Die Arbeiter haben heute mehr zu verlieren als ihre Ketten

Vor einigen Monaten haben wir in einem kurzen Blogbeitrag (siehe unten) über ein ambitioniertes Vorhaben berichtet. Eine Art »Ausgabe letzter Hand« des ersten Bandes des Kapital sollte rekonstruiert werden. Thomas Kuczynski hat diesen Versuch in jahrelanger Arbeit unternommen. Jetzt ist das Buch im VSA: Verlag in Hamburg erschienen. Der Verlag hat eine Leseprobe ins Netz gestellt. Darin enthalten ist auch das Nachwort des Autors, als "Vorbemerkung für jene, die ein Buch mit dem Nachwort anfangen zu lesen", es beginnt mit einem wunderbaren Einstieg, den wir an dieser Stelle zitieren wollen:

"Über die Bedeutung des Verfassers, Karl Marx, und seines Hauptwerks, Das Kapital, ist an dieser Stelle kein Wort zu verlieren; daran Interessierte finden dazu genügend Aussagen in der Literatur, angefangen mit Lexikoneinträgen, wie beispielsweise denen in Wikipedia, bis hin zu Spezialuntersuchungen, wie beispielsweise denen im Marx-Engels-Jahrbuch. Nach wie vor gilt mehr oder minder, was schon in einem in der Kölnischen Zeitung vom 16. März 1883 anonym erschienenen Nachruf zu lesen war: »Ein unbefangenes Urteil über ihn vermag aber heute noch kaum jemand abzugeben, überschwengliche Bewunderung auf der einen und blindester Haß auf der andern Seite haben es verhindert. [...] Jedenfalls aber kann man dem Dahingegangenen ins Grab nachsagen, daß sein ›Capital‹ (1867 erschienen) und das vorgängige kritische Werk ›Zur Kritik der politischen Oekonomie‹ (1859) auf lange Zeiten hinaus einzig in ihrer Art, zwar strittig, aber classisch und für jeden unentbehrlich bleiben, der sich mit den socialen und ökonomischen Fragen ernstlich beschäftigen will.«"

Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie | Erster Band Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals. Neue Textausgabe, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski

Die Neue Textausgabe von Marx’ Kapital Band I. 
Buchvorstellung und Diskussion mit Thomas Kuczynski (Herausgeber) und Joachim Bischoff (VSA: Verlag)
Montag, 8. Januar 2018, 19 Uhr Mitschnitt der Veranstaltung 

Blogbeitrag vom 19. August 2017:

Was das Gefährliche an Karl Marx ist? Der Ökonom Thomas Kuczynski sagt, »die Revolution. Das war die Basis von allem, was er geschrieben und gemacht hat.« Der 73-Jährige gehört zu den profiliertesten Marx-Kennern und empfiehlt, »sich mit Marx zu konsultieren«. Dies könne »nie falsch sein. Solange man nicht auf die Idee kommt, dass man ihn nur eins zu eins umsetzen muss und schon wird alles gut.«

Gut ist ohnehin nicht allzu viel, und der Kapitalismus weiterhin in der Krise. Welche Krise? Immer noch in der, die 1973 anfing, sagt Kuczynski: »In dieser Krise des Fordismus hat sich inzwischen vieles verändert, aber im Produktionssektor steht - aller Computerisierung oder Digitalisierung zum Trotz - mangelnde Akkumulation von Realkapital seit über 40 Jahren auf der Agenda. Da kann man vieles glattbügeln mit der sogenannten Finanzialisierung, an der realwirtschaftlichen Situation ändert das herzlich wenig. Die wird lediglich kaschiert durch die Rekapitalisierung Osteuropas und den Aufstieg der Schwellenländer. Ein Drittel der Weltproduktion kommt aus diesen Ländern, die - natürlich kapitalistisch - noch sehr viel Spielraum der Entwicklung haben.«

Also keine Hoffnung mehr auf eine Welt danach? »Ich würde mich ja freuen, wenn die finale Krise des Kapitalismus morgen ausbräche - aber ich kann den Kapitalismus nicht am Ende wähnen.« Ein politisches Problem tut sich auf, wenn man hier bedenkt, dass sich doch die Mehrheit mehrfach für den Kapitalismus entschieden hat - statt alternative Abzweigungen konsequent und erfolgreich zu gehen. Kuczynski dazu: »Ich kann eine persönliche Auffassung haben, mit dem klaren Bewusstsein, dass die zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist. Marx war nie der Auffassung, dass er in dem Augenblick, wo er gegen den Kapitalismus argumentierte, die Mehrheitsmeinung repräsentiert. Das Neue ist nie von der Mehrheit gekommen, sondern war zunächst immer höchst umstritten.«

Marx ist für den in Berlin lebenden Statistiker und Ökonomen »immer wieder ein ungeheurer Anreger«. Das sagt Kuczynski nicht zuletzt mit Blick auf »Das Kapital«, das in diesem Jahr 150 Jahre alt wird - und das als Hauptwerk von Marx nicht beendet werden konnte. Jedenfalls nicht so, wie es der Alte aus Trier sich womöglich vorgestellt hatte. Kuczynski hat in jahrelanger Arbeit den Versuch unternommen, eine Art »Ausgabe letzter Hand« des ersten Bandes zu rekonstruieren. Nun ist er mit dem Buch fertig. Mehr darüber gibt es im »neuen deutschland« - hier und hier