ehemaligen Jugoslawien

Ausstellung 150 Jahre Das Kapital im Museum der Arbeit in Hamburg, 2018

In dieser Beitragsreihe versuchen wir – im Dialog mit zahlreichen Diskussionspartnern – im ersten Teil allgemein in die Bedeutung von Marx' Kapital von der Erstpublikation bis heute einzuführen. Im zweiten Teil betrachten wir seine Historisierung, seine Übersetzungsgeschichte, seine Rezeption sowie den Einfluss, den das Buch im ehemaligen Jugoslawien über alle gesellschaftspolitischen Systeme hinweg gehabt hat. Der dritte Teil widmet sich der Rezeption des Kapital in Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg. Schließlich widmen wir uns dem im Zusammenhang mit der jüngsten, seit 2008 andauernden wirtschaftlichen und politischen Krise wieder aufgekommenen Interesse für gerade dieses Buch von Marx. Teil 1: Das ungelesene Buch.

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Auf der ganzen Welt begeht die Linke den 150. Jahrestag des Erscheinens des ersten Bandes von Karl Marx‘ Hauptwerk Das Kapital. Dabei handelt es sich um den einzigen der insgesamt drei Bände, der noch zu Lebzeiten des Autors am 14. September 1867 erschienen ist (zunächst auf Deutsch, 1872 dann auf Russisch. Wie sich noch zeigen wird, war man auch hierzulande – auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien – diesbezüglich überaus produktiv). Friedrich Engels, Marx’ Mitstreiter, bereitete nach dessen Tod die anderen beiden Bände aus einer Masse handschriftlicher Fassungen für den Druck auf, beließ die Autorenschaft allerdings in allen Ausgaben bei Marx. Der zweite Band erschien 1885, der dritte 1894.

Im Zuge der letzten Krise des Kapitalismus, die mit der Finanzkrise 2008-2009 begann, sprachen nationale wie internationale Medien nach dem Motto „Marx kehrt zurück“ wieder verstärkt über Das Kapital. Das Buch verkaufte sich in manchen Ländern zudem besser, eine wirkliche Steigerung der Verkaufszahlen gab es aber nur in Deutschland, wo auch an einer neuen historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) gearbeitet wird. Nach Auffassung der breiten öffentlichen Meinung handelt es sich hierbei jedoch um vorübergehenden Aktionismus; ähnlich wird über den Jahrestag geurteilt. Allerdings gibt es fast in allen Ländern eine marxistisch orientierte intellektuelle Minderheit, die sich gar nicht von Marx abgewandt hatte, so dass man ihn nicht wirklich „wiederentdecken“ müsste. Es ist vielleicht anzumerken, dass die wesentlichen marxistischen Klassiker seit Entstehung „unserer eigenen“ Staaten, weder nachgedruckt noch neu übersetzt worden sind. Eine Ausnahme stellt die Neuübersetzung des ersten Bandes des Kapitals dar, die vor einigen Jahren in Ljubljana veröffentlicht wurde.

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Da es hierzulande eine Linke nicht oder so gut wie nicht mehr gibt, wird das Ereignis auch nicht gefeiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass keine Notiz davon genommen würde. So sind einige Essays und eine Unmenge Zeitungsartikel erschienen, die aufzeigen, welch bedeutende Nachwirkungen der September 1867 für unsere Geschichte und Gegenwart hatte und hat. Beispielhaft ist ein Artikel in der Zeitschrift Lider von Vanja Figenwald, den man in keiner Weise als besonders links bezeichnen kann.[i] Die Hauptthese des Artikels spiegelt die im ehemaligen Jugoslawien reflexartige ideologische Zustimmung zu Marx. Dieser habe zwar viele richtige Sachen über die Funktionsweise des Kapitalismus gesagt, jedoch seien die von ihm vorgeschlagenen Lösungen, vorsichtig gesagt, weitaus weniger gelungen – als ob, entgegen der Dialektik des Buches, mechanisch ein ‚negative‘ Kritik und ‚positive’ Lösungen abgegrenzt werden könnten. In dem betreffenden Abschnitt mit dem Titel „Die Nebelhaftigkeit des Kommunismus“[ii] hebt Figenwald hervor, die Marx‘sche „Lösung in Form des Kommunismus“ sei „ein sehr (...) umstrittenes Element, welches vermutlich für immer Gegenstand von Auseinandersetzungen und unterschiedlichen Interpretationen” sein wird. Angesichts des im kroatischen Parlament, dem Sabor, vorherrschenden Antikommunismus klingt das beinahe wie die Beschwörung einer Dialogkultur – umso mehr, als der Artikel mit der These schließt, es handele sich um ein zentrales Werk, „dessen Beharrlichkeit mit der des Kapitalismus vergleichbar” sei. Allerdings wissen wir um die Grenzen des ‚Dialogs‘ derartiger Presseerzeugnisse mit Andersdenkenden. Ebendiese schon seit 150 Jahren etablierten „Grenzen“ stellt ein anderer Artikel mit einer mindestens genauso ernstzunehmenden These heraus. In seinem zum selben Anlass verfassten Text für das britische Magazin Socialist Worker schreibt Joseph Choonara: „Das Kapital bleibt der beste Ausgangspunkt für unsere Versuche, den Kapitalismus zu analysieren oder, besser noch, ihn zu Fall zu bringen."

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In dieser Beitragsreihe versuchen wir – im Dialog mit zahlreichen Diskussionspartnern – zunächst allgemein in die Bedeutung von Marx' Kapital von der Erstpublikation bis heute einzuführen. Danach betrachten wir seine Historisierung, seine Übersetzungsgeschichte, seine Rezeption sowie den Einfluss, den das Buch im ehemaligen Jugoslawien über alle gesellschaftspolitischen Systeme hinweg gehabt hat. Schließlich widmen wir uns dem im Zusammenhang mit der jüngsten, seit 2008 andauernden wirtschaftlichen und politischen Krise wieder aufgekommenen Interesse für gerade dieses Buch von Marx. Weltweit sind viele neue Monographien geschrieben worden; auch ältere, hierzulande „vergessene“ Werke sind durch anglo-amerikanische Übersetzungen zugänglicher geworden. Es besteht daher die Hoffnung, dass trotz widriger Umstände ein neues Interesse an diesem Werk entsteht.

Wenn wir heute, 150 Jahre später, der Veröffentlichung des ersten Bandes von Marx’ Kapital gedenken, lohnt die Frage nach der Bedeutung dieses Buches für uns. Oder andersherum gesagt: Gibt es in unserer sozioökonomischen Wirklichkeit Aspekte, welche die grundlegenden Standpunkte dieses Buches widerlegen? Dazu bemerkt Katarina Peović Vuković, Dozentin an der Philosophischen Universität Rijeka: „Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts könnte man als Marx‘sches Zeitalter bezeichnen, weil in dieser Zeit vier von zehn Einwohnern auf der Erde unter Regierungen lebten, die sich für marxistisch hielten, unsere eigene eingeschlossen. Dem jugoslawischen Sozialismus lagen, neben all seinen Besonderheiten und durchlaufenen Phasen, die marxistische Weltsicht und dieses Buch zugrunde. Aber Das Kapital war kein Buch, das für sozialistische Ökonomen bedeutende Informationen enthielt, einfach weil es vor allem eine Kritik der kapitalistischen Produktionsweise darstellte. Marx gab grundsätzlich wenige konkrete Ratschläge hinsichtlich einer sozialistischen Ökonomie und Wirtschaft, da es ihm nicht um die Analyse einer alternativen politischen Ökonomie ging. Das Kapital ist daher für uns heute, hier und jetzt, wo wir den Kapitalismus einer Erneuerung unterziehen, wichtiger als es den sozialistischen Selbstverwaltern war.”

Der Theoretiker Stipe Ćurković vom Zentrum für Arbeiterstudien[iii] erinnert daran, dass die 150 Jahre des Kapitals [Band 1] größtenteils eine Geschichte der Pseudorezeption darstelleneine bemerkenswerte Paradoxie im Werdegang dieses Schlüsselwerkes innerhalb des Marx’schen Werkes. Der Erfolg des Marxismus in seinen unterschiedlichen historisch relevanten politischen Spielarten, von der Sozialdemokratie der II. Internationale bis zum Marxismus-Leninismus, ging Hand in Hand mit der Substitution des Kapitals durch gemeinverständlicher geschriebene Bücher seiner offiziellen Interpreten: Von Engels über Kautsky bis zu den von der Partei bestellten Theoretikern in den realsozialistischen Staaten, die sich zur Legitimation auf Marx beriefen. „Marx war mit dem ausdrücklichen Anspruch angetreten, mit dem Kapital eine streng wissenschaftliche Analyse und Kritik der kapitalistischen Produktionsweise mit insgesamt unzweideutiger politischer Wirkung zu liefern und das nicht nur als, wie er sagte, ‘das furchtbarste Missile, das den Bürgern (…) an den Kopf geschleudert worden ist.‘” (MEW 31, S. 541)

Im Nachwort zur zweiten Auflage des ersten Bandes des Kapital, geschrieben Anfang 1873”, so Ćurković, bestätigte er, das größte Lob für seine Arbeit sei das Verständnis, welches Das Kapital rasch in weiten Kreisen der deutschen Arbeiterklasse fand‘“. (MEW 23, S. 19) Die Hervorhebung dieses frühen Rezeptionserfolges kann auch als Fortführung der Auseinandersetzung mit möglichen Einwänden gegen den anspruchsvollen und teilweise schwer verständlichen Charakter des ersten Bandes gelesen werden. Noch im Vorwort der ersten Ausgabe versuchte Marx diese Kritik abzuwenden, indem er behauptete, man könne sein Buch nicht wegen Schwerverständlichkeit anklagen“, revidierte dieses Urteil aber sogleich mit dem Zugeständnis: mit Ausnahme des Abschnitts über die Wertform“. (MEW 23, S. 12) Marx setzt für seine Kritik der politischen Ökonomie ja gerade bei ihrer abstraktesten Kategorie an – dem Wert. Marx‘ Werttheorie wird im ersten Band des Kapital vorgestellt und im dritten ausgeführt, und zwar durch die Analyse der Warenform”, sagt Peović Vuković. Das, was den bürgerlichen Ökonomen (Ricardo und Smith) selbstverständlich schien, dass die Ware nämlich die Form des (Tausch-)Wertes annähme, stellte Marx in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Der Wert ist der Ware nicht inhärent, sondern eine Angelegenheit der gesellschaftlichen Beziehungen. Die Ware erlangt ihre Bedeutung am wenigsten durch ihren Gebrauchswert, vielmehr durch das System ihrer gesellschaftlichen Beziehungen.”

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Wie dem auch sei: Bereits 1878 fühlte sich Engels jedenfalls zu einer Polemik gegen den zunehmenden Einfluss der Theorien des Berliner Philosophen und Ökonomen Eugen Dühring in der deutschen Arbeiterschaft veranlasst, da dieser Einfluss auf Kosten von Marx’ Arbeit ging. Ironischerweise wird”, so Stipe Ćurković, genau dieser Anti-Dühring (Marx gab dem Werk seinen Segen und arbeitete zeitweise selbst daran mit) zur wichtigsten Lektüre innerhalb der politischen und theoretischen Erziehung der Arbeiterbewegung und der damals noch jungen sozialdemokratischen Partei und ersetzt die Rezeption des Kapital. Viele Kommentatoren sehen deswegen im Anti-Dühring den Ausgangspunkt des Marxismus als Weltanschauung. In den Worten eines von ihnen, des jungen deutschen Theoretikers Jan Hoff, bildete Engels’ Kritik des Dühring-Systems das historische Fundament für eine Weltanschauung, die selbst die Gestalt eines Systems einnahm.’” Und was geschah dann? Die Vorteile dieser Ersetzung waren evident: Im Gegensatz zu Marx’ komplexem und unvollendetem theoretischen Projekt bot ein solcher ‚Marxismus’ eine weltanschauliche Kohärenz und klare Orientierung im Hinblick auf theoretische und politische Fragen. Dies wurde noch verstärkt durch Engels‘ späteren enzyklopädischen Ehrgeiz und die Ausweitung des marxistischen Deutungsanspruchs auf alle möglichen Gebiete, einschließlich der Biologie, beispielhaft aufgezeigt in der Dialektik der Natur. Der spätere Schematismus des historischen und dialektischen Materialismus im Marxismus-Leninismus brachte diese Tendenzen bis an den Rand der Erstarrung. Die Hauptschwäche einer solchen Theorie, ihre schematische Vereinfachung, war nichtsdestoweniger ihr größter Vorzug für die Rezeption; und zwar in dem Maße, in dem der Verlust der Komplexität durch die tiefe Überzeugung kompensiert wurde, dass im Marxismus der Schlüssel zur Dechiffrierung sowohl des historischen Entwicklungsweges als auch aller darin ablaufenden Phänomene läge. Die Glaubwürdigkeit und Anziehungskraft eines solchen ‚Marxismus’ war freilich niemals ausschließlich oder vorrangig theoretisch begründet, sondern ging aus seiner Beziehung zu den politischen Bewegungen hervor, die ihn, in verschiedenen geschichtlichen Varianten, beförderten.”

Die Rezeption des Kapitals ist in daher im Zuge des historischen Verlaufs von weit geringerer Bedeutung als man gemeinhin vermutet. Auf das Kapital berief man sich zwar, es wurde zitiert, wo auch immer es angemessen erschien, und es war häufig Teil der Hausbibliotheken von Staatsbeamten und Offizieren der Jugoslawischen Volksarmee, doch wurde es sehr selten auch wirklich gelesen. Politisch wurde Das Kapital vorrangig als kanonisierter Text genutzt, das heißt, auch als theoretische Legitimationsquelle, und nicht als Gegenstand einer offenen theoretischen oder wissenschaftlichen Diskussion. Der von Stalin erwirkte Abbruch der kritischen Edition des Werks von Marx und Engels – der MEGA – nebst dem Schicksal ihres Chefredakteurs David Rjasanow, Begründer des Marx-Engels-Institutes, markiert den Höhepunkt dieser Entwicklung: Den Punkt, an dem es zur Repression einer ernstzunehmenden, theoretisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Kapital und anderen Marx-Schriften kam, mit dem Ziel, ihre politische Instrumentalisierung als Legitimationsquelle zu bewahren. Damit wurde klar vermittelt, dass die Antwort auf die Frage nach dem genauen Inhalt des Kapitals nicht in der Schrift selbst zu finden sei, sondern vielmehr bei den für seine Interpretation zuständigen Stellen“, schreibt Ćurković. Auf dieses Thema der Kanonisierung wird Rastko Močnik in unserer Artikelreihe noch zurückkommen. Für Ćurković verlief parallel zur Geschichte der Pseudorezeption des Kapital die Geschichte seiner kritischen Rezeption in der Regel weit abseits der politisch wirkenden Orthodoxien”. Viele heterodoxe Marxismen suchten im Kapital nach theoretischen Ressourcen für die Legitimierung der eigenen Positionen gegen die Orthodoxie: In Zeiten, in denen es an realen politischen Einflussmöglichkeiten mangelte, wurde der politische Erfolg oft ersatzhalber daran bemessen, ob es gelang, Marx‘ Theorie gegen das Regime oder die Parteien zu mobilisieren, die sich auf ihn beriefen, insbesondere in den Perioden, in denen sich heterodoxe Marxismen auf ein dominantes akademisches Phänomen bezogen. Als Ausgangspunkt wirkten, in unterschiedlichen Perioden und Gebieten, sehr verschiedene Schriften von Marx: nicht nur Das Kapital, sondern vor allem auch die so genannten Frühschriften und die Grundrisse.”

Heutzutage ist es besonders wichtig, Marx’ Werttheorie gegen die verbreitete Argumentation zu verteidigen, sie sei veraltet; sei es infolge der Dominanz von Dienstleistungen über materielle Produkte oder sei es infolge des Übergangs von materieller zu immaterieller Produktion”, sagt Peović Vuković. Der Unterschied zwischen materiellen Objekten und Dienstleistungen besteht lediglich in ihrem unterschiedlichen materiellen Gehalt. Die Frage indes, ob es sich dabei auch um Waren handelt oder nicht, ist ausschließlich eine Frage ihres gesellschaftlichen Zusammenhangs: Tauscht man diese Sachen oder Dienstleistungen oder tauscht man sie nicht? Mit anderen Worten, es geht hier um die Frage der Warenform.” Sie bemerkt weiterhin: „Die gesellschaftlichen Umstände designieren heute so ziemlich alle Sphären des Lebens als Waren, und obwohl es so scheint, als würden die Dienstleistungen durch ihre Immaterialität ihre Erscheinungsform ändern, ist dem nicht so. Auch ein Startup-Projekt ist eine Ware, da sein Erfolg an seinem Tauschwert gemessen wird.”

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Marx hat die Verhältnisse, in denen wir zu leben gezwungen sind, als Verrücktheit bezeichnet, während er sich bemühte herauszufinden, was sich hinter dieser wundersamen Gegenständlichkeit verbarg, oder, wie er sagen würde, dem mystischen Charakter der Ware. Dieser ‚Warenfetisch’ hat sich nicht grundlegend verändert, da sich die gesellschaftlichen Verhältnisse als Austausch und Warenproduktion innerhalb der politischen Ökonomie ‚naturalisieren’ oder ‚vergegenständlichen’; dementsprechend findet man es auch heute noch natürlich, die gesellschaftlichen Verhältnisse als Verhältnisse zwischen Waren anzusehen.“ Und wir würden hinzufügen: heute sogar mehr denn je.

Auch wenn Das Kapital die strukturelle Bedingtheit der Ausbeutung im Kapitalismus vor Augen führt, und nicht irgendeine Moral, handelt es sich doch um ein Buch, das eine Asymmetrie aufzeigt. „Marx’ Werk ist eine Klassentheorie, jedoch nicht, weil es einfach von Klassen spricht, sondern weil es auf die Notwendigkeit der Ausbeutung der Klassen im Kapitalismus verweist.” Schließlich leitet Peović Vuković neben der Werttheorie und der Klassentheorie zum dritten zentralen Thema des Kapitals über – zur Darlegung der materialistischen Dialektik. Wenn die Kritik der politischen Ökonomie den Grundstein für die analytische Betrachtung der Produktionsweise im Kapitalismus gesetzt hat, dann ist Marx’ Materialismus der breitere Rahmen dieser Analyse. Marx übernahm Hegels Dialektik, ergänzte diese aber durch seine materialistische Interpretation der Geschichte.” Die Dialektik also, wie sie bei Hegel auf idealistische Weise ausgearbeitet wurde, erwächst bei Marx aus ökonomischen Voraussetzungen und verliert so ihre abstrakte, idealistische Form. Deswegen konnte, so fügen wir hinzu, Georg Lukács, entgegen der vorherrschenden Meinung, auch feststellen, dass Das Kapital ein hegelianischeres, sozusagen auch philosophischeres Werk ist als die Frühschriften von Marx, in denen er sich teilweise deutlich von Hegel abgrenzte.

Marx verfolgte in Das Kapital die Absicht, der abstrakt-theoretischen Überhöhung von Gedankenspielen gegenüber den tatsächlichen, kontingenten geschichtlichen Verhältnissen ein Ende zu bereiten. Die materiellen Bedingungen des Daseins bestimmen unser Bewusstsein“, sagt Peović Vuković und fügt hinzu, auch wenn Uber-Fahrer, die in Autos schlafen, der Meinung sind, ‚frei’ zu sein, da sie ihre Arbeitszeit selbst bestimmen können, ist es nötig, zum analytischen Marxismus und der im Kapital skizzierten Methodik zurückzukehren, die eine wertvolle Lektion in materieller Determiniertheit bietet – die Ermahnung, dass das Leben nicht auf Wissen beruht und auch, dass es die materiellen Bedingungen sind, die die Existenz bestimmen, obwohl man im Kapitalismus bis heute versucht, das Gegenteil zu beweisen. Was auch immer wir über uns denken mögen, unsere ‚Identitäten’ sind in den materiellen Lebensverhältnissen verwurzelt. Die Anatomie eben dieser Verhältnisse muss (auch) in der politischen Ökonomie gesucht werden.”

 

Erstveröffentlichung in der Zagreber Wochenzeitung Novosti als vierteilige Feuilletonreihe. Online: https://www.portalnovosti.com/neprocitana-knjiga

Der nächsten Teil betrachtet die Historisierung, die Übersetzungsgeschichte, die Rezeption sowie den Einfluss, den das Kapital im ehemaligen Jugoslawien über alle gesellschaftspolitischen Systeme hinweg gehabt hat.

Übersetzung Irena Katadžić www.irena-katadzic.com


[i] Anm. d. Übers.: Lider ist ein führendes Wirtschaftsmagazin in Kroatien, der hier besprochene Text findet sich in der Onlineausgabe unter https://lider.media/aktualno/karl-marx-150-godina-od-prvog-izdanja-kapit....

[ii] Übers. d. Übers., Originaltitel Maglovitost komunizma.

[iii] http://www.rosalux.rs/de/zentrum-fur-arbeiterstudien.