Der Titel dieses Beitrages kann auf den ersten Blick überraschen. Die Irrtümer des jungen Karl Marx? Kann sich denn der junge Marx geirrt haben? Allerdings nicht. Dafür aber irrt sich ab und zu der gleichnamige Film (Le jeune Karl Marx. Regie: Raoul Peck. Frankreich/Deutschland/Belgien 2017) – wir stellen einige dieser Irrtümer vor.
#1. Gedankenleere Sudeleien
Konnte Karl Marx im April 1843 in den Räumen der „Rheinischen Zeitung“ verhaftet werden? Die letzte Ausgabe des Blattes erschien bereits am 31. März, das Verbot der preußischen Regierung wurde im Januar beschlossen und trat am 1. April in Kraft. Marx verließ die Kölner Redaktion „der jetzigen Zensurverhältnisse wegen“ aber schon am 17. März.[i] Der Artikel „Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz“, dessen Fragmente im Film zitiert werden, verärgerte die Behörden tatsächlich sehr, war aber bereits in Ausgabe Nr. 298 vom 25. Oktober 1842 veröffentlicht worden.[ii] Und warum wurde zusammen mit Marx auch Arnold Ruge verhaftet? Es deutet nichts darauf hin, dass dieser sich der „Rheinischen Zeitung“ anschloss, nachdem die sächsische Regierung seine „Deutschen Jahrbücher für Wissenschaft und Kunst“ verboten hatte. Und was zum Henker haben in der Redaktion noch Bruno Bauer und Max Stirner zu suchen? Marx beendete die Freundschaft mit den „pseudorevolutionären Junghegelianern“[iii] schon Ende 1842 und weigerte sich, ihre Texte – „weltumwälzungsschwangre und gedankenleere Sudeleien in saloppem Stil“[iv], wie er sich ausdrückte – zu publizieren.
#2. Kühles Zusammentreffen mit einem markhaft Ungetüm
Marx und Friedrich Engels trafen sich zum ersten Mal nicht im Berliner Salon von Bettina von Arnim, wie es in der Szene bei Ruge suggeriert wird, sondern in der Kölner Redaktion der „Rheinischen Zeitung“. Die Begegnung fand wahrscheinlich am 16. oder 17. November 1842 statt. Der „Kölnische Anzeiger“ vom Donnerstag, den 17. November, vermerkt den Besuch des Kaufmannes Engels aus Barmen, der sich am Tag zuvor im „Wiener Hof“ einquartiert habe.[v] Engels besuchte die Redaktion auf seinem Weg nach England, einen Monat nachdem Marx ihr Leiter geworden war. 1895 schrieb er über ihr „erstes sehr kühles Zusammentreffen“ in einem Brief an Mehring: „Marx war inzwischen gegen die Bauers aufgetreten… da ich mit den Bauers korrespondierte, galt ich für ihren Alliierten, während Marx mir verdächtigt war von jenen.“[vi] Trotzdem kam es zur Zusammenarbeit, und Engels wurde zum Korrespondent der Zeitung aus England. Durch die Berliner Junghegelianer hatte er offenbar schon einiges über Marx gehört und ihn auf Basis dieser Erzählungen 1841 sogar in einem Gedicht beschrieben:
„Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestüm?
Ein schwarzer Kerl aus Trier, ein markhaft Ungetüm.
Er geht, hüpfet nicht, er springet auf den Hacken
Und raset voller Wut, und gleich, als wollt‘ er packen
Das weite Himmelszelt und zu der Erde ziehn,
Streckt er die Arme sein weit in die Lüfte hin.
Geballt die böse Faust, so tobt er sonder Rasten,
Als wenn ihn bei dem Schopf zehntausend Teufel faßten.“[vii]
#3. Lob für ein nicht existierendes Buch
Noch vor dem „historischen Treffen“ der beiden in Paris im August 1844 nahmen Marx und Engels Ende Februar eine Korrespondenz auf (nicht überliefert).[viii] Dabei ging es vor allem um Engels‘ Artikel „Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie“[ix], die in der einzigen veröffentlichten Ausgabe der „Deutsch-Französischen Jahrbücher im Februar“ 1844 erschien und die Marx später als „geniale Skizze zur Kritik der ökonomischen Kategorien“[x] bezeichnete. Die zwei kannten sich zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung also schon wesentlich besser, als der Film suggeriert. Das Buch „The Condition of the Working Class in England“, für das Marx im Film voll des Lobes ist, konnte er da allerdings noch gar nicht kennen – „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ erschien erst 1845 und ihre erste englische Übersetzung 42 Jahre später. Er kannte lediglich einige Artikel von Engels – zum Beispiel die Rezension des Buches „Past and Present“ von Carlyle[xi] und den sehr kurzen Text „Lage der arbeitenden Klasse in England“ aus der „Rheinischen Zeitung“.[xii]
#4. Vollständige Übereinstimmung nach zehn Tagen
Das erste Treffen von Marx und Engels in Paris, das den Beginn ihrer Freundschaft markiert, konnte auch gar nicht bei Ruge stattfinden, weil sich die Wege von Marx und Ruge zu diesem Zeitpunkt schon getrennt hatten. Ihre Meinungsverschiedenheiten traten bereits bei der Herausgabe der „Deutsch-Französischen Jahrbücher“ zutage. Und völlig überwarfen sie sich schließlich durch Marx‘ Antwort auf Ruges Artikel zum schlesischen Weber*innenaufstand, die der „Vorwärts!“ am 7. und 10. August 1844 veröffentlichte. Marx und Engels trafen sich daher nicht bei Ruge, sondern im Café de la Régence. Engels war auf einer Durchreise von Manchester nach Barmen. Diese zweite Begegnung verlief offenbar wesentlich herzlicher als die erste in Köln. Engels erinnerte sich später: „Als ich im Sommer 1844 Paris besuchte, stellte sich unsere vollständige Übereinstimmung auf allen theoretischen Gebieten heraus, und von da an datiert unsere gemeinsame Arbeit“.[xiii] Zehn Tage sollen die beiden zusammen verbracht haben.
#5. Der alte Ruge
Altern Verleger schneller als Fabrikanten? Ruge, im Film mit faltigem Gesicht und grauem Haar, war im August 1844 eigentlich erst 41 Jahre alt. Dass er trotzdem schon viel älter als Friedrich Engels Senior (48 Jahre) aussieht, könnte an der stressigen Zusammenarbeit mit Marx liegen... Oder daran, dass er von Hans-Uwe Bauer gespielt wird, der zu diesem Zeitpunkt bereits über 60 war.
#6. Lieber Herr Engels, liebe Frau Marx
Als sich Marx und Engels im August 1944 trafen, war Jenny Marx mit ihrer gerade neugeborenen Tochter Jenny auf Familienurlaub in Trier. Sie konnte Engels daher wohl kaum bitten, nicht so hart mit ihrem wenig trinkfesten Karl zu feiern. Die zwei lernten sich erst ein knappes Jahr später in Brüssel kennen. Und im Gegensatz zu ihrem vertraut wirkenden Geplauder im Film duzten sie sich im wirklichen Leben nie. Ihre Briefe begann Jenny Marx stets mit „Lieber Herr Engels“ oder „Mein lieber Herr Engels“.
#7. Die verdächtig junge Lizzy
In einer Szene unterhalten sich Jenny Marx und Mary Burns am Strand in Ostende. Es ist Januar 1848. Burns sagt, dass ihre Schwester Lydia, genannt Lizzy, erst 16 Jahre alt ist – in Wirklichkeit war sie aber bereits 20. Über das Verhältnis von Mary und Jenny, die sich im Film ganz gut zu verstehen scheinen, bestehen unterschiedliche Ansichten. Sicher ist, dass sie nicht befreundet waren, aber vermutlich übertreibt der Marx-Biograf Jonathan Sperber, wenn er schreibt, dass Jenny Mary „nicht ausstehen konnte“.[xiv] Für Harald Wessel sind derlei Aussagen nichts als Legenden und Gerüchte, die „bis auf den heutigen Tag bürgerlichen ‚Marxologen‘ zur klatschhaften Ausschmückung sogenannter seriöser Marx-Biographien“ dienen.[xv] Ihren Ursprung hätten sie zum Großteil in Stephan Borns sogenannter Silvester-1847-Legende. In seinen „Erinnerungen eines Achtundvierzigers“ berichtet er, dass Jenny sich geweigert habe, sich mit der in „wilder Ehe“ lebenden Mary Burns öffentlich zu zeigen. „In Fragen der Ehre und Reinheit der Sitten war die edle Frau intransigent“[xvi], so Born.
#8. Engels‘ suchende Blicke
Arbeitete Mary Burns in der Spinnerei Ermen & Engels? Der Historiker Tristram Hunt ist skeptisch und zitiert eine Stelle aus Engels‘ „Lage der arbeitenden Klasse in England“: „In dem Throstlezimmer der Baumwollfabrik zu Manchester, in welcher ich beschäftigt war, erinnere ich mich nicht, ein einziges gut und schlank gewachsenes Mädchen gesehen zu haben; sie waren alle klein, schlecht gewachsen und eigentümlich gedrängten Baus, entschieden häßlich in ihrer ganzen Körperbildung.“[xvii] Ob dieses Zitat wirklich ein Beleg dafür ist, dass Mary Burns nicht bei Ermen & Engels beschäftigt war, ist zweifelhaft. Hunt hält jedenfalls die Theorie von Roy Whitfield für wahrscheinlicher, wonach Schwester Burns zwar in einer Fabrik in Manchester arbeiteten, später aber als Hausangestellte und „in einer ihrer Anstellungen vermutlich Engels‘ suchende Blicke auf sich zogen“.[xviii] Vielleicht begegneten sich Mary und Friedrich aber auch auf einem Empfang in der Volkshochschule, wo sie Orangen verkaufte, wie die von Hunt zitierten Edmund und Ruth Frow behaupten.
#9. Ja, ich bin Kommunist
Der Bund der Kommunisten entstand in Folge einer grundlegenden Umgestaltung des 1836 gegründeten Bundes der Gerechten. Die Umbenennung und die neue Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ wurden bereits auf dem ersten Kongress des Bundes, Anfang Juni 1847 in London, nicht erst im November, in einem Statutenentwurf gebilligt. Marx nahm daran aus finanziellen Gründen nicht teil.[xix] Engels, Delegierter des Pariser Kreises, erinnerte sich später: „Hier wurde zunächst die Reorganisation des Bundes durchgeführt. Was noch von den alten mystischen Namen aus der Konspirationszeit übrig, wurde jetzt auch abgeschafft; der Bund organisierte sich in Gemeinden, Kreise, leitende Kreise, Zentralbehörde und Kongreß und nannte sich von nun an: ‚Bund der Kommunisten‘“.[xx] Vom Ersten Kongress wurde auch ein Entwurf eines Kommunistischen Glaubensbekenntnisses, eines im großen Teil von Engels formulierten Programmentwurfs, angenommen. „Frage 1: Bist Du Kommunist? Antwort: Ja.“[xxi]
#10. Mon cher Karl?!
Engels fing seine Briefe an Marx nicht mit „Mon cher Karl!“ an. In dieser Zeit schrieb er nur „Lieber Marx“ oder „Lieber M.“. Erst später kamen Anreden wie „Lieber Mohr“ oder einfach „L.M.“. Marx wendete sich an Engels unter anderem mit „Lieber Fred“, „Lieber Frederick“, „Dear Fred“ oder „Lieber Fritz“.
#11. Last but not least
Laura, das zweite Kind von Karl und Jenny Marx, wurde am 26. September geboren. Im Film tobt der Winter und es schneit. Vielleicht war dafür aber tatsächlich die Kleine Eiszeit verantwortlich, die bis ins 19. Jahrhundert hineinreichte.
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Frei nach Wladimir I. Lenin lässt sich zusammenfassend sagen: „Wohl traf's sich, daß des Adlers Flug ihn niedriger, als Hühner fliegen, trug, doch fliegen Hühner nie auf Adlershöh'n.“[xxii] Der Film irrte in der Frage des ersten Treffens von Marx und Engels, er irrte in der Beurteilung des Alters von Lizzy, er irrte (wahrscheinlich!) in der Beschreibung der Wetterverhältnisse bei Lauras Geburt, er irrte, als er Marx und Ruge zusammen bei der Verhaftung in der „Rheinischen Zeitung“ zeigte, er irrte in seiner Darstellung der Übernahme des Bundes der Kommunisten. Aber trotz aller dieser Fehler war er und bleibt er ein Adler.
Michael Heinrich hat also recht, wenn er sagt: „Enjoy the movie, but don’t forget that it’s not a documentary.“[xxiii]
[i] Marx' Erklärung vom 17.3.1843 erschien am 18.3. in der „Rheinischen Zeitung“. Vgl. MEW 1, Berlin 1981 (DDR), S. 200.
[ii] Karl Marx: Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags. Dritter Artikel: Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, in: MEW 1, S. 109–147.
[iii] Vorwort, in: MEW 40, Berlin (DDR) 1968, S. XIV.
[iv] Karl Marx an Arnold Ruge am 30. November 1842, in: MEW 27, Berlin (DDR) 1963, S. 411.
[v] Vgl. Heinrich Billstein, Karl Obermann: Marx in Köln, Köln 1983, S. 23.
[vi] Friedrich Engels an Franz Mehring, Ende April 1895, in: MEW 39, Berlin (DDR) 1968, S. 473.
[vii] Friedrich Engels: Der Triumph des Glaubens, in: MEW 41, Berlin (DDR) 1967, S. 301.
[viii] Vgl. MEW 1, S. 637.
[ix] Friedrich Engels: Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: MEW 1, S. 499–524.
[x] Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW 13, Berlin (DDR) 1961, S.10. Erstveröffentlichung in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, Paris 1844, S. 86–114.
[xi] Friedrich Engels: Die Lage Englands. „Past and Present“ by Thomas Carlyle, London 1843, in: MEW 1, S. 525–549. Erstveröffentlichung in den „Deutsch-Französischen Jahrbüchern“, Paris 1844, S. 152–181.
[xii] Friedrich Engels: Lage der arbeitenden Klasse in England, „Rheinische Zeitung“, Nr. 359 vom 25. Dezember 1842, in: MEW 1, S. 464–465.
[xiii] Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW 21, Berlin (DDR) 1962, S. 212.
[xiv] Jonathan Sperber: Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert, München 2013, S. 484.
[xv] Harald Wessel: Marginalien zur MEGA nebst Randglossen über alte und neue „Marxologen“, Berlin (DDR) 1977, S. 50.
[xvi] Stephan Born: Erinnerungen eines Achtundvierzigers, Berlin 2017 [1978], S. 40.
[xvii] Friedrich Engels: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, in: MEW 2, Berlin (DDR) 1962, S. 386.
[xviii] Tristram Hunt: Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Berlin 2012, S. 134.
[xix] Vgl. Marx an Engels am 15. Mai 1847, in: MEW 27, S. 82.
[xx] Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten, in: MEW 21, S. 215.
[xxi] Entwurf eines Kommunistischen Glaubensbekenntnisses, angenommen vom Ersten Kongreß des Bundes des Kommunisten, 9. Juni 1847, in: Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien, Berlin (DDR) 1970, Bd. 1, S. 470.
[xxii] Wladimir I. Lenin: Notizen eines Publizisten, in: Wladimir I. Lenin: Werke, Bd. 33, Berlin (DDR) 1977, S. 195.
[xxiii] Michael Heinrich: About the movie The young Karl Marx, URL: https://mronline.org/2018/05/15/about-the-movie-the-young-karl-marx/ (Zugriff am 16.09.2018).